Geschichtswissenschaft als Kulturgedächtnis

Lutz Niethammer zeigt sich in seinen gesammelten Beiträgen zur Zeitgeschichte auch als Theoretiker der Erinnerung

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hindert uns daran, "die Geschichtswissenschaft als einen Teil, und zwar als einen zunehmend dominierenden Teil des Kulturgedächtnisses zu verstehen"? Diese fast rhetorische Frage stellt Lutz Niethammer in einem seiner verstreut veröffentlichten Beiträge zur Zeitgeschichte, die anlässlich seines 60. Geburtstags gesammelt als Buch erschienen sind. Jene Vorträge und Aufsätze, die den Begriff "Gedächtnis" oder "Erinnerung" im Titel tragen, stammen alle aus den neunziger Jahren. Damit scheinen diese Arbeiten symptomatisch für jüngere Interessenschwerpunkte der deutschen Geschichtswissenschaft zu sein.

Niethammer gehört allerdings zu den Historikern, die mit "Gedächtnis" schon Jahre, bevor es zum kulturwissenschaftlichen Modethema wurde, befasst waren. 1980 gab er den Band "Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis" heraus, mit dem er in Deutschland die "Oral History" zu etablieren half. Als er von 1989 bis 1993 Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen war, leitete er dort zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel die Studiengruppe "Gedächtnis". Entsprechend kompetent zeigen sich alle hier abgedruckten Beiträge zu diesem Problemkomplex. Und man liest sie auch da mit Gewinn, wo ihnen die improvisierte Mündlichkeit des Vortrags noch deutlich anzumerken ist. Kenntnisreich, differenziert und auf hohem interdisziplinären Niveau behaupten sie gegenüber anderen kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschungen ihr eigenständiges Profil.

Essentialistische Vorstellungen von wahrer Erinnerung sind Niethammer ebenso suspekt wie radikal konstruktivistische Relativierungen aller Aussagen über Vergangenes. Erinnern begreift er "als ein plurales Zusammenwirken unterschiedlicher Organe mit je eigener inhaltlicher Sensibilität und eigenen Äußerungsformen"; er veranschaulicht das unter anderem mit vergleichenden Hinweisen auf Inszenierungen von Erinnerungsaktivitäten bei der Zeugenschaft vor Gericht, der Beichte in der Kirche oder der freien Assoziation auf der Couch.

Das Konzept kollektiver Erinnerungen hat in seiner häufigen Kombination mit der Rede von kollektiven Identitäten allerdings durchaus seine Schattenseiten. Niethammer benennt sie mit wünschenswerter Deutlichkeit. Seit der Öffnung der Berliner Mauer, also zeitlich parallel zur Konjunktur des Begriffs "kulturelles Gedächtnis", seien kollektive Erinnerungen und Identitäten unter nationalkonservativen Vorzeichen ihres pluralen Gehaltes, der in der spannungsvollen Balance bestehender Differenzen liegt, vielfach beraubt worden. Bei den Adressaten werde dabei ein schlechtes Gewissen geweckt, wenn sie "nicht mit irgendeinem Kollektiv 'identisch' sind, vielmehr die Unterschiedlichkeit ihrer simultanen Zugehörigkeiten zu verschiedenen Herkunftstraditionen, Institutionen, Gruppen, Beziehungen und Handlungszusammenhängen fühlen, aus denen erst Freiheit erfahren und jeweilige Verständigung versucht werden kann." Wo die identitäts- und sinnstiftende Funktion des kulturellen Gedächtnisses hervorgehoben wird, geht dies oft mit der problematischen Klage über den Schwund des Gemeinschaftsgefühls und dem rhetorische Appell zur Überbrückung sozialer Zerklüftung, bei gleichzeitigem Einverständnis mit den marktwirtschaftlichen Liberalisierungsprozessen, einher.

Eben das ist es, was die Geschichtswissenschaft daran hindern könnte, sich als "Teil des Kulturgedächtnisses" zu verstehen. Der Hinderungsgrund entfällt jedoch, wenn das Gedächtnis als "plurales Instrumentarium und Voraussetzung unseres Denkens" aufgefasst wird. Niethammer verbildlicht sein Konzept historischer Forschung im Rückgriff auf Freuds Unterscheidung von "Bewußtem" und "Vorbewußtem". Auf die Geschichte und auf die Geschichtswissenschaft übertragen, wäre das "Bewußte" dann das "gesellschaftlich Überlieferungsfähige, die historischen Synthesen und Symbolisierungen, die Curricula der geschichtlichen Unterweisung in den Schulen und die Programmgestaltung der historischen Inhalte, kurz: der jeweils approbriierte Sinn der Geschichte. Das Vorbewußte aber wäre dann der noch nicht in die Traditionsbildung einbezogene Überrest, die überlieferte, aber noch nicht gelesene Quelle". Historische Forschung, die diesen Namen verdient, sei immer traditionskritisch. "Sie will die herrschende Überlieferung des Bewußtseins durch die Erschließung und Mobilisierung des Vorbewußten, die verfügbaren, aber noch nicht gelesenen Quellen herausfordern, kritisieren, korrigieren und manchmal auch, aber dann wird es wirklich langweilig, bestätigen."

Titelbild

Lutz Niethammer: Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis.
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1999.
623 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 380125027X

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