Wunder und Sachlichkeit um 1930

Martin Raschke und die Zeitschrift "Die Kolonne"

Von Hubert RolandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hubert Roland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch betrifft das poetologische Loch in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit. Aufgrund der entscheidenden Zäsur 1933, die sofort nach dem Zweiten Weltkrieg die Kategorien der Exilliteratur und der "Inneren Emigration" eingeführt hat, empfinden heute viele Leser bzw. manche Verfasser von Literaturgeschichten ein leicht unbehagliches Gefühl, wenn es um die Auseinandersetzung mit der sogenannten "Literatur der Weimarer Republik" geht. Man verwendet mehr oder weniger unbefriedigende Begriffe wie Nachexpressionismus oder Neue Sachlichkeit bis zur Zäsur der "Machtergreifung", die jede Kontinuität der Exilliteratur bzw. der Literatur im "Dritten Reich" mit der Literatur der 1920iger Jahren ausschließen sollen. Sicher darf die Daseinsberechtigung der Kategorie Exilliteratur nicht in Frage gestellt werden und sei es nur aus ethischen Gründen. Ihre gewichtige Präsenz in der Analyse der Periode von 1920 bis 1950 maskiert aber die Komplexität des gesamten deutschsprachigen literarischen Felds um 1930, versteht man heuristisch diese Krisenjahre "nicht als Etappen auf dem Weg zur Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland [...], sondern als einen in sich höchst heterogenen, von Stilpluralität gezeichneten und in seinem Ausgang nicht vorhersehbaren Zeitraum", wie Petra Kiedaisch und Volker Schober in ihrem Aufsatz postulieren. Die Verfasser sprechen von "ungewöhnlichen Überlagerungen von modernen und traditionellen, progressiven und regressiven, städtischen und ländlichen literarischen Konzepten".

In dieser Konstellation der letzten Jahre der Weimarer Republik wird oft auf die Bedeutung von Martin Raschkes Zeitschrift "Die Kolonne" (1929-1932) hingewiesen. Erst mit vierundzwanzig Jahren gründete Raschke mit Adolf Artur Kuhnert diese "Zeitung der jungen Gruppe Dresden", in der zukünftige wichtige Vertreter der Nachkriesgzeit Texte veröffentlichten: Elisabeth Langgässer, Günter Eich, Horst Lange und andere; einstige Expressionisten wie Hermann Kasack und Paul Zech arbeiteten mit; erstaunlicherweise fehlen die älteren Repräsentanten der Naturlyrik (Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann) sowie Mrie Luise Kaschnitz und die Brüder Jünger. Es ist das Verdienst des Dresdner Thelem Verlags, dass jetzt ein aufschlussreicher Materialien- und Studienband zum Leben und Werk von Martin Raschke (1905-1943) vorliegt. Man findet hier eine ausführliche Lebens- und Werkchronik sowie ein kommentiertes Verzeichnis seines Nachlasses in der Sächsischen Landesbibliothek der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Ergänzend treten kritische Beiträge zum bedeutenden Hintergrund dieser Jahre, den Strömungen des magischen Realismus und der magischen Naturlyrik sowie der Neuen Sachlichkeit (siehe die Aufsätze von Hans Dieter Schäfer und Michael Scheffel) hinzu.

Um die Orientierungslosigkeit der Generation Raschkes, der Geburtsjahrgänge nach 1900, zu belegen, machen Petra Kiedaisch und Volker Schober in ihrem Aufsatz auf deren "Erfahrung tiefster existentieller Unsicherheit und Zukunftsangst" aufmerksam. Aufgrund der bis dato unbekannten Sockelarbeitslosigleit musste sich diese Generation als "überflüssig" empfinden. Sicher handelt es sich hierbei um ein wichtiges Element, das zu dem Versuch beiträgt, das Wirklichkeitsbewusstsein der "Kolonne-Gruppe" zu erfassen. Im politischen und ideologischen Chaos der Zeit entscheidet sich Raschke vor allem dafür, so Hans Dieter Schäfer, "die verlorengegangenen Zusammenhänge von Dichtung und Volk, Person und Kosmos [zu] reanimieren". Rückblickend bemerkte der "Kolonne"-Herausgeber 1935: "Früh schon musste ich spüren, wie zerstört die sozialen, die völkischen und religiösen Bindungen zwischen den Menschen waren. Unablässig beschäftigte es mich seitdem, wie diese Bindung wieder hergestellt werden könnte". So kümmerte sich seine neuromantisch inspirierte Poetik um den Anschluss des Menschen an die Totalität. Für die Dichtung wie für die Gesellschaft wünscht sich der Dichter "eine Gestaltung von Zusammenhängen, Gesetzen und Kausalitäten".

Interessant ist, dass die Ästhetik dieser "klassischen Moderne" der neuen Sachlichkeit nicht den Rücken kehrt. Vielmehr entsteht in den ausgehenden zwanziger Jahren laut Michael Scheffel "eine literarische Bewegung, die wesentliche Elemente der 'neusachlichen' Ästhetik übernimmt und neu funktionalisiert". Die wichtigen Merkmale der neusachlichen Poetik (Helligkeit, Transparenz, analytische "Kälte") seien mit dem "magischen", irrationalen Ideal einer synthetisierenden Weltanschauung kompatibel. Sachlichkeit stehe im Dienste des Wunders und des Geheimnisses, des Bewusstseins einer doppelschichtigen Wirklichkeit.

Es ist bis jetzt auffällig, dass die Forschung über den magischen Realismus (dazu zählen Hermann Kasack, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Friedo Lampe, Horst Lange, Elisabeth Langgässer usw.) und die über die "Innere Emigration" trotz Überschneidungen mehr oder weniger parallel zu laufen scheinen. Ziemlich schüchtern wiederholt Scheffel in seinem Aufsatz, dass die Vertreter dieser Strömung "am politischen Tagesgeschehen allgemein wenig interessiert" waren; weder wäre der magische Realist "der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtig" noch hätte er "aktiven Widerstand gegen das herrschende Unrecht geleistet". Nur wird gewöhnlich Naturdichtung Eskapismus vorgeworfen, ein Urteil, das für eine grundlegende Analyse der komplexen Wechselbeziehungen zwischen Ästhetik und Ideologie nicht reicht. Was den Fall Raschke angeht, gilt nach der Veröffentlichung dieses Bandes die Etikette des "Unpolitischen" nicht mehr.

Wilhelm Haefs, der von der erzählerischen Produktion Raschkes im 'Dritten Reich' ausgeht, stellt fest, dass dieser, wie viele konservativ-nationale Schriftsteller, die 'Machtergreifung' begrüßte, genauer gesagt, dass er "nicht gerade enthusiastisch war, aber doch voller Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung und im Glauben an die propagierte 'Volksgemeinschaft'". Zwischen der in den 1920iger Jahren verankerten Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaft des "beziehungsreichen Miteinanders [...] von Individuum und Kollektiv, von Geschichte und Gegenwart, von Mensch und Natur, nicht zuletzt von Dichter und Volk" und der mehr oder weniger expliziten Apologie der "Blutsgemeinschaft" sind also die Grenzen fließend geworden. Der 1932 angefangene dialogisch-szenische Text von Raschkes "Gespräch mit den Vätern" diente ein Jahr danach unter dem Titel "Das Erbe der Väter" der nationalsozialistischen Propaganda im Rundfunk. Auch Raschkes später veröffentlichter Roman "Der Erbe" behandelt das nicht mehr harmlos gewordene Thema der familiären "Blutsgemeinschaft". Ferner erwähnt Hans-Ulrich Wagner in seinem Aufsatz über die Rundfunkarbeiten Raschkes, dass der Autor in der Novelle "Der Pomeranzenzweig", die nach dem Polenfeldzug 1939 angesiedelt ist, das Literarische mit dem Kriegsgeschehen verknüpfte. Kurz danach schrieb er noch das Hörspiel "Bruder Kamerad", in dem die Kameradschaft als oberster Wert gepriesen wird.

Wie sein Freund und Schriftstellerkollege Günter Eich verdiente Raschke von 1933 bis 1945 seinen Lebensunterhalt mit Rundfunkarbeiten, einem literarischen Medium, in der Kompromittierung kaum zu vermeiden war. Es bedarf alles nur einer "Anpassung des Auges" bzw. einer Kontextualisierung. Zitate wie "Ich habe den Weg dieses Menschen aus der Hölle des Unglaubens und der Entwurzelung in ein sinnhaftes, volkhaftes Leben niederzuschreiben versucht, so gut ich das vermochte. Vielleicht kann sein Beispiel dem einen oder anderen ein wenig Hilfe oder gar Vorbild sein" (über die Figur des "verlorenen Sohns") klingen an sich harmlos, bis sie als Hörspielankündigung am 26. 5. 1933 ausgesprochen werden. Dort beziehen sie sich auf die existentielle Situation des Menschen im "neuen Deutschland": "es gilt in diesen Jahren, dass wir alle aus uns einen neuen Menschen machen, der in Einklang lebt mit den Stimmen seiner Väter und die Kräfte des Himmels und der Erde wieder zu binden versucht zum spannungsreichen Bilde des deutschen Menschen".

Trotz dieser Kontinuität sollten meines Erachtens für ein adäquates Verständnis der Epoche poetologische Weltanschauung und intellektuelle Kollaboration unterschieden werden. Denn nicht alle Vertreter des magischen Realismus und der naturmagischen Lyrik haben sich von der Propaganda instrumentalisieren lassen. Wohl gilt für die meisten unter ihnen die ideologische Ambivalenz, die sich aus ihrer Wahrnehmung des Auftrags des Dichters folgern lässt. Robert Lindhof, die Hauptfigur des 1947 erstveröffentlichten Romans von Hermann Kasack "Die Stadt hinter dem Strom", fasst es so zusammen: "Die dualistische Auffassung des Abendlandes, die alles spaltete in Schwarz und Weiß, Leib oder Seele, die nur zu scheiden wusste zwischen Gott und Kreatur und die den Menschen der Natur gegenüberstellte statt ihn als Teil in das gesamte Geschehen einzubeziehen, stand dem älteren Wissen um die Einheit oft genug im Wege". Vor diesem Hintergrund kann der Dichter, wenn man das Verhältnis seines Werks zum unmittelbaren Zeitgeschehen untersuchen will, immer argumentieren, er habe es nicht so gemeint. Dies ist nicht unbedingt als offene Tür zur Kompromittierung zu verstehen (Kasack gilt übrigens als Vertreter des anti-faschistischen Flügels der inneren Emigration), sondern als Zeichen des Wirklichkeitsbewusstseins einer Generation. In der 1956 erschienenen überarbeiteten Fassung von Kasacks Romans fehlt die zitierte Passage.

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Wilhelm Haefs / Walter Schmitz (Hg.): Martin Raschke (1905-1943). Leben und Werk.
Mit einer Lebenschronik und einer Bibliographie von Wilhelm Haefs sowie einer Radiographie von Hans-Ullrich Wagner.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2002.
326 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3933592453

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