Großes Schaufenster zum eigenen Wortgedächtnis

Die achte Auflage des "Dornseiff" ist da - und will alle anderen Synonymwörterbücher überflüssig machen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von dem 1888 in Gießen geborenen Philologen Franz Dornseiff ist schon aus den 20er Jahren ein Ausfall gegen alphabetisch geordnete Wörterbücher überliefert, der es im Nachhinein zu einiger Prominenz brachte. Mit diesen alphabetischen Wörterbüchern, so der junge Dornseiff, sei "ein endgültiger Schritt nach dem papierenen Verhältnis zur Sprache getan worden. Seitdem reiht man die Wörter nach ihrer Rechtschreibung auf und verzichtet damit auf jede zusammenhängende Übersicht über den Wörterschatz. Es ist eine Art Einsargung. Daß man ein Wort findet, ohne gerade es gesucht zu haben, dafür sind sie nicht eingerichtet. Denn das Abc ist ein Numerierungssystem, praktisch wie das Dezimalsystem, aber das äußerlichste, das sich denken läßt. Mit einem sinnvoll geordneten Sprachschatz verglichen, nimmt sich das alphabetische Lexikon aus wie eine alphabetisch geordnete Bibliothek oder ein so geordnetes Museum oder wie das Haus jenes Mannes, der seinen Haushalt nach dem Abc eingerichtet hat, da kam das Kind neben Kohle, auf die andere Seite der Käse usw."

Kein Wunder also, dass ausgerechnet Dornseiff, von Haus aus Gräzist, ein umfassendes onomasiologisches Wörterbuch der deutschen Sprache geschaffen hat - übrigens nur als Vorarbeit für ein derartiges Wörterbuch des Altgriechischen! Die erste Auflage erschien 1934 unter dem Titel "Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen" und enthielt in der Vorrede noch ein mutiges Verdikt über die Fremdwörterallergie der Nazis. Bekannt wurde das Werk in der Folge freilich als "der Dornseiff" - ein seine Wortschätze nach Begriffen ordnender Thesaurus in der Tradition des englischen "Roget" (1852), des französischen "Boissièrer" (1862) oder des deutschen "Sanders" (1873). Dass ein solches Wörterbuch und zumal der Dornseiff mehr ist als ein bloßes stilistisches Hilfsmittel und auch mehr als ein ordinäres Synonymwörterbuch wie das der "Duden-Reihe" oder Peltzers "Das treffende Wort", erläutert Herbert Ernst Wiegand in seiner lesenswerten "Lexikographisch-historischen Einführung", die der jetzt erschienenen 8., völlig neu bearbeiteten Auflage vorangestellt wurde.

Tatsächlich ermöglicht der Dornseiff das Auffinden semantisch verwandter Ausdrücke - und zwar unabhängig von der Wortart! - und gibt zugleich einen Überblick über jene lexikalischen Mittel, Wörter und Formulierungsbausteine, die die deutsche Sprache zu einer Sachgruppe anbietet. Wer z. B. unter "Armut" nachschlägt, findet dort Wörter wie Elend, Entbehrung oder Hunger, aber auch Bevölkerungsexplosion, Landflucht, Slum, Verstädterung, Armer Teufel, Obdachlose, abgerissen, blank, schäbig, ohne einen Pfennig, sich durchschlagen, auf dem Trockenen sitzen, keine großen Sprünge machen können, stempeln gehen, an den Bettelstab bringen, herunterkommen usw. Der Dornseiff erlaubt es so, eine mehr oder weniger klar im Bewusstsein vorliegende Ausdrucksintention eines Schreibers zu präzisieren oder variieren. Was nicht selten zu einer Veränderung der ursprünglichen Intention führt, und zwar deshalb, weil Sprache, wie Wiegand mit Recht erinnert, mehr ist als ein bloßes Mittel zum Zwecke des Ausdrucks sprachfreier Gedanken.

Im Gegenteil, die "Form" hat entscheidenden Anteil am "Inhalt", und je mehr "Formen" bei der "allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" zugriffsbereit zuhanden sind, desto mehr dem Schreiber anfangs selbst nur vage bewusste Gedanken, Argumente und Inhalte können sich sprachlich manifestieren und differenzieren. Deutlich wird dies in den Beispielanalysen Wiegands, die aufzeigen, was geschieht, wenn ein Schreiber Sachgruppenwörterbücher wie den Dornseiff bei der Textproduktion verwendet. Wer immer beim Feilen an seinen Texten an einer Stelle spezifizieren oder generalisieren möchte, nuancieren oder kontrastieren, partialisieren oder holonosieren, aber auf ein bestimmtes Wort, das ihm auf der Zunge liegt, nicht zugreifen kann, mit dem Dornseiff wird er es mit hoher Wahrscheinlichkeit finden.

Vorausgesetzt freilich, dass ihm das Wort und seine Bedeutung tatsächlich bereits bekannt ist, denn Wortbedeutungserläuterungen liefert der Dornseiff nicht. Aber wem beispielsweise partout nicht einfällt, wie man ein Segelschiff mit zwei Rümpfen nennt, der braucht im Dornseiff bloß unter "Schiff" nachzuschlagen, dann den dort präsentierten, zu diesem Sachbereich zugehörigen Wortschatz überfliegen und wird im Teilbereich "Segelschiff" auf das Wort "Katamaran" stoßen. Der Dornseiff, betont Wiegand selbstbewusst, ist zunächst einmal ein "Wortfindewörterbüch", eine "Erinnerungshilfe", die aufgrund ihres Umfangs alle anderen auf dem Markt befindlichen Synonym- und Antonymwörterbücher überflüssig mache: "Das Fenster zum eigenen Wortgedächtnis, das durch die Benutzung eines kumulativen Synonymwörterbuches für den Benutzer-in-actu geöffnet wird, ist winzig wie eine Luke im Vergleich mit dem großen Schaufenster, das sich während der Benutzung des neuen Dornseiff öffnet." Fragen wie "Welche Verben gehören zum Bereich des Sehens?", "Welche Adjektive gibt es zu 'Ruhe' oder 'Ruhezustände'?" oder "Welcher Wortschatz ist mit 'Buch' assoziiert?" lassen sich zuverlässig nur mit dem Dornseiff beantworten.

Wobei - und dieser Punkt lässt daran denken, dass der junge Dornseiff über das Thema "Das Alphabet in Mystik und Magie" promovierte - der intelligente Benutzer nicht nur Wörter und Ausdrücke findet, die er schon kennt, sondern auch solche, die er sozusagen gar nicht gesucht hat. Vorausgesetzt, er benutzt den Dornseiff mit frei schwebender Phantasie, nach dem Motto "Mal sehen, welche Formulierungsmöglichkeiten sich überhaupt erschließen lassen". Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er am Ende zu ganz neuen Formulierungen gelangt - wenn nicht gar zu neuen Gedanken. "Moderne Sachgruppenwörterbücher sind als Wortfindebücher", betont Wiegand, "nicht nur Wegweiser ins eigene Gedächtnis, sondern auch leicht handhabbare Navigationshilfen für assoziative Streifzüge durch sachgruppenspezifische Gedächtniszonen. Moderne Sachgruppenlexikographie ist Lexikographie für Gebildete, die das, was sie suchen, längst kennen, und etwas, was sie nicht suchen, dabei entdecken und nutzen können."

Die jetzt vorliegende achte Auflage wurde vollständig neu bearbeitet, und zwar pikanterweise mit Uwe Quasthoff von einem Informatiker mit dem Arbeitsschwerpunkt Automatische Sprachverarbeitung. In nur vierjähriger Arbeit erstellte Quasthoff durch Computerauswertung eines entsprechend umfangreichen Textkorpus (am Ende 500 Millionen laufende Wörter aus Gegenwartstexten) mittels Häufigkeitsanalyse einen überarbeiteten Wortschatz, der gegenüber der siebten Auflage 30 Prozent neue Wörter und Wortgruppen enthält. Das Sachgruppensystem wurde um neue Themenbereiche wie Börse, Computer oder Naturwissenschaften erweitert. Erstmals verfügt der Dornseiff auch über ein vollständiges alphabetisches Zugriffsregister. Lobenswert ist auch, dass der Verlag neben der Print- auch eine - tadellos funktionierende - CD-Rom-Ausgabe des neuen Dornseiff vorlegt.

Titelbild

Dornseiff. Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. Mit CD-ROM.
Herausgegeben von Uwe Quasthoff.
De Gruyter, Berlin 2004.
933 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3110098229

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