Gedächtnis oder Erinnern

Aleida Assmanns Habilitationsschrift "Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses"

Von Michael SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es begann mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen." So heißt es in Steven Greenblatts "Verhandlungen mit Shakespeare", und weiter: "Selbst als ich erkannte, daß noch in den intensivsten Augenblicken angestrengten Lauschens mir nur meine eigene Stimme entgegenraunte, mochte ich nicht von meinem Wunsch ablassen." Aleida Assmann zitiert Greenblatt in einer zentralen Passage ihrer Habilitationsschrift, die in überarbeiteter Form unter dem Titel »Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses« bei C.H.Beck in München erschienen ist. In Greenblatts Worten klingt an, was unser gegenwärtiges Verhältnis zur Vergangenheit bestimmt: das Bewußtsein der unaufhebbaren Distanz, die nur durch interpretierende, auswählende und gewissermaßen rekonstruierende Annäherungen überbrückt werden kann; eine melancholische Komponente, weil solches Erinnern mit dem Wissen um einen Verlust einhergeht; und eine verunsichernde Erfahrung, denn Erinnerung ist nichts Statisches, sie dient zwar der Selbstvergewisserung, vermag aber das Bild vom eigenen Herkommen niemals eindeutig festzulegen.

Die »Erinnerungsräume« von Aleida Assmann sind gewissermaßen das Pendant zu den Untersuchungen ihres Ehemannes und Ägyptologen Jan Assmann, der 1992 seine resonanzreiche Schrift über "Das kulturelle Gedächtnis" vorlegte. Beide haben zudem immer wieder gemeinsam zu aktuellen politischen Fragen im Umgang mit der bundesdeutschen Vergangenheit Stellung bezogen. Beschäftigung mit dem "kulturellen Gedächtnis" ist also nicht nur kontemplierende oder gar nostalgische Selbstbespiegelung, sondern immer auch das Ausmessen von aktuellen Handlungsspielräumen. Während sich Jan Assmann in seinem Buch aber auf die Genese der Schrift - als dem Medium der Gedächtnis- und Erinnerungsformen - in den mittelmeerischen Hochkulturen und auf den zunehmend reflexiven Umgang mit dem archivierten Wissen in der griechischen und jüdischen Kultur konzentriert, richtet Aleida Assmann ihren Blick vor allem auf das kulturelle Gedächtnis in der Neuzeit. Sie will möglichst viele "Ansichten auf das komplexe Erinnerungsphänomen" ermöglichen und dabei "Entwicklungslinien und Problemkontinuitäten" aufzeigen. Der Anreiz für ihre Fragen sind zeitgenössische "Gedächtniskrisen": beispielsweise die Umstellung der traditionellen auf digitale Speichermedien, die zwar einerseits das unendliche Archivieren ermöglichen, andererseits aber den gezielten Zugriff eher erschweren; oder die Wandlung im Umgang mit dem Holocaust, weil das "Erfahrungsgedächtnis der Zeitzeugen" in das kollektive Gedächtnis der Nachgeborenen überführt werden muß.

Diese betont aktuelle Akzentuierung - die allerdings nicht bedeutet, daß sie auch umstandslos die verbreiteten kultur- oder wertkonservativen Positionen teilt - prägt das gesamte Buch. Aleida Assmann hält sich nicht lange mit den möglichen Unterschieden zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis und ihren Vermittlungsinstanzen auf. Ihr genügt auch ein relativ kurzer Rückgriff auf Denkmuster der Antike, um das "Gedächtnis", die Kunst des zuverlässigen Memorierens, vom aktiveren "Erinnern" zu unterscheiden: Das Gedächtnis funktioniert wie ein Speicher und klammert Historizität aus, das Erinnern hingegen mobilisiert die Zeiterfahrung, wählt aus und konstruiert im weitesten Sinne ein "interessegeleitetes" Bild der Vergangenheit. Sie unterscheidet dabei zwischen einem "Speichergedächtnis", das prinzipiell alles verfügbare Wissen enthalten kann, und einem "Funktionsgedächtnis" als dem "gleichmäßig ausgeleuchteten Raum" des aktiv Erinnerten.

Die Dynamik dieser Erinnerungsprozesse verfolgt Aleida Assmann sodann auf verschiedenen, eng miteinander verknüpften Ebenen, ständig pendelnd zwischen kursorischen Schilderungen langfristiger Entwicklungen und eingehend gedeuteten Beispielen. Sie fragt nach den Funktionen der Erinnerung im Prozeß der Nationenbildung und nach deren Inszenierungen sowie nach dem Stellenwert der Gedächtnisorte, die in mancher Hinsicht nicht weniger flüchtig und erklärungsbedürftig erscheinen. Sie findet in Kunst, Literatur und Philosophie seit der Romantik das wachsende Bewußtsein von der "Zeit als Wunde", das Gefühl des Verlusts und des Ausbleichens der Gegenwart, und beschreibt, wie dies nach und nach auch auf den Umgang mit den Medien abfärbt, in denen sich Erinnerung bewahren läßt: Das Vertrauen in die Schrift schwindet schon im 17. Jahrhundert angesichts der Flut der Druckerzeugnisse; wenig später müssen Bild und Schrift zudem um ihre Glaubwürdigkeit als Zeugnisse konkurrieren.

Gedächtnis und Erinnerung, genauso wie ihre Speicher und Medien, werden zunehmend prekär. Folgt man Aleida Assmann, dann liegt das auch daran, daß gegenwärtig vor allem die Schrift nach einer langen Phase der unbestrittenen Dominanz durch die Digitalisierung der Kommunikation zum erstenmal als "geschichtliches" Phänomen erkennbar geworden sei - und daß damit ihre gesamte Metaphysik in Frage stehe. Was das genau heißen könnte, wird jedoch nicht weiter ausgeführt. Aleida Assmann will weder eine Theorie der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses vorlegen, noch vermag sie offene Fragen der Gegenwart schlüssig zu beantworten. Wie auch? Das Buch gelangt damit allerdings wieder an seinen eigenen Ausgangspunkt zurück. Diese Unentschiedenheit ist ihm in manchen Rezensionen in harten Worten vorgehalten worden - und in einem gewissen Sinne fallen die "Erinnerungsräume" tatsächlich dem "Dunkel des gelebten Augenblicks zum Opfer": Sie bieten eine reiche Zusammenschau kultureller Entwicklungen und Phänomene, aber sie schlagen keine Bresche für eine neue Sicht auf diese Dinge.

Titelbild

Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
Verlag C.H.Beck, München 1999.
420 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3406446701

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch