Gedenken und Erinnern

Zur Neuübersetzung von Anna Achmatowas Versnovelle "Poem ohne Held"

Von Michaela WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michaela Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die russische Lyrikerin Anna Achmatowa (1889-1966) zählt zweifelsohne zu einer der markantesten Gestalten der russischen Literatur. Geprägt von den zeitgeschichtlichen Zäsuren des 20. Jahrhunderts und in enger Bindung an die russische wie europäische Literatur und Kultur, hat Anna Achmatowa während mehrerer Jahrzehnte ein poetisches Oeuvre geschaffen, das sich durch sprachliche Klarheit, hohes literarisches Niveau und assoziative Dichte auszeichnet. Daher ist es mehr als begrüßenswert, dass der Düsseldorfer Grupello Verlag 2001 eine von Alexander Nitzberg angefertigte Neuübersetzung der Versnovelle "Poem ohne Held", des wichtigsten Gedichtzyklus' von Achmatowa, herausgegeben hat.

Das als Triptychon konzipierte "Poem ohne Held" (Poema bez geroja, 1940-1962) gehört in eine spätere Schaffensphase von Anna Achmatowa, die um 1910 bekannt geworden war, als sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann Nikolaj Gumiljow (1886-1921), Ossip Mandelstam (1891-1938) u. a. die literarische Richtung des "Akmeismus" begründete. Zu diesem Zweck hatte man sich 1911 in Petersburg zu einer "Dichterzunft" zusammengeschlossen, um dem damals dominanten russischen Symbolismus eine alternative Poesie entgegenzusetzen. Während insbesondere die Vertreter der zweiten Symbolistengeneration Vjatcheslav Ivanov, Andrej Belyj und Aleksandr Blok eine mystisch-prophetische Mythopoetik betrieben, um die Wirklichkeit auf eine "wirklichere Wirklichkeit" hin zu transzendieren und zu verklären, setzten die Akmeisten erneut auf ein dezidiert klassizistisches Literaturverständnis. Ihre Texte zeichnen sich aus durch eine klare, geradezu nüchterne Sprache, durch eine die Alltäglichkeit und Profanität der Dinge widerspiegelnde Wortwahl, die allerdings durch eine elaborierte Formensprache zur Dichtkunst wird. Nicht Gefühl und atmosphärische Stimmung werden hier evoziert, sondern Situationen, Personen und Gegenstände sind so schlicht wie poetisch dicht benannt.

Nachdem die Bolschewiken im Zuge der Oktoberrevolution 1917 die Macht übernommen und 1922 zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller ausgewiesen hatten, wurde über Anna Achmatowa, die sich dazu entschieden hatte, weiterhin in Russland zu bleiben, ein Publikationsverbot verhängt. Bis 1935 schrieb sie nichts und lebte sehr zurückgezogen, und erst 1936 begann sie erneut und heimlich mit literarischen Arbeiten. In dieser Zeit entsteht ihr Gedichtzyklus "Requiem" (Rekviem), in dem sie dem Leiden unzähliger russischer Frauen ein Denkmal setzt, die - wie sie selbst nach der Verhaftung ihres einzigen Sohnes - während der stalinistischen Diktatur tagtäglich vor den Toren der Gefängnisse stehen, um Nachricht von ihren Männern und Söhnen zu erhalten oder ihnen etwas zukommen zu lassen.

In den Jahren 1940 bis 1942 arbeitete Anna Achmatowa schließlich an der Versnovelle "Poem ohne Held", die sie in Petersburg (damals Leningrad) begann und in Taschkent, wohin sie evakuiert worden war, in ihrer Grundfassung beendet. Bis 1962 hat sie diese erste Fassung noch mehrfach überarbeitet und nur in kleinen Auszügen publizieren können, bevor schließlich 1967 in New York erstmals eine vollständige Publikation des "Poems" erfolgte. Erst 1974 wurde dieser Text auch in Russland vollständig veröffentlicht.

Wie schon ihr Gedichtzyklus "Requiem", greift auch das "Poem ohne Held" einerseits konkrete und zeitgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen auf, während andererseits dieser Rahmen immer wieder durch den Dialog mit der Geschichte und Tradition transzendiert und auf eine universale Ebene gehoben wird. Die Struktur des "Poems" entspricht formal dem Modell des Versromans, wie er in Russland vor allem von Aleksandr Puschkin (1799-1837), dem von Anna Achmatowa hoch geschätzten Dichter des "Goldenen Zeitalters" der russischen Literatur, begründet worden ist. Auf inhaltlicher Ebene ist es durch eine komplexe temporale Struktur organisiert, die mehrere Zeiten miteinander verknüpft. So oszilliert die fiktive Handlung insbesondere zwischen der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember 1940 (die den Einsatz des Gedichts bildet), dem Silvesterabend 1913/1914 im Fontanny-Haus, dem damaligen Wohnort der Achmatowa (der im ersten Teil des "Poems" rückblickend vergegenwärtigt wird) und der Zeit der Belagerung Leningrads 1941-1943, im Verlaufe derer Anna Achmatowa nach Taschkent evakuiert wurde und wo sie die Abfassung des Gedichts fortgesetzt hat.

Allerdings handelt es sich nicht nur um einen poetischen Bericht jener Jahre und Ereignisse, sondern zugleich werden mittels spezifischer Zeitstellen auch grundsätzliche Reflexionen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbunden. Die Erinnerung an die geistig-kulturelle Blüte Russlands und Europas wie auch die Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkrieges und der Stalin-Diktatur werden z. B. mit der unglücklichen Liebesgeschichte der Tänzerin und Freundin Anna Achmatowas Olga Glebowa-Sudejkina verwoben, um in einem karnevalesk verzerrten und poetisch komprimierten Szenario zahlreiche, oft nur assoziative Bilder vor das geistige Auge des Leser treten zu lassen, welche die klassischen Themen Liebe und Tod, Hoffnung und Angst, Glanz und Zerfall in schlichtem Ton aufgreifen.

Dem ersten Teil des "Poems", das durch mehrere zwischen 1940 und 1956 verfasste Widmungen eingeleitet wird, ist programmatisch der Wappenspruch des langjährigen Petersburger Wohnhauses der Achmatowa, des Fontanny Dom, vorangestellt: "Deus conservat omnia". Damit ist bereits zu Beginn die Funktion des "Poems" als verdichteter Gestalt eines kulturellen Gedächtnisses aufgerufen, und wie ein roter Faden wird das Motiv und Anliegen des Erinnerns und Gedenkens den gesamten Text durchziehen. Die einleitende Bemerkung, verfasst im April 1943 in Taschkent, wird ebenfalls mit einem Zitat, nun von Puschkin, begonnen, das die räumliche und zeitliche Distanz zu den Freunden wie auch zum kulturellen Erbe Russlands und vor allem Petersburgs aufgreift: "Die einen fort, die andren ferne." Diese Worte klingen dem Leser wehmütig ans Ohr, bevor Anna Achmatowa in einer selbstreflexiven Wendung einleitend schildert, wie sie geradezu von dem "Poem" heimgesucht worden ist. Nicht sie hat das Gedicht schreiben wollen, vielmehr hat es sie zu seiner Verfasserin gewählt:

"Das erste Mal suchte es mich heim im Fontanny-Haus in der Nacht zum 27. Dezember 1940 [...] Ich rief es nicht herbei. Ich erwartete es nicht einmal an jenem kalten und dunklen Tag meines letzten Winters in Leningrad."

In den nachfolgenden Widmungen und dem Vers der "Einleitung" klingt bereits die ambivalente Stimmung an, die das gesamte "Poem" durchzieht: Einerseits die Zuversicht der Dichterin, mit ihren Worten etwas von Dauer und Wert zu schaffen: "Als Flocke - ohne Vorwurf, voll Vertrauen - / scheint fremdes Wort hindurch, und es beginnt, / in meiner Hand - wie damals - aufzutauen." Doch sogleich wird diese hoffnungsvolle Szene durch den Blick auf die Realität des Krieges konterkariert: "Die Meeresbrise? / Nein, es war zu schauen / nur Grabeslaub. Und in der Brandung schwoll / heran ... Chopin: / der Trauermarsch: B-moll." Die "Einleitung" bestimmt schließlich den Blick des lyrischen Ichs, der den ersten Teils des "Poems" bestimmt: Vom Jahre 1940 blickt es "wie vom Turme" in die Vergangenheit, auf die Silvesternacht 1913/14, voll Ahnung dessen, dass hier eine Epoche zuende und zugrunde geht. Statt diesem "Abschied" jedoch nur nachzutrauern, wird im folgenden ersten Teil jene Silvesternacht nochmals vergegenwärtigt. In einer an E. T. A. Hoffmann erinnernden Maskenball-Szenerie vollzieht sich eine feucht-fröhliche Feier, in die sich bereits das Vorgefühl des Kommenden mischt: "Gott schütze uns alle: / Die Flamme ertrank im Kristalle / 'Und der Wein ist herb wie Arsen'" Mal aus der Beobachterperspektive, mal inmitten des festlichen Treibens meldet sich die Stimme des lyrischen Ichs im folgenden immer wieder zu Wort, melancholisch-schmerzhaft wissend um das, was mit dem Jahre 1914 begann: "Dieses Plätschern der Konversationen, / Auferstehung der Illusionen, / und die Mitternacht ist noch weit... / Meine Sorge ist nicht zu zähmen, / an der Schwelle bewach ich als Schemen / den Rest der Gemütlichkeit. / Und höre deutlich: Es schellte, / fühle die feuchte Kälte, / glühe, erstarre zu Stein ..."

Die Schilderung des karnevalesken Silvesterszenarios ist des weiteren gespickt mit Anspielungen auf die geistig-kulturelle Tradition Russlands und Europas: Klassiker der Literatur, Kunst und Musik sowie biblische und volkstümliche Motive werden assoziiert, die sich mit den Masken der fiktiven Silvestergäste vermischen und ein vielschichtiges atmosphärisches Stimmungsgefüge bilden. Kunstvoll schieben sich diese verschiedenen Ebenen aber auch immer wieder zu einem konkreten zeitkritischen und / oder selbstreflexiven Bild zusammen: "Bewirft man mit Steinen / die Schöpfer von Poesie? / Die Bundeslade umtanzen / oder schwinden! ... / Aber vom Ganzen / sprechen Verse besser als sie. Wir träumen vom Hahnenkrähen. / Von der Newa Dunstwolken wehen, / und es will und will nicht vergehen / Petersburgs Teufelei ..."

So laufen die Verse weiter, zum einen narrativ-szenisch die Silvester-Szenerie beschreibend, zum anderen immer wieder selbstreflexive und über das fiktive Geschehen hinausgreifende Reflexionen und Anspielungen aufgreifend, die nur selten eindeutige Gestalt gewinnen, sondern zumeist ambivalente Gedankensplitter bleiben. Zum Beispiel wird das unruhige Treiben und sprunghafte Assoziieren plötzlich unterbrochen von dem erschöpft-sehnsuchtsvollen Vers: "Für eine Minute, / in der ich in Frieden ruhte, / gäb ich gern meine Grabesruh."

Das zweite Kapitel des ersten Teils rückt ab von der Silvester-Nacht und widmet sich der Tänzerin Olga Glebowa-Sudejkina, die Anna Achmatowas Freundin war und wegen derer sich ein junger Mann aus Liebe das Leben genommen hatte. Diese Fakten werden zum Anlass genommen, zum einen der Sudejkina ein poetisches Denkmal zu setzen, zum anderen die unglückliche Liebesgeschichte und die damaligen Zeitumstände in poetischen Bildern einzufangen:

"Lockige blonde Haare, / Colombine der Zehner Jahre, / Doppelgängerin mein. / [...] Dichtergefährtin, / du vererbtest mir deinen Glanz. / Ein großer Maestro - da weht er! - / Leningrads stürmischer Äther, / und im Laub der geschützten Zeder / seh ich höfischen Knochentanz ..."

Diesen Erinnerungen und Visionen folgen im dritten und vierten Kapitel des ersten Teils melancholisch-morbide Bilder und Gedanken, die Zarskoje Selo und Petersburg vergegenwärtigen. Der spielerisch-karnevaleske Gestus des Anfangs verliert sich zunehmend, indem sich Bilder des Kriegs, der Zerstörung und des Zerfalls immer stärker in den Vordergrund schieben. Die poetische Intensität des Gedichts wird jedoch dadurch nicht gemindert, denn nach wie vor ist der realistische Blick durch Assoziationen und Anspielungen auf eine höhere Ebene transzendiert - allerdings ohne so verklärend zu wirken: "Und ein silberner Mond erstarrte / über der Silbernen Zeit. / Da von allen erdenklichen Stellen / und zu allen erdenklichen Schwellen / ein schleichender Schatten kroch, / rupfte der Wind an Plakaten, / ließ hüpfen die Rauchschwaden, / und nach Friedhof der Flieder roch."

Im kürzeren zweiten, mit "Die Kehrseite" überschriebenen Teil des "Poems" wird ein anderer, fast sachlicher Ton angeschlagen. Die Handlung spielt nun im Januar 1941, erneut in Petersburg im Fontanny-Haus, und die Verse wirken zunächst wie ein Kommentar zum Vorausgegangenen ersten Teil. Hierein mischt sich aber schon bald eine andere Linie, die in selbstreflexiver Manier das poetische Schaffen Achmatowas wie auch der Dichtung insgesamt aufgreift. Anspielungen auf den zeitlichen Kontext (Krieg, Zensur, Armut) und Anspielungen auf die künstlerische Tradition werden ebenfalls erneut eingeflochten. So heißt es z. B.: "Ich sollte in offiziösen / Hymnen mich selber auflösen? / Behalt deinen Totenornat! / Ich werde in kommenden Tagen / Sophokles' Leier schlagen, / nicht Shakespeares: Das Schicksal naht."

Den Abschluss des "Poems" bildet schließlich als dritter Teil der "Epilog", der in der "Weißen Nacht" des 24. Juni 1942 erneut in Petersburg im Fontanny-Haus situiert ist. Die Verse durchzieht das Bild des zerstörten Petersburg und das Bewusstsein, am Nullpunkt der Kultur und Geschichte angekommen zu sein. In dieses mischt sich schließlich die bange Frage nach der Zukunft Russlands, die in einem geradezu expressionistischen Bild zum Schluss eingefangen wird: "Und ich sah jenen Weg, den langen, / den so viele zuvor gegangen, / wie in Trauerprozession, / über die würdevollen / erstarrten Sibirischen Schollen. / Dort führten sie einst meinen Sohn ... / Und von tödlicher Angst getrieben, / es könnte zu Staub zerstieben, / mit wachsendem Widerstand, / die getrockneten Augen senkend / und sich die Arme verrenkend, / schritt gen Osten das russische Land."

Die den Haupttext des "Poems" ergänzenden, in der Neuedition beigefügten Strophen gewähren im Anschluss einen weiteren Einblick in die Genese des "Poems" und in die schwierige Situation der Achmatowa in einer Zeit der Diktatur und Zensur. Es wird hier nochmals deutlich, dass sich für Anna Achmatowa das literarisch-kulturelle Erbe Russlands und Europas als ein Resonanzraum, als imaginärer Ansprechpartner, Reflexionsfolie und Unterpfand der Zukunft generiert hat, ohne sich dadurch ganz in die Kunst zu flüchten. Dieser Versuchung wie auch dem Druck der Diktatur hat Anna Achmatowa stets zu widerstehen gesucht. So schreibt sie in einer selbstreflexiven Wendung: "Der Feind versucht sie: 'Nun sage!' / Aber kein Wort, keine Klage / entfährt ihr. Jahrzehntelang / Hinrichtung, Folter, Verbannung. / In dieser furchtbaren Spannung / ist mir nicht nach Gesang."

Aufgrund dieser "furchtbaren Spannung" ist das "Poem ohne Held" insgesamt ein poetischer Text, der Gedenken und Erinnern (pomnit' i vspomnit'), Literatur und Zeitgeschehen in ästhetisch ausgefeilter Weise miteinander verbindet und verdichtet. Die Verse sind zugleich Schilderungen individueller Erfahrungen und historischer Ereignisse wie auch kulturelles Gedächtnis. Denn: "Zukunft muss am Vergangnen sich nähren, / das Verfloss'ne im Kommenden gären: / Schreckensfeier des Laubs, das verblich."

Die nun vorliegende Neuübersetzung des "Poem ohne Held", ermöglicht es, sich nicht nur jenem bedeutenden literarischen Text zu widmen, sondern auch einen Einblick in die Genese und den zeitgeschichtlichen Kontext zu gewinnen. Neben dem "Poem" selbst, das parallel auf Russisch und Deutsch abgedruckt worden ist, finden sich die Anmerkungen des damaligen Redakteurs und zudem zahlreiche ergänzende Strophen. Zum einen Verse, die von Anna Achmatowa in der autorisierten Form des "Poems" ausgelassen worden sind, zum anderen Strophen, die parallel oder erst später, doch in engem Bezug zum "Poem" entstanden sind. Kurze, aber informative Anmerkungen des Übersetzers Alexander Nitzberg ergänzen schließlich die Anmerkungen des Erstredakteurs, und ein Nachwort zu Anna Achmatowas Biographie und Werk von Johanne Peters gibt dem Leser weitere wesentliche Hintergrundinformationen an die Hand. Angesichts dieser soliden und gut lesbaren Edition sei jedem, der sich für Lyrik - und insbesondere für die russische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts - interessiert, die Neuübersetzung des "Poem ohne Held" von Anna Achmatowa nachdrücklich empfohlen.

Titelbild

Anna Achmatowa: Poem ohne Held.
Übersetzt aus dem Russischen von Alexander Nitzberg.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2001.
125 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3933749387

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