Zu viele Fehler

Zu Manfred Windfuhrs Johnson-Büchlein

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Rainer Paasch-Beeck

"Die vorliegende Darstellung versteht sich nicht als Forschungsbericht", heißt es in den Vorbemerkungen zum schmalen Johnson-Buch des renommierten Heine-Forschers Manfred Windfuhr. Ausgehend von seinem formulierten Anliegen, Johnsons "ins Zentrum" zu stellen, war sein Ziel statt dessen eine "Gesamtwürdigung" des Autors. Ausdrücklich distanziert Windfuhr sich darüber hinaus von einem Großteil der "inflationär anwachsenden Spezialforschung", weil solche Arbeiten gern "in einem grauen, abschreckenden Hermetikstil vorgetragen" würden und "weitgehend unergiebig für ein besseres Verständnis des Autors und seiner Voraussetzungen" seien. Ein schroffes Urteil, das sich im Verlauf der Lektüre seines Büchleins immer stärker als Vorurteil erweist. Denn an zahlreichen Stellen zeigt sich, dass Windfuhr die von ihm so geschmähte Forschungsliteratur augenscheinlich kaum zur Kenntnis genommen hat. Dies gilt in ganz besonderem Maße für die neuere, nach 1990 entstandene Literatur. Viele der offensichtlichen Fehleinschätzungen und die meisten der zahlreichen sachlichen Fehler hätten sich sonst leicht vermeiden lassen. Symptomatisch für Windfuhrs mehr als ungewöhnliche Literaturauswahl ist dabei die Tatsache, dass er mit den Arbeiten von Werner Joachim Radke, Lotar Rubow und Wolfgang Paulsen ausgerechnet solche Autoren zu seinen literaturwissenschaftlichen Eideshelfern macht, die im Spektrum der Johnson-Philologie wohl zu Recht einen Außenseiterstatus genießen.

Schade, und dies um so mehr, als Windfuhr sich als ein Autor erweist, der sich mit großem Respekt, ja mit Wärme um Verständnis für das Werk des großen Mecklenburgers bemüht. Dies gilt besonders für das erste und gelungenste Kapitel des Buches: "Die Jahrestage, das zentrale deutsche Erinnerungsbuch". Man kann ihm nur zustimmen, wenn er "die Holocaustthematik und ihre Rolle für die Hauptfigur des Romans und seinen Verfasser" als die zentrale Motivation für die Arbeit an dem Projekt "Jahrestage" benennt und am Schluss formuliert: "wie kein anderes Werk nach 1945 ziehen die Jahrestage eine Summe deutscher Schuld- und Schicksalsverstrickungen im 20. Jahrhundert". Aber solche Thesen sind 2003 schon lange nicht mehr neu, und es ist befremdlich, wenn Windfuhr hier die für diese Thematik einschlägigen Arbeiten von Norbert Mecklenburg und Thomas Schmidt nicht einmal erwähnt. Auch wenn es kein Forschungsbericht werden sollte, haben die Leser doch Anspruch darauf zu erfahren, wo sie weitere und auch weiterführende Informationen zu diesem zentralen Aspekt des Johnsonschen Werkes erhalten können.

Symptomatisch für Windfuhrs Vorgehen und die Schwächen seines Buches ist zweifellos das dritte Kapitel, in dem er ausdrücklich die Frage nach Johnsons "religiöser Haltung" stellt. Er selbst attestiert sich in den Vorbemerkungen, mit diesem Kapitel "Neuland in der Johnson-Literatur" betreten zu haben. Reduziert man es auf den mehr als fragwürdigen Versuch, ernsthaft Johnsons "religiöse Haltung" aus seinen Texten abstrahieren zu wollen, mag Windfuhr Recht haben. Nimmt man aber solche Arbeiten in den Blick, die sich explizit mit dem religiösen Diskurs in seinem Hauptwerk, Johnsons Bibelrezeption und seiner religiösen Sozialisation beschäftigt haben, offenbart sich entweder Windfuhrs Ahnungs- oder gar Sorglosigkeit. Überdeutlich wird dies in seinem Abschnitt über "Bibelspuren". So muss man etwa in seinen Ausführungen über Johnsons literarische Übertragung des biblischen Jona-Buches lesen, dass dort das "Lutherdeutsch [...] vorsichtig vereinfacht und mit Erklärungen versehen" werde. Peinlich, denn bereits vor nunmehr 30 Jahren hat Christel Rosenberg nachgewiesen, dass Johnson sich bei seiner Bearbeitung des Bibelstoffes fast ausschließlich an der Übersetzung der Zürcher Bibel orientiert hat. Für Windfuhr waren solche Gemeinplätze in der Johnsonforschung offensichtlich Neuland, was auch an seiner falschen Datierung der Entstehung des Jona-Textes sichtbar wird. Auch seine weiteren Ausführungen in diesem Kapitel führen vor Augen, dass er die einfachsten Erkenntnisse der Forschung nicht zur Kenntnis genommen hat. Schlimmer - und im eklatanten Widerspruch zu seiner Ankündigung, die Texte ins Zentrum zu stellen - sind aber seine Entstellungen eben dieser Texte. Einige Bespiele mögen genügen. Der Schauplatz seines Romanerstlings Ingrid Babendererde ist eben nicht Güstrow, wie Windfuhr mehrfach behauptet, sondern das fiktive Wendisch Burg; die Titelfigur und ihre Freunde gehören nicht, wie es bei Windfuhr heißt, zur Jungen Gemeinde, und diese Junge Gemeinde bildet keinesfalls den Kern einer "Oppositionsgruppe gegen die SED-geführte Schulleitung". Korrespondierend mit der auch durch häufige Wiederholung nicht richtiger werdenden Falschmeldung, dass Uwe Johnson im Mai 1953 bei seinem mutigen Auftritt an der Rostocker Universität Mitglied der Jungen Gemeinde gewesen sei, werden hier der Text und die Biographie Johnsons an zentraler Stelle verfälscht. Bemerkenswert war doch gerade, dass sich Johnsons Romanfiguren Ingrid, Klaus und Jürgen für ihre in der Jungen Gemeinde engagierten Mitschüler und deren Rechte eingesetzt haben, obwohl sie selbst nicht dazu gehören, ja ihrem religiösen Anliegen sogar kritisch gegenüberstanden. Gleiches gilt 1953 für den Germanistikstudenten Johnson, der sich schon Jahre vorher von der Kirche abgewandt hatte und als FDJ-Funktionär am Aufbau seines sozialistischen Staates mitarbeiten wollte. All das mutet Windfuhr seinen Lesern zu, nur um Johnson verspätet doch noch zu einem "heimlichen" protestantischen Christen zu machen.

Man könnte sich noch lange mit solchen Fehlern aufhalten, die sich nicht auf den Ingrid-Roman beschränken, sondern leider auch vor den Jahrestagen nicht Halt machen und die Brauchbarkeit seiner knappen Johnson-Studie insgesamt in Frage stellen. Denn bei einem renommierten Wissenschaftler wie Windfuhr müssen sich die Leser darauf verlassen können, dass zumindest die Grundaussagen über Werk und Autorbiographie zutreffen und einer kritischen Befragung standhalten können. Ein Mindestmaß an philologischer Sorgfalt muss gewahrt bleiben, auch wenn es "kein Forschungsbericht" weden sollte - sonst gerät die angestrebte "Gesamtwürdigung" schnell zu einer Irreführung der Leser.

Windfuhrs Buch ist sicher gut gemeint, aber es verschweigt seinen Benutzern viele wichtige Erkenntnisse der von ihm mehr als stiefmütterlich behandelten Forschung. Vor allem aber enthält das Buch erschreckend viele Fehler: mit Sicherheit zu viele Fehler in einem Buch über einen Autor wie Uwe Johnson, der sich in seiner Büchnerpreisrede einstmals dafür entschuldigt hat, dass er ein Postamt in New York irrtümlich von der 104. in die 105. Straße versetzt hat.

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Manfred Windfuhr: Erinnerung und Avantgarde. Der Erzähler Uwe Johnson.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2003.
84 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 382531488X

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