Was nach "Mein Leben" kam

Über die unermüdliche Produktivität des über 80-jährigen Marcel Reich-Ranicki

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seinen größten Erfolg hatte der so erfolgsverwöhnte wie ruhmversessene Marcel Reich-Ranicki mit seiner Autobiografie "Mein Leben". Als sie am 15. August 1999 erschien, war die Resonanz überwältigend. Die zahlreichen und ausführlichen Rezensionen, die zum Teil schon vor der Auslieferung des Buches erschienen, zeigten sich zum größten Teil beeindruckt und begeistert. Selbst chronische Gegner des Kritikers bezeugten ihren Respekt. Sieben Wochen nach dem Erscheinen stand das Buch auf Platz eins aller Bestsellerlisten im deutschsprachigen Raum. Mehr als 200.000 Exemplare waren bereits verkauft, Übersetzungsrechte nach Polen, Spanien und Großbritannien vergeben. Die Zahl der aufgelegten Hardcover-, Buchclub-, Taschenbuch- und Hörbuchexemplare hat im Jahr 2003 die Millionengrenze überschritten. In 17 Ländern hat man inzwischen die Lizenzrechte erworben. Eben wurde in China die Übersetzung publiziert. In Deutschland erschien bei dtv eine an Schüler adressierte "Studienausgabe".

Doch solcher Erfolg und das hohe Alter ließen Reich-Ranicki nicht ruhen. Die Produktivität des inzwischen weit über 80-Jährigen ist bemerkenswert. Neben zahlreichen Lesungen, den Vorträgen anlässlich von Auszeichnungen wie dem Hölderlin-Preis, dem Frankfurter Goethepreis oder den Ehrenpromotionen an den Universitäten Utrecht und München, neben den Auftritten in Fernsehtalkshows und, bis Ende 2002, vor allem in den eigenen Fernsehsendungen "Literarisches Quartett" und "Reich-Ranicki Solo", hat er in den ersten vier Jahren des neuen Jahrhunderts kontinuierlich geschrieben und an diversen Buchprojekten gearbeitet. Über 15 Bücher hat er in dieser Zeit herausgegeben und zum Teil komplett neu verfasst.

Zwischen September 2001 und Dezember 2002 schrieb er beinahe jede Woche für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" einen Beitrag für die Serie "Meine Bilder", die 2003 als Buch erschien. Es enthält 69 "Bilder" von ihm im doppelten Sinn: Radierungen, Lithografien und Originalzeichnungen, die ihm im Laufe seines Kritikerlebens geschenkt wurden oder die er selbst angeschafft hatte, "Portraits von Schriftstellern, die für mich besonders wichtig waren und sind". Die Wände seiner Wohnung waren voll davon - bis die Bilder 2003 zur öffentlichen Ausstellung außer Haus gegeben wurden. Zu ihnen verfertigte Reich-Ranicki ergänzende Portraits mit den ihm eigenen Mitteln, mit denen der Sprache: kleine, drei Druckseiten umfassende Essays, die neben einigen Bemerkungen zum jeweiligen Bild den dargestellten Autor charakterisieren und zugleich beschreiben, was einige seiner Werke dem Kritiker bedeuten.

Im Jahr 2003 wurde die Serie "Meine Bilder" durch eine andere ersetzt, für die er wiederum wöchentlich einen Beitrag verfasste: "Fragen Sie Reich-Ranicki". Hier antwortete er auf Leserbriefe zur Literatur und zu seiner Person. War die "Gruppe 47" antisemitisch? Warum haben Sie nie über Ernst Jünger geschrieben? Ist Bölls Werk noch aktuell, was taugt es heute? Reich-Ranicki antwortete auf Fragen dieser Art im Gestus des Volksaufklärers und Literaturpädagogen. Der Gestus entspricht seinem Verständnis von der Rolle der Kritikers. "Weltfremd wäre es, ja sogar selbstmörderisch, wollte sich die Kritik nur an die Minderheit wenden, die ohnehin eine Schwäche für Literatur hat. Vielmehr kommt es darauf an, wenigstens einen Teil auch jenes Publikums zu gewinnen, dem die Literatur vorerst fremd oder gleichgültig ist." So steht es in der Rede "Die doppelte Optik der Kritik", in der er seine Leitsätze zur Literaturkritik knapp zusammengefasst hat. Sie ist zusammen mit anderen lesenswerten Reden (über Redekunst, Juden in der Literatur, Goethe, Hölderlin oder Kleist) in dem 2001 erschienen Band "Vom Tag gefordert" abgedruckt, der inzwischen als Taschenbuch vorliegt. Hier findet sich auch der eindrucksvolle Grundstein für "Mein Leben": die 1994 in den Münchner Kammerspielen gehaltene Rede "Über das eigene Land".

Die Rolle eines Volkspädagogen spielte und spielt Reich-Ranicki ebenso bei einem öffentlichen Spektakel, an dem er nicht zum ersten Mal teilnahm, doch nun mit einer vorher nicht gekannten Vehemenz: dem Spiel und Streit um jene literarischen Texte, die zum "Kanon" deutschsprachiger Literatur gehören sollen. An der Kanon-Bildung hat Reich-Ranicki schon oft und mit viel Resonanz mitgewirkt, am spektakulärsten im "Spiegel" vom 18. Juni 2001, der mit Reich-Ranicki auf dem Titelbild seinen Leitartikel dem Thema "Was man lesen muss" widmete. Hier präsentierte der Kritiker im Gespräch mit Volker Hage seinen persönlichen Kanon deutscher Literatur und adressierte ihn vor allem an Deutschlehrer und Schüler. Die Liste reichte vom "Nibelungenlied" bis zu Gedichten von Robert Gernhardt.

Aus dem aufsehenerregenden Artikel erwuchs ein verlegerisches Groß- und Gemeinschaftsprojekt. Am 21. September 2002 erschien unter dem Titel "Der Kanon" im Umfang von 8.200 Seiten die erste Folge mit einer Sammlung von 20 Romanen von 17 Schriftstellern der deutschen Literatur von der Goethezeit bis zur Gegenwart. Die Leitlinie von Reich-Ranickis Auswahl war nicht nur die Qualität der Bücher, sondern auch ihre Lesbarkeit für ein breites, aufgeschlossenes Publikum.

Der Roman-Kanon war nur der Anfang. Problematisch unter Gesichtspunkten des Verkaufs war gewiss, dass jeder, der nur ein wenig der Literatur zugewandt ist, den "Werther", die "Wahlverwandtschaften", die "Buddenbrooks", den "Prozeß" oder die "Blechtrommel" längst im häuslichen Bücherregal stehen hat. Da ist die im Oktober 2003 erschienene Buchkassette mit 180 Erzählungen in zehn Bänden deutlich attraktiver. Sie fand zwar ungleich weniger Resonanz in der Presse als der schon durch den Zwang zur Beschränkung provokative Roman-Kanon, ist aber zweifellos die weit bedeutendere Leistung. Eine Sammlung von deutschsprachigen Erzählungen in diesem Umfang und in dieser Qualität hat es bislang nicht gegeben. Und hier finden sich fast alle Autoren, die im Roman-Kanon von vielen vermisst wurden. Selbst so umfangreiche "Erzählungen" wie "Die Widmung" von Botho Strauß, "Ein fliehendes Pferd" von Martin Walser oder "Kein Ort. Nirgends" von Christa Wolf haben hier Platz gefunden. Das Vorwort rechnet treffsicher mit einzelnen Kritikern des Kanon-Projektes ab: Joachim Kaisers Gegenliste der zwanzig wichtigsten Romane enthalte "nicht weniger als sieben Erzählungen". Erich Loest habe die Romane der DDR-Literatur vermisst und Arnold Zweigs "Streit um den Sergeanten Grischa" vorgeschlagen. "Das aber ist ein Roman aus dem Jahre 1927". Dem Vorwurf der Bevormundung, der jede Leseliste oder Textsammlung, die im Namen eines "Kanons" auftritt, begleitet, entgegnet Reich-Ranicki: "Er ist weder ein Gesetzbuch noch ein Katalog, weder eine Anordnung noch eine Vorschrift. Er enthält nichts anderes als freundliche Hinweise, Vorschläge und Empfehlungen." Den Romanen und Erzählungen werden Kassetten mit Dramen, Gedichten und Essays folgen.

Von diesem Kanon-Projekt deutlich unterschieden sind Textsammlungen, die sich auf persönliche Vorlieben berufen. Deren erster Band ist im Frühjahr 2003 erschienen und trägt den programmatischen Titel "Meine Gedichte". Im Herbst desselben Jahres erschien der Band "Meine Geschichten". Das Alterswerk von Reich-Ranicki zieht Bilanzen: Bilanzen zur Literaturgeschichte, Bilanzen zu den Leistungen einzelner Schriftsteller und Bilanzen des eigenen Lebens. Und alles das ist eng miteinander verknüpft. Wer seine 2003 erschienene Anthologie "Meine Gedichte" aufmerksam liest, wird feststellen, dass hier, neben der Liebe, ein Themenkreis dominiert: Vergänglichkeit, Alter und Tod.

Den Veröffentlichungen dieses Kritikers sind immer wieder Spuren eines privaten Subtextes eingeschrieben. Das von ihm Publizierte hat - wie auch seine Autobiografie - Ansätze zu jenem "doppelten Boden", mit dem nach einem Bild Reich-Ranickis Schmuggler wie Schriftsteller etwas verbergen: die einen geheime Ware, die anderen untergründigen Sinn. In einer Rede zu seinem 80. Geburtstag (gedruckt in "Vom Tag gefordert") ging er auf die Einsamkeit des Kritikers und auf die Feindschaften ein, die er sich mit seiner Kritik zuzieht. "Es fiel mir immer schon sehr schwer, auf die Zuneigung anderer zu verzichten, die generelle Unbeliebtheit, die ich oft zu ertragen hatte und die sich, so schien es mir, nur selten überwinden ließ - sie hat mir mein Leben lang Sorgen bereitet. [...] Viel Feind, viel Ehr? Ach, weniger Ehre und weniger Feinde - es wäre mir mit Sicherheit lieber gewesen. Nur habe ich immer, ob ich es wollte oder nicht, die Menschen rings um mich und wohl auch alle meine Leser unentwegt polarisiert." Reich-Ranickis späte Publikationen enthalten immer wieder angedeutete Versöhnungsangebote an jene, die er sich zu Feinden gemacht hatte. Von Ulla Hahn, mit der er sich mit einer harschen Kritik an ihrem Roman "Das verborgene Wort" überworfen hatte, nahm er in seine Sammlung "Meine Gedichte" gleich fünf Lyrik-Beispiele auf. Die aktualisierte Fassung seiner gesammelten literaturkritischen Beiträge zu Günter Grass, die 2003 unter dem Titel "Unser Grass" erschien und jenen berüchtigten Verriss zu dem Roman "Ein weites Feld" enthält, der den endgültigen Bruch in der persönlichen Beziehung zwischen dem Schriftsteller und dem Kritiker zu bedeuten schien, endet mit einer Hymne auf dessen Gedichtband "Letzte Tänze".

Der letzte Beitrag in dem Buch "Meine Bilder" endet mit der Nennung eines Namens: des Namens von Sigrid Löffler. Der Beitrag portraitiert den von Löffler wie von Reich-Ranicki hoch geschätzten Thomas Bernhard. Er gilt vielen als ein Schriftsteller, dessen Produktivkraft der Hass ist. An "Wittgensteins Neffe" zeigt Reich-Ranicki, dass dieses Bild einiger Korrekturen bedarf. In diesem Buch einer Freundschaft finde sich "ungleich mehr Liebe als Haß". Nie habe Bernhard "menschenfreundlicher, nie zärtlicher geschrieben". Und als ob ihm dies ein Vorbild sei, fügt Reich-Ranicki abschließend hinzu: "Daß ich es nicht vergesse: Das Bild ist eine Gabe, die mir eine große Freude bereitet hat. Geschenkt hat es mir eine langjährige, eine geschätzte Kollegin: Sigrid Löffler."

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Der Kanon. Die deutsche Literatur. Erzählungen. 10 Bände und ein Begleitband.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
5700 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3458067604

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Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben.
dtv Verlag, München 2003.
576 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3423130563

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Marcel Reich-Ranicki: Meine Bilder. Porträts und Aufsätze.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3421056196

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Marcel Reich-Ranicki: Meine Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis heute.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
348 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3458171517

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Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichten. Von Johann Wolfgang von Goethe bis heute.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
654 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3458171665

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Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
220 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421057966

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Marcel Reich-Ranicki: Vom Tag gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten.
dtv Verlag, München 2003.
208 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3423131454

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