Polyphone Kommunikation zwischen den Kulturen

Das "Metzler Lexikon jüdischer Philosophen" bietet 189 intellektuelle Profile von der Antike bis in die (Post-)Moderne

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit 'jüdischer Philosophie' erlebt seit einigen Jahren eine nicht zu übersehende Blüte. Während man im amerikanischen Diskurs unter dem Terminus 'jüdische Philosophie' vor allem das Jüdisch-Sein der Philosophen versteht, was zur Folge hat, dass auch Max Horkheimer oder Edmund Husserl zu den jüdischen Philosophen gezählt werden, konzentriert sich die Beschäftigung mit jüdischer Philosophie in deutschsprachigen Forschungsarbeiten auf Themen, die, mit Ausnahme der Arbeiten von Jacob Taubes, von rein philosophiegeschichtlicher Relevanz waren oder sind. Weder wurde in den deutschsprachigen Arbeiten der Nachkriegszeit an die vor dem Krieg vehement diskutierte Frage nach dem "Wesen des Judentums" angeknüpft, noch ließ sich eine philosophische Diskussion über die Stellung der jüdischen Tradition zur Philosophie beobachten, wie sie etwa von Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida und André Neher in Frankreich provoziert wurde.

Was nun aber konkret unter 'jüdischer Philosophie' zu verstehen ist, lässt sich meistens nur ex negativo formulieren. So verweist etwa Friedrich Niewöhner darauf, dass die Geschichte des Begriffs nicht identisch mit dem sei, was heute zumeist als Geschichte der jüdischen Philosophie bezeichnet wird. Es sei vielmehr gar zu vermuten, dass der heute verwendete Begriff 'jüdische Philosophie' eine Erfindung der Historiker dieser Teildisziplin der Judaistik ist, die mit der Prägung dieses Terminus eine jüdische Philosophie überhaupt erst zu etablieren suchten. Für Giuseppe Veltri verweist die Frage nach der Existenz und dem Wesen der 'jüdischen Philosophie', die zum ersten Mal von Vertretern der deutschen Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert aufgeworfen wurde, unmissverständlich auf einen anderen, damit jedoch unmittelbar verbundenen Aspekt: den des jüdischen Selbstverständnisses. Oder um es mit Veltri noch zuzuspitzen: "Je mehr der jüdische Zugang zur Philosophiegeschichte hervorgehoben bzw. verneint wird und die Thematisierung des Objektes in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion tritt, desto radikaler stellt sich die Frage nach Bestand, Wesen und Identität der jüdischen im Verhältnis zur allgemeinen Kultur". Die Wahrnehmung dieses dialektischen Verhältnisses hat dazu geführt, dass einige als "spezifisch" angesehene Sektoren der jüdischen Geistes- und Kulturgeschichte, wie z. B. die jüdische Mystik (Hekhalot-Literatur, Kabbala, Chassidismus, Magie usw.), als elementare Bestandteile des philosophischen Diskurses betrachtet wurden. Verfolgt man diese Entwicklung bis in die Romantik oder sogar bis in die Renaissance zurück, so lässt sich ermessen, wie sehr die verschiedenen, teilweise einander widersprechenden Strömungen den Begriff 'jüdische Philosophie' zum Zweck der Auflösung des Jüdischen in das Allgemeine oder vice versa zur Hervorhebung des genuin jüdischen im Gegensatz zum allgemeinen Wissen instrumentalisiert haben. Diese Tendenz lässt sich auch in dem vor kurzem erschienenen Sammelwerk "History of Jewish Philosophy" (1997) entdecken, in dem verschiedene Autoren die historischen, soziologischen und ideengeschichtlichen Voraussetzungen des jüdischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart beleuchtet haben. Hier wird nicht nur die Mystik, sondern auch Geschichtsverständnis, Zionismus und Shoah in die jüdische Philosophiegeschichte integriert. Folge davon ist, dass sich der Terminus derart ins Unbestimmte und Vage auflöst und damit nicht unwesentlich an historisch-philosophischer Konsistenz verliert.

Einen deutlich anderen Ansatz verfolgt das von Andreas B. Kilcher und Otfried Fraisse unter Mitarbeit von Yossef Schwartz herausgegebene "Metzler Lexikon jüdischer Philosophen", das sich weniger um die 'jüdische Philosophie' unter historiographischen Fragestellungen kümmert, sondern vielmehr ein Feld philosophischen Denkens neu zu kartieren hilft, das 1933 von den Nationalsozialisten ausgegrenzt, später weitgehend vergessen und in einer derart umfassenden Übersicht in deutscher Sprache seitdem nicht beschrieben wurde: das philosophische Denken des Judentums. In der äußerst instruktiven Einleitung und den 189 Porträts von Philon von Alexandrien bis Jacques Derrida und Sarah Kofman geht es, wie Kilcher einleitend unterstreicht, nicht um ausschließlich biographisch-bibliographisch orientierte Artikel, sondern um "intellektuelle Profile, d. h. um die vielfältigen philosophischen Interpretationen des Judentums im Spiegel der theologischen und philosophischen Bestimmung der jeweiligen Denker und Denkerinnen". Auch Kilcher tut gut daran auf eine endgültige Definition dessen, was 'jüdische Philosophie' oder wer ein 'jüdischer Philosoph' ist, zu verzichten. Stattdessen geht es ihm und seinen Mitstreitern darum, die unterschiedlichen Beschreibungs- und Deutungsmöglichkeiten von jüdischer Philosophie aufzuzeigen, wie sie insbesondere in der jüdischen Moderne seit dem 19. Jahrhundert, auf die sich der Band dann auch im Wesentlichen konzentriert, entwickelt wurden. Es geht Kilcher folglich um Begriffsgeschichte und Diskursanalyse der 'jüdischen Philosophie', d. h. um "eine historisierende und kontextualisierende Analyse der Rede von 'jüdischer Philosophie'". Die hier ansichtig werdende Vieldeutigkeit des Terminus beruht auf der Vieldeutigkeit des Judentums insgesamt, dessen kulturelle Formen der Reflexion ("jüdische Theologie", "jüdische Philosophie") und der Symbolisierung ("jüdische Literatur", "jüdische Kunst") sich zwar als hochgradig deutbar, aber nicht definierbar erweisen. Nach Kilcher kann es folglich nicht darum gehen, ein bestimmtes Denken festzuschreiben, sondern gerade umgekehrt die Pluralität der Möglichkeiten aufzuzeigen, das Judentum philosophisch zu interpretieren, was allerdings eine wichtige Präzisierung notwendig macht: Der Begriff 'jüdische Philosophie' soll zugleich als genitivus objectivus ("Philosophie des Judentums", ein "Denken des Judentums" mit 'Judentum' als Objekt) wie auch als genitivus subjectivus (eine "jüdische Philosophie", ein "jüdisches Denken" mit 'Judentum' als Subjekt) verstanden werden. Daraus leitet Kilcher den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen ab, was als 'jüdische Philosophie' zu definieren ist: "'Jüdische Philosophie' ist philosophisches Denken von Juden über das Judentum".

Dem entspricht auf der inhaltlichen Ebene eine Maximalbestimmung, die die unterschiedlichsten Interpretationen dessen zulässt, was als Judentum gelten soll (religionsphilosophische, metaphysische, ethische, kulturelle, ästhetische, politische etc.). Diesem Verständnis nach gibt es nicht die Philosophie des Judentums, sondern unterschiedliche Philosophien des Judentums. Dieser Pluralisierung und Subjektivierung wird das Lexikon mustergültig gerecht, indem es philosophische Einzelporträts erstellt, ohne einen größeren Zusammenhang schon vorauszusetzen, von dem das am einzelnen Gegenstand oder an einzelnen Personen Beobachtete nur als Ableitung oder Beispiel der vorher gegebenen Definition zu werten wäre. Diskursive Zusammenhänge, die natürlich zweifelsohne bestehen, werden somit erst in den einzelnen Porträts und damit unter den individuellen Perspektiven der Bearbeiter und induktiv aufgezeigt. Was die 'jüdische Philosophie' unter dem Strich auszeichnet, ist die polyphone Kommunikation zwischen den Kulturen auf der Ebene des Denkens, auch wenn einige nicht unbedeutende Stimmen des philosophischen Diskurses der Moderne fehlen. So wurde auf der einen Seite auf die Aufnahme von Vertretern eines rein theologischen oder gar orthodoxen Verständnisses des Judentums, d. h. der rabbinischen, talmudischen und halachischen Literatur bzw. ihrer Autoren, aus gutem Grund verzichtet. Zum anderen wurde eine ebenfalls gut begründete Grenze des Lexikons bei denjenigen Autoren gezogen, die zwar Juden sind, das Judentum jedoch nicht oder nur marginal zum Gegenstand ihres Denkens gemacht haben. Dem entsprechend fehlen einige bekannte Namen des bereits von Niewöhner und Veltri scharf kritisierten Diskurses "Juden in der europäischen Philosophie", wie Edmund Husserl, Ernst Cassirer, Henri Bergson, Karl Popper, Max Scheler, Karl Löwith und viele andere mehr.

Die Konzentration der Herausgeber auf diejenigen jüdischen Denker, die ihr Judentum philosophisch reflektieren bzw. Elemente der jüdischen Theologie in den philosophischen Diskurs der Moderne transferieren bzw. integrieren, ist einleuchtend und plausibel begründet und schärft die Wahrnehmung der schier unglaublichen Vielfalt jüdischer Denkmodelle von der Antike bis in die (Post-)Moderne. Das große Verdienst dieses Lexikons liegt allerdings nicht nur in der Vielzahl kenntnisreicher, informativer und gut lesbarer Artikel, die ihm zukünftig einen unbestreitbaren Platz in den Forschungsdebatten sichern werden, sondern auch in der unumgänglichen Bescheidenheit, auf eindeutige und endgültige Definitionen zu verzichten. Lediglich ex negativo lässt sich formulieren, was als 'jüdische Philosophie' gelten kann: "der weite und produktive Zwischenraum zwischen Tradition und Säkularisation und zwischen Eigenem und Fremdem, jenseits von Eindeutigkeiten einer rein theologischen oder einer universalistisch-säkularen Position". In exakt jenem Zwischenraum zwischen den Kulturen verortet das Lexikon jüdische Denker aus zweitausend Jahren und schreibt damit jenen produktiven Ansatz fort, dem sich bereits das "Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur" verschrieben hat, in dem das Feld deutsch-jüdischen (literarischen) Denkens seit der Aufklärung ebenfalls in einer interdependenten Bewegung von Entfernung und Annäherung an die eigene Tradition und an fremde Kulturen bestimmt wurde. Diese beiden großartigen Lexikonprojekte haben jedwede zukünftige Debatten über jüdisches Denken in Literatur und Philosophie endlich auf eine solide Grundlage gestellt.

Titelbild

Andreas B. Kilcher / Otfried Fraisse (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
476 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-10: 3476017079

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