Soziologie als ethnologisch inspirierte Sozialanthropologie

Joseph Jurt porträtiert Pierre Bourdieu

Von Michael AnselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ansel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der von Klaus Theweleit edierten "absolute"-Reihe hat Joseph Jurt einen Pierre Bourdieu gewidmeten Band herausgebracht. Der Band wird von einem 1997 mit Bourdieu geführten, hier erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichten Interview eingeleitet und besteht im Wesentlichen aus vier analog aufgebauten Teilen: Auf einen von Jurt verfassten, werkbiographischen Essay, der unter Berücksichtigung von Bourdieus Reflexionen über die teleologische Subjektkonstruktion der konventionellen Biographik jeweils einen Lebensabschnitt des französischen Soziologen und Intellektuellen vorstellt, folgen thematisch darauf abgestimmte Texte von Bourdieu selbst. Photographien und kollagierte Filmbilder und eine Bibliographie insbesondere der selbstständigen Arbeiten Bourdieus in französischer Sprache sowie deutscher Übersetzung samt Text- und Bildnachweisen runden die Edition ab.

Die von Jurt definierten Lebensabschnitte Bourdieus stehen unter den Vorzeichen der Konversion von der Philosophie zur Ethnologie - bis 1960 -, der Übertragung des ethnologischen Blicks auf die französische Gegenwartsgesellschaft - bis 1980 -, der Feldstudien zur Kunst und Literatur - bis 1992 - und der Interventionen gegen die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Auf überzeugende Weise kombiniert Jurt in seinem vierteiligen Essay die Darstellung des akademischen Werdegangs von Bourdieu mit einer Erörterung von dessen Wissenschaftsverständnis. Die zentralen Erkenntnisinteressen, die vielfältigen Gegenstandsbereiche und die wesentlichen Theorieelemente der Kultursoziologie Bourdieus werden somit auf eine gut verständliche, aber niemals oberflächliche Weise behandelt.

Eingangs legt Jurt dar, dass sich Bourdieu trotz seines steilen Aufstiegs im französischen Universitätssystem wegen seiner familiären Abkunft zeitlebens den distanzierten, mit analytischer Schärfe gepaarten Blick des Außenseiters bewahrt habe. Jurt konstatiert die grundlegende Bedeutung der ethnologischen Studien in Algerien für Bourdieus weitere soziologische Begriffsbildung: Seit jener Zeit habe Bourdieu die utilitaristische Ökonomie des Kapitalismus als eine kontingente Sonderform einer wesentlich umfassenderen, in vorkapitalistischen Gesellschaften besser erkennbaren allgemeinen Ökonomie sämtlicher sozialer Austauschbeziehungen begriffen, die Ressource des symbolischen Kapitals definiert und die Eigenlogik der Praxis anerkannt.

Im zweiten Abschnitt seines Essays skizziert Jurt Bourdieus weitere Laufbahn nach dessen Rückkunft nach Frankreich. Bourdieus wissenschaftliche Arbeit sei im Zeichen einer die arbiträren Fachgrenzen überschreitenden Transdisziplinarität gestanden, die sich dem Ziel einer "sozialwissenschaftlich orientierte[n] Anthropologie" verschrieben habe. Bourdieu habe seinen ethnologisch geschulten Blick auf das Bildungssystem und die Konsumgewohnheiten der französischen Gegenwartsgesellschaft gerichtet, dabei den Begriff des kulturellen Kapitals konzipiert und eine Vielzahl der nie als herrschaftsfreie Praktiken zu verstehenden kulturellen Interaktionsformen untersucht. Eine Summe dieser Studien zöge die 1979 veröffentlichte materialgesättigte Untersuchung "La distinction", die zu Beginn der 80er Jahre ins Deutsche und Englische übersetzt wurde und die endgültige internationale Anerkennung Bourdieus markiere.

Resultat dieser Anerkennung sei die Berufung auf einen Lehrstuhl am Collège de France gewesen, wo Bourdieu 1982 seine unter dem Titel "Leçon sur la leçon" publizierte Antrittsvorlesung gehalten hat. Da sich in diesem Text "in äußerst konziser Form alle zentralen theoretischen Kategorien seines Denkens [finden]", diskutiert Jurt im Folgenden das Habitus- und das Feldkonzept, welche die wichtigsten Begriffe von Bourdieus Soziologie darstellen und erstmals schon gegen 1970 theoretisch wie anwendungspraktisch entwickelt worden seien. Anschließend wendet er sich Bourdieus Studien zur Kulturproduktion zu, bei denen das sowohl in synchroner wie diachroner Perspektive einsetzbare Feldkonzept eine entscheidende Rolle gespielt habe. Die besondere Leistung dieser in "Les règles d'art" (1992) kulminierenden Studien erblickt Jurt zu Recht darin, dass Bourdieu die Unterscheidung zwischen externer und interner Kunstbetrachtung überwunden und die sozialen Konsekrationsmechanismen herausgearbeitet habe, welche die Etablierung der keineswegs werkintern erklärbaren Kunstautonomie ermöglichten.

Schließlich porträtiert Jurt Bourdieus Selbstverständnis als Intellektueller und dessen Engagement für soziale Gerechtigkeit in der Globalisierungsdebatte der 90er Jahre. Ausgehend von dem von ihm rekonstruierten Typ des Intellektuellen, der prototypisch durch Zola und später durch Sartre verkörpert worden sei, und in Auseinandersetzung mit anderen Positionen - wie beispielsweise derjenigen Foucaults - habe Bourdieu die eigene Rolle definiert und wirkungsvoll zur Geltung gebracht. Die wissenschaftliche Grundlage seiner Attacken gegen den Neoliberalismus sei die umfangreiche, größtenteils aus Interviews mit Verlierern der ökonomischen Modernisierung bestehende Untersuchung "La misère du monde" (1993) gewesen, die in über 120.000 Exemplaren verkauft wurde. Bourdieu habe für eine internationale Kooperation der Intellektuellen plädiert, die suggestive, mit Unvermeidlichkeitspathos einhergehende Globalisierungsrhetorik als Profitideologie enttarnt und vor der Macht der immer stärker unter das Diktat der Ökonomie geratenden Massenmedien gewarnt.

Eingeleitet von diesen hier nur kurz rekapitulierten Ausführungen Jurts kommt Bourdieu selbst in 16 Beiträgen zu Wort, die zum Teil größeren Arbeiten entnommen, aber auch dort unter den vom Herausgeber beibehaltenen Überschriften als in sich verständliche Einheiten konzipiert worden sind. Sie kreisen schwerpunktmäßig um die Themen der (auto)biographischen Konstruktion des Subjekts und der Genese des ökonomischen Habitus, um den Komplex der Lebensstilanalysen, um Fragestellungen der feldtheoretisch fundierten Kunstsoziologie und um den Bereich der Kritik am Neoliberalismus. Außer drei grundlegenden, in den 80er Jahren bereits veröffentlichten Texten stammen alle weiteren Beiträge aus Publikationen, die später in deutscher Übersetzung erschienen sind. Jurt hat eine kluge Textauswahl getroffen, die seine werkbiographischen Ausführungen präzisiert sowie weiterführt und gemeinsam mit ihnen einen instruktiven Überblick über die faszinierende Breite und Vielseitigkeit von Bourdieus Lebenswerk gewährt. Die Auswahl ist aktuell und repräsentativ für Bourdieus Denken. Dennoch bleibt der Aspekt seiner Entwicklung dank Jurts begleitender Essayistik stets präsent.

Lediglich ein Einwand sei erhoben: Man kann mit guten epistemologischen Gründen bezweifeln, ob die Einmischung in politische Diskussionen sich so konsequent aus Bourdieus theoretischem Ansatz ableiten lässt, wie Jurt dies darstellt. Eben diese vom Bourdieu der 90er Jahre selbst suggerierte Folgerichtigkeit wird beispielsweise von Markus Schwingel ("Pierre Bourdieu zur Einführung", Hamburg 2003) mit dem Argument problematisiert, dass sie angesichts der für die Theoriebildung des jüngeren Bourdieu konstitutiven Einsicht in den kategorialen Unterschied zwischen wissenschaftlichem Erkennen und der konkreten Logik jeglicher Form von Lebenspraxis keineswegs selbstverständlich sei. Vielleicht ist ein solcher Einwand tatsächlich eine Petitesse in Anbetracht des gegenwärtig voranschreitenden Problemdrucks, dem sich die seit der Aufklärung erkämpften sozialen und kulturellen Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation ausgesetzt sehen. Zu Recht warnt Bourdieu vor der Hegemonie eines machtgestützten ökonomischen Diskurses, der, zur Ideologie der Globalisierung zugespitzt, einen breit angelegten sozialen Nivellierungsschub und vielfältige Formen der materiellen Ausgrenzung zugunsten einer zahlenmäßig verschwindend kleinen internationalen Finanzaristokratie mit sich bringt. Für den Status der wissenschaftlichen Arbeit und das Selbstverständnis der an ihr Beteiligten ist die hier angeschnittene Frage jedoch aus zwei Gründen wichtig. Zum einen kann die Wissenschaft ihre Bedeutung als relativ autonome Form der methodisch reflektierten Urteilsbildung letztlich nur wahren, wenn sie zu der von Bourdieu selbst kritisierten Tendenz zur Ökonomisierung und Politisierung sämtlicher Lebensbereiche Distanz wahrt. Zum anderen sollte klar sein, dass die ausschließlich aus methodologischen Gründen zu treffende Entscheidung für die Applikation von Bourdieus Theoriedesign keineswegs gleichbedeutend mit einer Einwilligung in die von seinem Urheber seit den späten 80er Jahren praktizierte Politisierung seiner Soziologie oder gar in die dabei vertretenen programmatischen Positionen ist.

Trotz dieser notwendigen Problematisierung eines unseres Erachtens zu sehr aus der Perspektive des späten Bourdieu präsentierten Sachverhalts eignet sich der anzuzeigende Band sehr gut zur Einführung in Bourdieus facettenreiches Werk. Sowohl in seiner Eigenschaft als Autor als auch als Editor hat Jurt, der sich seit über 20 Jahren um die Aufnahme und produktive Rezeption des Werks von Bourdieu im deutschsprachigen Raum vielfältige Verdienste erworben hat, einen übersichtlichen, auf ein breiteres Publikum ausgerichteten und zugleich anspruchsvollen Band vorgelegt. Die Edition ergänzt im Übrigen die erwähnte, ebenfalls als Einführung konzipierte Studie von Schwingel sinnvoll, weil sie im Gegensatz zu dieser überwiegend aus Originaltexten besteht und insofern einen anderen Zugang zu ihrem Gegenstand bevorzugt. Natürlich kann und soll sie die vertiefte Lektüre von Bourdieus Werken selbst nicht ersetzen. Es gelingt ihr aber auf effektive Weise, den Appetit auf eine solche Lektüre anzuregen. Nicht unwesentlich zu diesem Verdienst trägt die aparte graphische Gestaltung der "absolute"-Reihe bei, für die Annette Schneider verantwortlich zeichnet.

Titelbild

Joseph Jurt (Hg.): absolute Pierre Bourdieu.
Orange Press, Freiburg 2003.
224 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3936086141
ISBN-13: 9783936086140

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2003.
192 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3885063808

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