Der Mensch als gebrochenes Bild im Facettenauge der Zeit

Über die Aphorismen-Sammlung "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" von Botho Strauß

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem neuen Buch "Der Untenstehende auf Zehenspitzen" macht Botho Strauß schon auf der ersten Seite sein Selbstverständnis als Autor und seine Einstellung zur Literatur klar: "Es wird auf nichts hinauslaufen. Wie die starren Krusten und Skulpturen des Frosts. All diese Seiten, Einsprengsel eines nie erzählten Romans, werden auf nichts hinauslaufen, wie das Leben selbst, Abschnitt und Stückwerk vom Endlosen." Nach Strauß haben das Leben und die Literatur das Scheitern gemeinsam. Die Sinnlosigkeit des Lebens sieht der Autor in der unüberbrückbaren Kluft zwischen "Lebenszeit und Weltzeit" (Hans Blumenberg) begründet. Insbesondere die Endlichkeit bildet laut Strauß das Manko des Lebens wie des Kunstwerks, weil durch die zeitliche Beschränkung der Abschluss des Ganzen immer schon der Kontingenz anheim gegeben ist. Verschärft wird dieser Zug des Stückwerkhaften gerade für den Schriftsteller, steht doch für ihn die Kürze des Lebens im Kontrast zum Anspruch des Kunstwerks auf Dauerhaftigkeit. "Vita brevis, ars longa" - die Kunst zielt auf das Überzeitliche, in ihr versucht der Künstler sich nach klassischer Auffassung zu transzendieren und zu verewigen. Dieses Überleben erfuhr das traditionelle Kunstwerk, indem es im kulturellen Kanon bewahrt wurde. Heutige Versuche in diese Richtung sind allerdings weitgehend zum Scheitern verurteilt: "Der Ehrgeiz jeder Erzählung muss es sein, von ihren Lesern behalten und erinnert zu werden. Einzelne Flocken erlöschen aber schon im Versinken, oder ihr Wirbel bietet den hübschen Anblick des Vergessens." Nach Strauß ist die Halbwertszeit der Literatur gegenwärtig überproportional verkürzt. Ein Buch ist unabhängig von seiner Qualität veraltet, sobald es von neueren verdrängt wird. Damit fehlt den literarischen Werken der lange Atem einer Generationen übergreifenden Rezeption, die erst die Scheidung der bedeutenden Werke von den übrigen gewährleistet. Die Literatur ist infiziert von der Sucht nach dem Neuesten: sie tritt in einen kulturdarwinistischen Kreislauf von Innovation und Information ein. Schließlich führt die Marktorientierung der Literatur zu ihrer eigenen Nivellierung.

Nach Strauß scheint zudem das kulturelle Klima dem Erzählen nicht mehr zugetan zu sein. Der Sinn der Literatur schmilzt unter der unbarmherzigen gesellschaftlichen Sonne dahin, oder aber die Geschichten erinnern lediglich noch an jenes chaotische Gewimmel der Schneeflocken, wie man es vom Fernsehen nach Sendeschluss, als es ihn noch gab, kannte. Die Gegenwart weiß das Potential der Literatur nicht mehr zu schätzen. Das liegt daran, dass das Buch als Medium längst abgelöst wurde von den neuen Bildmedien Fernsehen und Internet. Zugleich haben diese aber auch die Rezeption der Menschen auf Schnelligkeit und Neuheit hin geprägt. Dieser Art von Wahrnehmung ist die Poesie aber nur in ihren oberflächlichsten Formen gewachsen, die anspruchsvolle Literatur erfordert hingegen Aufmerksamkeit und Konzentration, die ein zerstreutes Publikum nicht mehr zu 'investieren' bereit ist. Aus dieser pessimistischen Perspektive heraus blickt Strauß nostalgisch auf vergangene Kulturformen. "Die Epochen haben ihr Wissen hinterlegt im poetischen Besitz." Wenn die konservierende Kraft der poetischen Sprache verarmt, dann bildet jeder weitere Fortschritt in diese Richtung ein Verlustgeschäft. "Sicher, es geht mit jedem dieser "Schritte voran" mehr verloren als hinzugewonnen wird. Man opfert unentwegt. Nur eben ohne Opferritus oder -bewusstsein. Ohne dass der Gabe, dem Aufgeben, der Wert eines Verlustes zugemessen würde." Strauß sieht sich selbst als freiwilligen Außenseiter, der in seiner Gegenwart nicht heimisch zu werden gewillt ist. Diese Allergie gegen das Augenblickliche bzw. je Aktuelle erstreckt sich bis auf die ihm eigene Wahrnehmung:

"Vielleicht hatten mir die vielen Nichtmehrs meines Lebens - von der Schreibmaschine bis zum Fünfzig-Pfennig-Stück - den natürlichen Gegenwartssinn getrübt. Vielleicht hatte diese Erfahrung in mir eine Art Präteritum-Gen aktiviert, so dass ich vieles von dem, was sich gerade um mich herum zutrug, unwillkürlich in der Vergangenheit erlebte."

Abgesehen von den impliziten Reminiszenzen an Giorgio Bassanis "Gärten" und Marcel Prousts "Recherche", in denen die "Zeit als Abschied von ihrem eigenen Präsens" (Bohrer) gedacht wird, beschreibt sich Strauß als Fortschrittskritiker, der auf melancholische Weise einer verschwundenen Welt nachtrauert. Darin liegt die Nähe zu Proust, dem er bescheinigt, dass er als erster den Stellenwert der "unwillkürlichen Erinnerung" für die Moderne erkannt hat. "Wahrscheinlich hat Proust alles Wesentliche zur wertvollen Sentimental-Sphäre gesagt. Zum Beispiel, daß sie wie ein Blitz über einen kommt und nichts mit Gedächtnisleistung zu tun hat." Strauß lädt den Begriff der Erinnerung mit nostalgischen "Sentimenten" auf, wobei das Vergangene, analog zum Heimatbegriff bei Ernst Bloch, als utopische Gegenwelt des Bestehenden benannt wird. "Erinnerungen sind Ausstrahlungen geheilter Zeit. Nicht etwa bloß vergangener oder verlorener Tage. Was ich erlebe, was mich erschüttert und betört, wie kann es verloren sein?"

In einer technisch dominierten Welt stirbt die Literatur zwangsläufig ab, indem sich Anpassung und Gleichförmigkeit bis in die Sprache hinein ausdehnen. Kennzeichen dieses Prozesses ist das Unwort "Kommunikation", das laut Strauß die Verödung der zuvor spannungsreichen Gefühlswelt des Menschen anzeigt: "Welch einen Reichtum an (noch lebendigen) inneren Bewegungen und entsprechenden Ausdrücken verschlingt ein solch brutales Müllschluckerwort! Mann und Frau kommunizieren nicht miteinander. Die vielfältigen Rätsel, die sie einander aufgeben, fänden ihre schalste Lösung, sobald dieser nichtige Begriff zwischen sie tritt. Ein Katholik, der meint, er kommuniziere mit Gott, gehört auf der Stelle exkommuniziert. Zu Gott betet man, und man unterhält nicht, sondern man empfängt die Heilige Kommunion. All unsere glücklichen und vergeblichen Versuche, uns mit der Welt zu verständigen, uns zu berühren und zu beeinflussen, die ganze Artenvielfalt unserer Regungen und Absichten fallen der Ödnis und der Monotonie eines soziotechnischen Kurzbegriffs zum Opfer. Damit leisten wir dem Nichtssagenden Vorschub, das unsere Sprache mit großem Appetit auffrisst."

Sprache verkümmert zum pragmatischen Medium flacher Verständigung und Konsense, während für Strauß nur in ihr überhaupt ein rettender Zug zum Klingen zu bringen ist. In Heidegger'scher Manier wird dem Dichter die Aufgabe zugesprochen, das pragmatische Wechselspiel des "Argumente geben und nehmen" zu zerschlagen, um die Sprache jenseits von Verständigung ihrem Eigensten zuzuführen. "Der Dichter als Unterbrecher der Kommunikation. Der Spalt, die Unterbrechung spricht." Dieser subversiven Intention steht allerdings die faktische massenmediale Zerschlagung der Sinnstiftungskraft von Rede entgegen, die als vermeintlich demokratisches Moment dazu dient, das Elitäre zugunsten des Durchschnittlichen zu bekämpfen:

"Es gehört zu den üblesten Unsitten unserer Soziozentrik, alles, was man als das Höhere ausgemacht hat, vor allem in Kunstwerken, zu sich herabzuholen und mit sich selber zu vergleichen. Auf Kanzeln, Kongressen und Theaterbühnen geschieht es bis zum Überdruß, der immergleiche Orpheus aus der Tiefgarage. Aber auch im Gefühlsleben, in der Begegnung von Mann und Frau ist sie weit vorgerückt, diese unerträglich scheele Anmaßung des korrekten Demokraten, der, was immer er an Höherem erwischen kann, ins Breite und ihm Passende verziehen muß. Erstes Gesetz dem entgegen: erkenne, was höher ist als du selbst. Lerne die Fremdsprache. Beachte den Menschen als ein Geschöpf in der Senkrechten, eine Linie, die ihn erdet, aber auch übersteigt. Meide die Pädo-kata-gogen: die Herunter-Erzieher."

In dieser Kritik am Gleichmacherischen der Massengesellschaft offenbart sich ein nietzscheanisch-aristokratischer Zug im Denken von Strauß. Er wehrt sich gegen die systematische Zerschlagung des "Inspirationswerts" (Harold Bloom) großer Kunstwerke zugunsten ihrer allgemeinen Verständlichkeit. Durch die offerierten Standardinterpretationen wird zwar jedem die Möglichkeit zum 'Mitreden' gegeben, aber der Rezipient wird dadurch nicht auf das Niveau des Kunstwerks gehoben, sondern vielmehr jenes auf das Mittelmaß heruntergeschraubt. Zugleich weist er über das kulturelle Feld hinaus auf das Politisch-Gesellschaftliche.

"Es besagt wenig, wenn man bei der Bezeichnung des Souveräns vom Griechischen ins Lateinische wechselt, der demos ist nicht besser als der populus. Und der Populist ist lediglich ein ungeschminkter Demokrat. Sobald es einmal nicht gelingt, Volkes Stimme mit der Stimme einer regulativen Öffentlichkeit zu überlagern, wird jener das edle Griechische aberkannt und das vulgäre Lateinische angehängt."

Den letzten beiden Zitaten eine antidemokratische Haltung bei Strauß zu entnehmen, trifft allerdings nicht den Kern seines Anliegens. Vielmehr weist Strauß auf die verletzlichen Zonen einer jeden demokratischen Staatsform hin. Zum einen in ihrem potentiellen Umkippen in einen Populismus (ein Schicksal, das schon der römischen Republik widerfuhr), zum anderen im Wuchern des demokratischen Grundzugs aus dem politischen Bezirk (wo er seine Berechtigung hat) in das kulturelle Terrain hinein, wo er laut Strauß sich schädlich auswirkt: "Es gibt einen Systembruch zwischen Demokratie und Massendemokratie. Und dieser verläuft jenseits der Verfassung ausschließlich im Kulturellen. Das Tonangebende zieht hier mit dem Populären gleich. Das Populäre wiederum pflegt die Idolatrie des Außenseiters, und man kreiert für die Massen die Außenseiter-Konfektion. Gleichzeitig kennt die totale Öffentlichkeit keinen Außenseiter mehr. Sie ist unüberschreitbar und allgegenwärtig. Und unausgesetzt damit beschäftigt, aus jedem größeren Belang den seit Menschengedenken dünnsten aller breitgetretenen Quarke herzustellen."

Das Verwischen der Kategorien "öffentlich" und "privat" in einer Intimität erzwingenden "totalen Öffentlichkeit", wie es Strauß im Anschluss an Richard Sennett kritisiert, führt zur Vereinnahmung alles Fremden im Immergleichen, das sich über die Anpassung der Menschen bis hin zu den schöpferischen Werken erstreckt. "Die Ähnlichen. Das Similis-Virus, das sich zuerst unter den Menschen ausbreitete, dann auch auf die Werke übergriff. Das tückische Als-ob, das sich in unsere Anschauung mischt und unseren Geschmack betrügt, so daß wir der vollendeten Ununterscheidbarkeit von Werk und Machwerk erliegen." Es sind die Moden der Individualisierung, die in der allgemeinen Anpassung enden, in denen sich nach Strauß die Verarmung und Verflachung des Menschlichen beredt Ausdruck verschafft. "Selten ist ein Mensch ein Abgrund, in den hinabzuschauen Schwindel erregt. Die meisten leben in der Ebene und sind selbst recht eben. Dafür haben oder bekommen sie hier und da ein paar Risse. Oder ein seltsames Zucken huscht über ihre Fläche."

Diese Beobachtungen machen Strauß misstrauisch gegenüber den Versprechungen einer Befreiung von äußeren Zwängen, indem man sich leichthin als freies Wesen postuliert ohne die eigene gesellschaftliche Ohnmacht realistisch einzuschätzen: "Mich befreien? Wovon? Von wem? Ich will mich nicht befreien - außer von allem, was mit dieser verrückten Idee, sich von irgend etwas befreien zu müssen, zusammenhängt. Ich lebe mit meinen Nachtmahren, meinem Versagen und meinen unwiderruflichen Versäumnissen nun schon ein halbes Jahrhundert. Sie vermehren sich und formen einen plastischen Begriff von meinem Leben, sie geben ihm Richtung und Kontur - ich sollte mich von dieser Bitternis befreien? [...] Ha! Es bliebe wenig übrig von mir! Ich wollte mich unterwerfen, und ich habe mich unterworfen. Davon habe ich profitiert. Und somit ist auch dieses elende Kapitel beendet. [...] Um dem Jargon die Ehre zu geben: Ein von mir selbst bestimmtes Leben wäre nicht beherrschbar gewesen. ,Was immer ich bin, ich bin nicht ich selbst.' (Chesterton)"

Strauß betont den Aspekt der Fremdbestimmung so sehr, weil er in den Postulaten der Befreiung (sozial oder psychologisch) eine weitere Form der Repression und Anpassung des Individuums wittert. Jegliche Art von Vorschriften und Richtgaben sind ihm suspekt. So blickt Strauß zwar mit skeptischen Augen auf die Zukunft des Menschen als Menschen, aber er gebärdet sich nicht als Misanthrop. Vielmehr liegt ihm daran, an das ursprüngliche humane Potential zu erinnern, auch dann, wenn es ihm schon beinahe vollständig verschüttet erscheint.

"Immer wieder spiegeln Menschengesichter etwas, das unmöglich allein aus ihrem Inneren stammen kann, aus ihrem oft zeitgemäß beschränkten Gemüt. Das Gesicht spricht bis zuletzt, wenn sonst am Menschen keine Gebärde und Sprache mehr. Es ist auch dann noch zum Widerschein von etwas sehr Fernem fähig. Von etwas sehr Fernem und Unpersönlichem. Alles Geheime steht im Gesicht."

Mit kühlem Blick entfaltet Strauß den emphatisch gedachten Terminus "Antlitz" von Emmanuel Lévinas neu, wobei auch hier der melancholische Zug überwiegt. Nur noch als Abglanz ist die ehemalige Größe des Menschen auszumachen: "Spuren" davon sind zwar noch präsent, bezeugen aber nur noch dessen Abwesenheit. Verschärft wird diese Tendenz durch die Tatsache, dass das Verlorene in seinem unwiederbringlichen Verschwinden gar nicht bemerkt wird.

"Es sind schreckliche Leute, die für das Abschiednehmen als Lebensform jeden Sinn verloren haben. Und es müssen schreckliche Zeiten sein, in denen der unsentimentale Optimismus zur Gleichgestimmtheit von Jung und Alt beiträgt. Vor dem undeutlich Neuen und beim endgültigen Abschied sind anzeigende Vorgänge und Zwischenfälle bedeutsamer als zeitdiagnostische Stenogramme. [...] Freilich kennen sie nur Gegenwartsschichten und Zukunftswitterung. Ein Vergangenheitsorgan besitzen sie nicht, oder es ist verstümmelt und verwachsen."

Demgegenüber positioniert sich Strauß selbst unter denjenigen, welche eine "illusionslose Aufklärung mit nüchterner Verlustempfindlichkeit" (F.J. Wetz) zu kombinieren versuchen. Diese betreiben Fortschrittsglaubens- und Ideologiekritik, ohne schon gleich alle möglichen Errungenschaften zu verdammen. "Der Fortschrittsglaube war immer dumm; der Fortschritt selber hingegen meist etwas klüger als seine intelligenten Kritiker." Strauß räumt die Notwendigkeit einer fortschreitenden Entwicklung ein, plädiert aber zugleich für ein behutsames Vorgehen, das aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen gewillt ist. "Fortschritt nennt man die notwendige Korrektur an einem vorangegangenen." Analog zu Odo Marquard versucht er die beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen mit den dazu kontrastierenden Bedürfnissen des Menschen nach einem konstanten Umfeld auszutarieren. "Ohne Aufenthalt keine existentielle Erholung. Ohne Fortschritt keine Chance, daß das bereits Angerichtete sich selbst korrigiere oder gar überwinde." Somit plädiert Strauß für den Menschen als "homo compensator" (Odo Marquard), wobei er sich selbst als vergangenheits-zugewandten Denker verortet. "Im Grunde macht es mir wenig, wie schnell sich alles verändert. Es interessiert mich allenfalls, mehr nicht. Erleben werde ich immer nur, was ich vermisse. Ich liebe im Vermissen, ich besitze im Vermissen und ich spreche in einer Sprache des Vermissens." Nur indem der Mensch über die Verlebendigung der Sprache das Vermissen wach hält, kann es gelingen, die beschleunigte Veränderung des Bestands an Gewohntem zu kompensieren. Strauß prognostiziert auf dieser Grundlage, dass eine künftige Generation sich wieder verstärkt dem zuwenden wird, was den Heutigen aus Unachtsamkeit unter den Händen starb. "Eines nicht zu fernen Tages werden die besten Köpfe nicht mehr erkennen wollen, was zuvor noch kein Mensch erkannt hat. Sie werden vielmehr von der Neugier gepackt, erkennen zu wollen, was einst der Mensch erkannte."

Mit diesem anstehenden Projekt einer Archäologie vergangener Denkformen befindet sich Strauß wiederum in unmittelbarer Nähe zu Hans Blumenberg, der in seinem Buch "Die Lesbarkeit der Welt" (1981) gleich zu Anfang die Kantischen Fragen, was wir wissen können, was wir tun sollen und was wir erhoffen dürfen, in die Form einer verschütteten Vergangenheit transformiert: "Was war es, was wir wissen wollten? Was war es, was wir erhoffen durften?" Als Echo auf diese Frage antwortet Strauß mit dem Verweis auf die Dichtung als Archiv dieser vergangenen Ideenwelt: "Nur die Dichtung, in der sie aufgehoben sind, beschert das Erlebnis längst verfallener Weltbilder. In der Dichtung erhalten sich Denkformen, die der "weiterreichende Erkenntnisprozeß" längst abgestreift hat." Die verdichtete Sprache der Poesie bietet für Strauß das einzige ernsthafte Gegengift gegen die allgemeine Tendenz eines Fortschritts, der zugleich Gefahr läuft, in eine Verfallsgeschichte zu münden, wenn er nicht durch das stetige Bemühen des Schriftstellers aufgefangen wird. Im aneignenden Rückblick auf das Vergangene wird dieses in die adäquate Relation zum Innovativen gerückt. Die Idee des Fortschritts wird vor dem Umschlagen in eine Ideologie bewahrt, indem die zeitliche Justierung in ihrer einseitigen Verlagerung auf die Gegenwart und Zukunft zur Geschichte hin berichtigt wird. "Man muß das Gewesene so groß wie etwas Niedagewesenes anschauen."

Zugleich bildet für den Autor das Scheitern einen nicht zu eliminierenden Bestandteil des menschlichen Handelns. Die Ausrichtung menschlicher Taten in eine nicht kontrollierbare Offenheit hinein, führt das Risiko menschlichen Scheiterns immer schon mit sich. Für diesen Aspekt menschlicher Existenz steht symbolisch die erste Ruine der Geschichte: die des Turms zu Babel.

"Der Turm zu Babel wird zu Gottes Ehre errichtet und erweckt zunächst nicht den Verdacht, der Mensch wünsche dem Himmel näher zu kommen, um Ihm die eigene Größe zu demonstrieren. Zum Turm von Babel wird er erst, wenn er eingestürzt ist. Skepsis dem babylonischen Bauen gegenüber läßt indessen außer acht, daß der Mensch nur aus übertriebenen Taten und süßer Vergeblichkeit seine Kraft und sein Überleben gewinnt. Ohne Taten kein Scheitern. Ohne Scheitern keine Bestimmung des nächsten Ziels."

Man hört das von Heidegger häufig zitierte Wort Hölderlins "Wo Gefahr, wächst das Rettende auch" anklingen. Insgesamt durchzieht aber eher ein pessimistischer Impetus die Texte, dem sich die Notwendigkeit des menschlichen Scheiterns gut einpasst. Strauß wertet die Geschichte als einen Prozess des Verfalls, der schon längere Zeit andauert. Verantwortlich für diesen Niedergang macht er die Abkehr vom Mythos, dem er in diesem Zusammenhang als sinnstiftender Instanz einen bedeutenden Stellenwert einräumt: "In der Kultur war der Urknall die Sprengung des Mythos. In unzähligen Substanzen fliegt er um uns und durch uns hindurch. Die zunehmende Entfernung vom gesprengten Einen, dem religiösen Glutkern, wird angeblich nie wieder rückgängig. Neuere Theorien über das Schicksal des Universums legen nahe, daß es nie wieder kontrahieren, nie wieder ineins, zu seiner Gänze zusammenstürzen wird. Mit anderen Worten, auch unser ins Unendliche auseinanderfliegende, hinausgestreute Geist müßte wie das All irgendwann zum Stillstand kommen, auskühlen und veröden."

Strauß zeigt sich als abgeklärter Romantiker, der die Ausdifferenzierung von Mythos und Vernunft, von Kosmos und Kultur bedauert, aber zugleich als unumkehrbar vollzogen sieht. Da er die Lebenswelt vom Gift der Verwesung kontaminiert wähnt, bleibt Strauß, auch in dieser Hinsicht romantisch veranlagt, nur der Rückzug aus der soziokulturellen Sphäre in die Unberührtheit der Natur. Aber auch dieser Ausweg, sich à la Kafka 'in die Büsche zu schlagen', wird ihm verwehrt. Die über das gesamte Buch verstreuten Naturschilderungen klingen wie ein Abgesang: auch in diesem Aspekt zeichnet sich ein gesellschaftlicher Bruch ab: "Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkrafträdern zu spicken und zu verriegeln, hat zuvor keine Phase der Industrialisierung verursacht. Es ist die Auslöschung aller Dichter-Blicke der deutschen Literatur von Hölderlin bis Bobrowski. Eine schonungslosere Ausbeute der Natur läßt sich kaum denken, sie vernichtet nicht nur Lebens-, sondern auch tiefreichende Erinnerungsräume. Dem geht allerdings voraus, daß für die kulturelle Landschaft allgemein kaum noch ein Empfinden lebendig ist. So verbindet sich das sinnliche Barbarentum der Energieökologen dem des Massentourismus."

Mit seinen Beschreibungen der Landschaft mit den ihr spezifischen Tieren und Gewächsen versucht Strauß darauf aufmerksam zu machen, was durch entsinnlichten und technisierten Umgang mit Natur verloren geht. Selbst Naturschutz führt, weil er durch einen unsensiblen Umgang mit den Dingen geprägt ist, in sein Gegenteil. Demgegenüber plädiert Strauß für die Einsetzung der Gegenstände und Naturdinge in ihr Eigenrecht. Man hört den Appell Adornos nach dem "Vorrang des Objekts" vor aller subjektiven Verzweckung heraus. "Kenosis des Menschen - auf seine Menschlichkeit verzichtend, begibt er sich unter die Dinge, um sie von ihrer Dinglichkeit zu erlösen. Begibt sich unter das Holz, die Perlenschnur und alle Siliciumverbindungen. Um ihretwillen ist "er, der reich war, arm geworden" (2. Kor. 8,9)." Erlösung wird hier als mimetisches "Anschmiegen des Menschen ans Objekt" gedacht, von der die Aufhebung des bösen Zaubers über die Gegenstände erhofft wird. Der unmöglichen Forderung von Strauß, sich von der ontologischen Sonderstellung in das Ontische zurückzuziehen, wird durch einen Aphorismus gegen Ende des Buches Nachdruck verliehen. Die Begrenztheit des Menschen als von der übrigen Natur entbundenen Wesens führt nach Strauß zur bescheidenen Einstellung zu sich selbst:

"Hier, wo die Bescheidenheit nur größer wird, wenn der Frühaufsteher durch die grünen Triumphbögen schreitet und die sich wiegenden Birken salutieren, Bescheidenheit schon beim ersten Augenaufschlag, weil du mit deinem noch so feinen Beachten und Widerspiegeln nur auf Ungerührtes stößt. Die Gräser und Gewächse machen nicht Figur für dich, Bäume und Seeufer sind nichts als das Ihre. Ihr Erscheinen ist vollkommen in sich gekehrt, und du mußt etwas von dir dazutun oder hineinwerfen, wenn sie dir näher kommen sollen. Dich lockt keine Blume, dir bietet kein Baum Schutz, du mußt ihn suchen. Alles was dich erfreut, steht kühl und spröd vor dir. Hier draußen siehst du Tag für Tag, was dir nicht zugehört, was nichts von dir will."

Diese 'Gegenständigkeit' der Dinge bezeugt den "Absolutismus der Wirklichkeit" (Hans Blumenberg) selbst noch im Kleinsten, dem der Mensch nur mit Bescheidenheit und Ehrfurcht begegnen kann. Wer sich diesem zu öffnen wagt, dem lässt sich als Fazit, als Echo auf das Motto von Heideggers "Holzwege", das abschließende Wort von Strauß zusprechen: "Du warst tiefer im Wald als an anderen Tagen. Weit fort bist du gewesen."

Titelbild

Botho Strauß: Der Untenstehende auf Zehenspitzen.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
169 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446204911

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