Philosoph eines anderen Europas

Martin Weiß' Einführung in das Denken Gianni Vattimos

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss sich fast verwundert die Augen reiben: eine Einführung zu Gianni Vattimo. - Tatsächlich: eine solche existiert bislang nicht in deutscher Sprache. Der Österreicher Martin Weiß kann sich nun rühmen, die erste Monographie dieser Art publiziert zu haben. Und er hat die Meßlatte nicht nur hoch gelegt, sondern auch mit Bravour im ersten Anlauf übersprungen. Souverän skizziert er fachkundig die zwar übersichtliche, aber hierzulande immer noch größtenteils unbekannte Philosophieszene Italiens seit den 70er Jahren. Dabei ist die Differenz zur Postmoderne Frankreich und Deutschland eine sehr feine: Wie rechts und links des Rheins galten auch südlich der Alpen Nietzsche und Heidegger als jeweilige Galionsfiguren, zunächst der radikalen Kritik, dann der Überwindung der neuzeitlichen Metaphysik. Doch während hier und in Paris der Fall der Metaphysik im Zuge der allgemeinen Säkularisierung auch ohne die beiden Meisterdenker hätte stattfinden können, galt es in Italien das natürliche Hindernis des Katholizismus zu überwinden. Dass dieser Übermacht nicht mit herkömmlichen Mitteln beizukommen war, zeigt sich im Denken Vattimos, das Weiß erschließt.

Vor allem Heidegger, auf dessen Nietzschebild auch Vattimos 'Nietzsche' zurückgeht, war für die Denkentwicklung und die Konzeption einer Alternative zum Denken einer von der Geschichte und Gott gegebenen Vormachtstellung des Abendlandes bei dem späteren Abgeordneten im Europaparlament Vattimo wichtig: An Nietzsche geschult, wusste Heidegger um die Herausforderung und Unmöglichkeit einer Überwindung der Metaphysik, für welche der Überbietungsgestus zu einer ihrer Konstituenten gehört. 'Verwindung' statt Überwindung der Metaphysik war deshalb Heideggers Losung. Die diesbezügliche Trauerarbeit zu leisten im Stande war in den Augen Heideggers vor allem die Poesie, welche durch die unverstellte Sprache eine Rückkehr in den heilsversprechenden Mythos erlaubt. Anders aber als Heidegger, der irgendwann aufgehört hat, zwischen Griechenland und Deutschland zu unterscheiden, weiß Vattimo sehr wohl um die Differenz zur Vorsokratik wie auch zum postmodernen Verständnis Lyotards: nach der Moderne ist nicht vor der Moderne.

Vattimos Alternative, die er 1983 zusammen mit Pier Aldo Rovatti in Form eines Sammelbandes vorlegt, lautet auf eine Formel gebracht "pensiero debole": Schwaches Denken! - Schwach zu denken, heißt für den gläubigen Christen Vattimo, Nächstenliebe, dem Anderen verzeihen und sich kleiner machen als der, für den man sich ausgeben könnte. Vor allem die Grenzen des eigenen Denkens erkennen und pflegen, indem man ihre Fragilität offen legt, die andere Wange hinhält. Mit der "Kenosis", der Selbsteinschränkung des Gottes im Neuen Testament bereits beginnt für Vattimo die Säkularisierung. Deren Kern also ein unhintergehbar religiöser ist. Eine vollendete Säkularisierung wäre demnach auch die Vollendung des Christentums.

Hierbei wird der Interpretationsbegriff wichtig. Noch mehr denn als (Seins-)Geschichtsphilosoph oder Phänomenologe ist Heidegger für Vattimo als Hermeneutiker wichtig: Mit dem Wegfall der durch ein nun aufgelöstes Subjekt verbürgten Objektivität der Welt tritt in der nachdialektischen Welt die Suche nach dem Sinn und der Verzicht auf letzte Erklärungen auf den Plan. In dieser Instabilität gilt es sich einzurichten. Da aber schon der Grund dessen, was wir interpretieren, demnach auf 'Interpretationen' beruht, ist auch die Geschichte für Vattimo (im Anschluss an seinen Lehrer Luigi Pareyson) "nicht Interpretation von etwas, das auch außerhalb der Interpretation zugänglich wäre", so Weiß.

Ganz in diesem Sinne ist der Übermensch Nietzsches für Vattimo derjenige, der über die Schwelle des Denkens der Immanenz der Interpretation getreten ist und nun in dieser lebt. Anders aber als zur Zeit Nietzsches, als diese Kreativität auch den Krieg gegen sich und andere legitimierte, führt diese Überwindung des Menschen nicht zu seiner Vernichtung, sondern zur Demut. - Dass dies selbst ein historischer Fortschritt sein könnte, der dem Interpretationszirkel transzendent ist, steht auf einem anderen Blatt.

Würde man etwas an dem Band bemängeln wollen, so wäre anzumerken, dass man ihm seine Herkunft aus einer Qualifikationsarbeit in Form und Stil bisweilen anmerkt und die ursprüngliche Intention also nicht war, eine Einführung im geläufigen Sinne zu schreiben, wodurch auch der für dieses Genre beträchtlichen Umfang erklärt. Gerade die Ausführlichkeit aber erlaubt es Weiß, auch längere Textpassagen aus noch nicht übersetzten Texten Vattimos zu zitieren, so dass das Buch insgeheim auch einen anthologischen Charakter hat. Bereichert wird der Band durch ein aktuelles Interview des Autors mit Vattimo, in dem Weiß ihn spiegelbildlich zur vorliegenden Einführung zu den Stationen seinen Denkens befragt.

Kein Bild

Martin G. Weiß: Gianni Vattimo. Einführung.
Mit einem Interview mit Gianni Vattimo.
Passagen Verlag, Wien 2003.
224 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3851655885

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch