Die Wiedergeburt der Renaissance

Zwei Lexika entwerfen die Konturen einer Epoche

Von Thomas SchwietringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwietring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedermann glaubt zu wissen, was die Renaissance ist und kennt die Namen ihrer großen Helden. Das Bild dieser Epoche ist fest mit dem Selbstbild des modernen Menschen verbunden. Nur im Blick der Historiker lösen sich die Konturen des Phänomens und der Epoche immer mehr auf. So viel steht immerhin fest: Es handelt sich um eine Übergangszeit, in der sich Altes mit Neuem vermischt oder überlagert. Eine Zeit voller Widersprüche, die einerseits sehr viel mehr mittelalterliches Denken umschließt als ihr gemeinhin zugeschrieben wird, die andererseits Ideen, Ahnungen und auch soziale Strukturen hervorbringt, die weit in die Zukunft greifen und in den folgenden Jahrhunderten teils sogar wieder verloren gehen oder sich erst viel später durchsetzen. Als Einheit jedoch ist die Renaissance um so schwerer zu fassen, je näher man sich auf sie einlässt.

Bereits die zeitliche Eingrenzung bereitet Schwierigkeiten. Im engeren Sinn meint Renaissance eine Phase besonderer künstlerischer Produktivität in einigen norditalienischen Städten zwischen 1450 und 1520. Die sozialgeschichtlichen Grundlagen finden sich jedoch in den italienischen Städten bereits im frühen 13. Jahrhundert, und die Rezeption in den verschiedenen Teilen Europas reicht bis tief ins 16. Jahrhundert und darüber hinaus, was zu Hilfsbegriffen wie Proto-, Früh- und Spätrenaissance geführt hat. Bezieht man sich hingegen auf konkrete Ereignisse wie Columbus' Ankunft in Amerika oder den Thesenanschlag Luthers, gelangt man schnell zu ganz anderen, leichter fassbaren Epochenbezeichnungen, zum "Zeitalter der Entdeckungen" oder zum "Zeitalter der Reformation". Zur Bestimmung der Renaissance muss man sich an eine viel schwerer zu fassende geistige Um- und Aufbruchstimmung halten.

Dies ist der Hintergrund, vor dem zwei Lexika - von denen, um es vorwegzunehmen, nur eines wirklich ein Lexikon ist - den Versuch unternehmen, die "Konturen" eines Zeitalters nachzuzeichnen, wie es in fast identischen Formulierungen der jeweiligen Vorworte heißt. In beiden Fällen werden die Frage nach der Eingrenzung und mögliche Einwände gegen den Renaissance-Begriff nur gestreift, und auch die Einträge zum Stichwort "Renaissance" problematisieren den Gegenstand als grundsätzliches Problem der Geschichtsschreibung nur bedingt, wobei der Band von Münkler und Münkler hier das deutlich größere Problembewusstsein zeigt.

Der Begriff "Renaissance" selbst geht zurück auf den französischen Historiker Jules Michelet, der ihn im 19. Jahrhundert zur Kennzeichnung der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts verwendete. In Deutschland übernahm Jakob Burckhardt den französischen Ausdruck für sein 1860 erschienenes und in mehrfachem Sinn epochemachendes Werk "Die Kultur der Renaissance in Italien", das sich vornehmlich auf das 15. Jahrhundert in Italien bezieht. Und in dieser Bedeutung wird der Begriff auch bis heute im deutschen Sprachraum verwendet. In Italien selbst spricht man, wenn überhaupt, in Anlehnung an die Beschreibung der "rinascita" in Giorgio Vasaris Künstlerviten von "rinascimento", aber als Epochenbezeichnung ist im allgemeinen vom Trecento, Quattrocento und Cinquecento (dem 14., 15. und 16. Jahrhundert) die Rede. Dies geht einher mit einer feinen zeitlichen Differenzierung, denn auch innerhalb Italiens findet die 'Wiedergeburt' mit zeitlichen Verzögerungen statt, in Florenz etwa viel früher als in Rom. Ein dem im deutschen üblichen "die Renaissance" vergleichbarer substantivierter Ausdruck ist in eben jenem Land, um das es ja geht, unüblich.

Gerade die identitätsstiftende Prominenz des Begriffs der Renaissance in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist einer der Gründe, warum ihn die heutige Historiographie gelegentlich mit spitzen Fingern anfasst. Die bereits angedeuteten Einwände sind nicht neu. Bereits in den 40er Jahren dekonstruierte Lucien Febvres, einer der Begründer der französischen Annales-Schule, in seinen Vorlesungen Michelets Renaissancebegriff als Verbindung von Geschichtsschreibung und literarischer Projektion. Seither spätestens ist jede Beschäftigung mit der Renaissance auch eine Beschäftigung mit der historischen Selbststilisierung der Akteure sowie mit der Geschichtsschreibung über die Renaissance.

Das von Günter Gurst, Siegfried Hoyer, Ernst Ullmann und Christa Zimmermann herausgegebene "Lexikon der Renaissance" erschien zuerst 1989 im VEB Bibliographisches Institut in Leipzig und kam erneut im Jahr 2000 in einer unveränderten CD-ROM-Ausgabe auf den Markt. Es versammelt Beiträge von 103 Autoren und entspricht im knappen, auf Fakten und Daten konzentrierten Aufbau der Artikel sowie im sprachlichen Duktus und der schlicht schwarzweißen, aber umfangreichen Bebilderung dem, was man von einem Lexikon erwartet. Neben den gängigen kultur- und geistesgeschichtlichen Beiträgen finden sich zahlreiche informative Artikel zu Themen der Alltags- oder Technikgeschichte, die das Bild der Epoche wesentlich bereichern. Demgegenüber fehlen überraschender-, vielleicht aber auch bezeichnenderweise Einträge zu Themen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Hierzu gibt es nicht nur keine Überblicksartikel, sondern auch keine Darstellungen zu Einzelthemen wie Handel und Handwerk (hier existiert nur ein Eintrag zu Zünften, der sich obendrein auf die Situation in Deutschland beschränkt). Zwar wird in anderen Beiträgen, etwa zum Aufstand der Ciompi, auf sozialgeschichtliche Zusammenhänge Bezug genommen, aber dies geschieht bloß selektiv und erkennbar durch die Brille einer stereotypen materialistischen Geschichtssystematik, wodurch die Spezifik des sozioökonomischen und auch politischen Hintergrundes der kulturellen Blüte in den italienischen Stadtstaaten gerade nicht herausgestellt wird.

Der von Herfried und Marina Münkler verfasste und ebenfalls als Lexikon betitelte Band bietet im Vergleich nur etwa ein Viertel des Textumfangs und greift in 82 eher essayistischen Abschnitten exemplarisch einzelne Themen oder Personen heraus. Damit erfüllt er nicht die Anforderungen eines Lexikons - die Benennung ist wohl eher Marketinggesichtspunkten geschuldet - und eignet sich nur bedingt als Nachlagewerk (abgesehen von einem ausgezeichneten Personenregister), sondern hat den Charakter einer nach Stichpunkten gegliederten einführenden Übersicht. Die Qualität der einzelnen Beiträge schwankt. Einigen Beiträgen, insbesondere den ideengeschichtlichen zur politischen Philosophie (z. B. zu Niccolo Machiavelli oder zum Völkerrecht), gelingt es, auf wenigen Seiten in präzisen Sätzen größere Zusammenhänge so überzeugend darzustellen, wie dies nur aufgrund großer Vertrautheit mit einer Materie möglich ist. Andere Artikel hingegen wirken eher wie aus einem allgemeinbildenden Lexikon kompiliert (z. B. zu Leon Battista Alberti) und lassen genau jene Souveränität in der Darstellung vermissen, die andere Beiträge auszeichnet und die den Band zu einer durchgehend gelungenen Einführung machen würde. Vielleicht rächt sich hier, dass zwei Autoren versucht haben, ganz allein alle Bereiche des Themas zu behandeln statt gezielt andere hinzuzubitten. Insgesamt ist aber gerade im Vergleich zu dem von Gurst und anderen herausgegebenen Band positiv zu vermerken, dass sich die beiden Autoren um eine breitere sozial- und kulturgeschichtliche Einbettung des geistesgeschichtlichen Phänomens der Renaissance bemühen. So etwa in den Beiträgen zu "Entdeckung und Eroberung", "Nation/Nationalbewußtsein" oder "Buchdruck", die in dem von Gurst und anderen herausgegebenen Band nur am Rande Erwähnung finden, hier aber eine eigenständige Gestalt gewinnen.

Ein schweres Manko des Buches ist allerdings das Fehlen von Abbildungen. Die Artikel über bildende Kunst und Architektur, die ohnehin nicht zu den Stärken des Bandes gehören, sind dadurch wenig nützlich. Denn entweder ist ein Leser mit den erwähnten Werken bereits vertraut, und in diesem Fall werden ihm die betreffenden Texte keine neuen Informationen bieten, oder er kennt sie nicht und wünscht sich eine Einführung, dann bleiben die allgemein gehaltenen Aussagen abstrakt und unverständlich. Die Faszination für die Epoche, die ja den Antrieb der beiden Autoren bildet, kann sich dem Leser so nicht vermitteln. Allerdings ist diese Kritik wohl an den Verlag zu richten, der die Mühen und Kosten gescheut haben dürfte.

Die beiden Lexika richten sich offenkundig an verschiedene Interessengruppen. Das von Gurst und anderen herausgegebene Lexikon bildet eine nützliche und solide Informationsquelle für Fakten und Details, die sich auch im akademischen Kontext nicht zu verstecken braucht. Deutliche Schwächen hat es in der Darstellung von übergreifenden Zusammenhängen oder historischen Entwicklungslinien, doch dies ist von einem Lexikon auch nicht in erster Linie zu erwarten. Der von Münkler und Münkler verfasste Band ist hinsichtlich der Zielgruppe diffus. Für ein akademisches Fachpublikum ist seine Darstellung zu allgemein und zu selektiv. Für ein breiteres Publikum mit einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Interesse wäre der gut lesbare Text zwar geeignet, doch ist schwer vorstellbar, dass sich in diesem Kreis für eine Einführung ohne Abbildungen Käufer finden. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass die an sich reizvolle und anregende Konzeption des Bandes aus zeitlichen, finanziellen oder anderen Kapazitätsgründen nicht durchgehalten wurde.

Ein abschließendes Wort bleibt zur CD-ROM-Ausgabe des von Gurst und anderen herausgegebenen Lexikons zu sagen. Es ist in der Reihe "Digitale Bibliothek" erschienen, in der mittlerweile rund hundert Lexika und Werkausgaben vorliegen. Dabei handelt es sich nicht um eigenständige Publikationen, sondern durchweg um unveränderte elektronische 'Nachdrucke' älterer, copyrightfreier Ausgaben. Positiv ist daran zu vermerken, dass auf diese Weise umfangreiche ältere Werke zu relativ moderaten Preisen verfügbar werden, denn auf den CD-ROMs findet sich eine - wenn auch etwas umständlich zu handhabende - Konkordanz zu den Druckausgaben, die eine Zitierfähigkeit gewährleistet.

Die etwas gewöhnungsbedürftige Benutzeroberfläche der Digitalen Bibliothek hat sich seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1997 im Kern nicht verändert. Sie verfügt einerseits zwar über ein effektives Suchwerkzeug, das beispielsweise die Suche nach einer Kombination aus mehreren Begriffen unter Festlegung eines maximalen Wortabstandes zwischen diesen erlaubt. Andererseits fehlt jedoch eine übersichtliche Darstellung aller Fundstellen, und generell gestaltet sich die Navigation in längeren Texten als etwas schwierig. Außerdem lässt sich die Darstellung der Texte nicht frei konfigurieren, was insbesondere beim Lesen längerer Textpassagen am Bildschirm hinderlich ist. Schließlich ist auch eine gleichzeitige Recherche in mehreren Lexika nur begrenzt möglich. Zwar enthalten einige der Ausgaben einen zusammengefassten Index auch anderer CD-ROMs, doch ist es nicht möglich, mehrere davon gemeinsam zu öffnen, selbst wenn man die kompletten Daten auf der eigenen Festplatte bereithält.

Titelbild

Herfried Münkler / Marina Münkler: Lexikon der Renaissance.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
472 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406466281

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Günter Gurst / Siegfried Hoyer / Ernst Ullmann (Hg.): Lexikon der Renaissance für Windows 95/98/ME/NT/2000. CD.
Directmedia Publishing, Berlin 2000.
34,90 EUR.
ISBN-10: 3898531414

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