Der Liebe beim Zucken zusehen

"Der zärtlichste Punkt im All", neue Gedichte von Silke Scheuermann

Von Hendrik RostRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hendrik Rost

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gedichte von Silke Scheuermann handeln vielfach vom Reisen und von Missverständnissen unter Menschen, die sich umeinander bewegen. So weit sie sich dabei auch fortbegeben, der Horizont bleibt immer der sichtbare Rand der Welt, egal ob es auf freier Ebene ist oder ob einem jemand im Licht steht. Der Blickwinkel der Texte wechselt zwischen dem ganz weitgestellten auf das Universum und dem fokussierten auf den Standort des einzelnen. Missverständlich im Sinne von verleitend sind ebenfalls nicht wenige Formulierungen in den Gedichten. Sie klingen meist ganz klar und sachlich, sie sagen aus, dann bricht aber das Verhältnis zwischen Bekanntem und Vertrautem auf, wie die "Erinnerung an Gelesenes und Ungelesenes". Am Ende sieht man sich selbst zwar noch am Fleck, demselben Dorf, wo man Scheuermanns "trojanische Sätze" liest, nur befindet es sich jetzt, mitsamt der auf Murmelgröße zurechtgerückten Erde, irgendwo im All.

Die große Kränkung der Menschheit, nicht im Mittelpunkt des Kosmos zu stehen, vom Affen abzustammen und von Unbewusstem regiert zu werden, ist plötzlich genauso beherrschend wie belanglos, "Abgezogen ist die Invasion der Wünsche", heißt es in "Manchmal braucht eine Reise Türen". Hier begegnen sich zwei Menschen weiterhin und statt Freunde zu bleiben, betrachten sie ihr allmähliches Verändern. So melancholisch dies auch klingt, ist es auch ungeheuer reizvoll und unverbraucht, wenn Scheuermann schreibt: "da ist kein Begehren mehr / nicht mehr / obwohl wir jetzt die Zeit dazu hätten." Welcher Art die Türen des Titels sind, wird nicht gesagt. Das Sprichwort von der einen Tür, die sich öffnet, wenn eine andere sich schließt, passt nicht ohne weiteres. Es ist unerheblich, da diese Gedichte alle in ein und demselben Raum angesiedelt zu sein scheinen. Welthaltig zu sein, ist nicht ihr Anspruch; die Erwähnung von "Ozon" und von "Waagen", vor denen gewarnt wird, sind das äußerste an vordergründiger Zeitgenossenschaft.

Was die Verhältnisse zwischen Liebenden angeht, ist die Autorin nicht zögerlich und fast immer auf der Höhe der Un-Möglichkeiten. In "Die Verachtung" wird daraus zwar eine wenig aufregende Reihung surrealistischer Momente, während die Positionen der Partner oder Gegner stets gleich bleiben. "Curriculum Vitae" allerdings entfaltet ein prächtiges Tryptichon der von Körpern verwirklichten Liebe. Es gibt den einen Flügel, der Allgemeines zeigt, wie es so zugeht, schnell nämlich ohne recht bei der Sache zu sein. Der Mittelteil schildert die Innensicht des Embryos auf den Akt und seine Folgen, es ist ihm skeptisch gegenüber, also sich, zum Widerstand geboren und von der Mutter selbst dazu aufgerufen. Das gewagte und schöne Bild des Kindes im "rundgeliebten" Körper der Mutter, das den "Silhouetten der Liebe misstraut, weil sie den Horizont komplett verdecken", ist eins der einprägsamsten im ganzen Buch. Es ist dennoch auch unstimmig. Der Horizont ist keine fixe Größe, sondern der augenblickliche Abstand zum entferntesten Rand des Sichtfeldes. Die Liebe zieht es zusammen wie eine Pupille sich im Hellen. Die Welt wird dadurch nicht kleiner, sondern bleibt relativ groß. Die fehlende Weitsicht, die das Baby beklagt, gibt im Umkehrschluss der Mutter das Recht, sie dem Kind ebenfalls vorzuwerfen. Jeder definiert für den anderen den Status quo, ein tragisches Verhältnis. Im rechten Flügel werden die vorhergehenden Zustände und Mängel eine Mischung aus Ergebenheit und Gewöhnung. Aus dem Uterus ist längst ein Zimmer geworden "in dem wir hausten gleichzeitig enger und wichtiger". Das ist ein ,crack' wie bei Leonhard Cohen, durch den Licht eindringt - und Erkenntnis austritt, um das Gleichgewicht zu wahren.

Silke Scheuermanns Gedichte haben einen vollkommen eigenen Ton. Die Form der Texte ist weniger prägnant. Mit der beinahe gänzlich fehlenden Interpunktion ist das prägende Stilprinzip der Zeilenbruch inmitten eines Verses und die Majuskel am Satzanfang innerhalb der Zeile. Man liest so stets das Ende des einen Verses mit dem Anfang des folgenden zusammen. Gelegentlich ergibt das Sinn, wenn zum Beispiel "Weißt du noch" gefragt wird, das sich auf das Vorhergehende zu beziehen scheint, während es die kommende Zeile meint. Nichts weniger würde geschehen, stünde dort ein Punkt.

Um kleinlich gewesen zu sein, reicht das. Viele Gedichte des Bandes sind ein Erlebnis. Einzig die kleine Reihe über Paris fällt weniger ins Gewicht, schon wegen des Stadt-der-Liebe-Vorbehaltes, aber der Text liefert eben auch viele Motive, die in diesem Buch selbst prägnanter behandelt worden sind, hier ist es keine "allzu gewagten Flaschenpost". Auch dies: "Wo der Körper unter / dem anderen Landschaft ist / klein überschaubar." Weiter vor mit originellen Versionen des Bekannten wagen sich andere Gedichte, wo es dann heißt "Ideale der Reise: mitgebrachte Brote / mit Salami von gestern belegt ... In den Hotels packe ich in neuem / Rhythmus aus". Silke Scheuermanns erstes Buch war bereits die eine Sammlung von Sternen, dies ist eine weitere - sie geben trotzdem ein ungeheures Versprechen ab, "Hier ist die Einladung an das / was erst noch geschehen wird".

Titelbild

Silke Scheuermann: Der zärtlichste Punkt im All. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
66 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 351841593X

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