Der Preis der westlichen Welt

John Gray analysiert politische und soziale Probleme des Geistes der westlichen Moderne

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um den vielfach gebrochenen Geist der Gegenwart zu erfassen, schuf Ernst Bloch vor Jahrzehnten bereits den Begriff der "ungleichzeitigen Gleichzeitigkeiten". Zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist so viel materieller Reichtum angesammelt, der sich so wenig wie noch nie an der Finanzierung von Gemeinwohl beteiligt, dass auch so viel Armut und Elend wie noch nie aufzufinden ist. Im Gegenteil: aktuelle Politiken sorgen sich allesamt um die bessere Ausbeutung von abhängig Beschäftigten, die Kürzung von Leistungen für diejenigen, die gänzlich marginalisiert sind, oder verweigern Schutz und Hilfe denen, die vor Gewalt und Armut auf der Flucht sind. Diese scheinbaren Gegensätze haben sich zur Kampfzone des modernen Zeitalters herauskristallisiert - eine Auseinandersetzung, deren militärische Qualität angesichts technischer Entwicklung bislang ungekannte Dimensionen ausprägte.

Zum Kampf der Ideen dieser Auseinandersetzung auf weltpolitischem Niveau lädt der britische Politikwissenschaftler John Gray allerlei Schwergewichte in den Ring der Moderne. Da stehen sich Christentum und Islam, Faschismus und Kommunismus, Positivismus und Neoliberalismus gegenüber. Der Autor wählt die Waffen und bestimmt den manchmal unglücklichen Ton der Auseinandersetzung, den selbst der Umstand eines zusammenfassenden Essays nicht überdeckt. Darin geraten die Positionen von Marx und des Sowjet-Kommunismus in eins, die sich überdies eigentümlicherweise noch mit dem Gedanken des Neoliberalismus überdecken. Faschismus und Kommunismus werden generell in einem Atemzug genannt und der radikale Islam und al-Qaida rücken ebenfalls bedenklich aneinander heran. Wirklich erhellendes oder originelles findet sich eher nicht.

Feiner werden Grays Striche bei der Analyse der Rolle der USA und ihrer gegenwärtigen Regierung, deren christlich-messianischen Eifer die Welt notfalls mit brutalem Zwang nach ihrem Ebenbild zu modellieren er verurteilt. Gleichzeitig stellt er fest, dass die militärische Strategie der Präventivschläge grade an Orten, an denen das modern-westliche Projekt des Nationalstaates gescheitert ist, wirkungslos verhallt und schlimmstenfalls kontraproduktiv wirkt. Eine moralische Verurteilung deutet Gray höchstens an, während er gleichzeitig angesichts der desaströsen Wirtschaftsorganisation und der Wandlung von einer produzierenden in eine hauptsächlich konsumierende Gesellschaft in Emmanuel Todds Abschiedsrufe auf die Weltmacht einstimmt: "Die mittelfristigen Aussichten für die USA, ihre Position als einzige Supermacht zu behaupten, sind nicht sehr gut."

Allerdings wären diese Stellen allesamt wirkungsvoller, würde der Professor von der London School of Economics empirisches Material in seine Darstellung einfließen lassen. Die vielfach gehörte Darstellung, dass geopolitische Strategien im Kampf um Öl und Süßwasservorkommen die militärischen Auseinandersetzungen der Gegenwart und der Zukunft prägen, wiederholt Gray als reines Postulat. Von der Notwendigkeit des ungebremsten Kapitalzuflusses in die US-Ökonomie haben wir auch schon gelesen. Sicherlich, Gray hat einleuchtende Gründe für seine Analyse von Weltmachtpolitik der USA im Kontext einer völlig verrutschten Energiepolitik; seine Forderung nach Liberalisierung von Drogen und die Zurückweisung des neoliberalen Paradigmas sind zweifellos richtig, allerdings hält einer solchen Darstellung etwa der ehemalige "Wallstreet-Journal"-Redakteur und Vorzeige-Publizist des ungebremsten Patriotismus, Max Boot, leichtfüßig die dummdreiste Parabel entgegen: "Die Vorstellung, wir könnten einen Krieg für Öl führen, ist fast ebenso absurd wie die Idee, wir könnten einen Krieg für Käse führen."

Grundsätzlich ist es Grays Anliegen, und darin wirken sein Ansinnen klar und seine Argumente nachvollziehbar, den Mythos der einen, gleichförmigen westlichen Moderne dekonstruieren. Hier umfasst er gleich das Phänomen des Terrorismus als immanentes Problem der Moderne und keineswegs als gegen diese gerichtet. Das Gerede von PolitikerInnen und JournalistInnen mit al-Qaida einen "Anschlag auf die Moderne", oder die Zivilisation selbst vorzufinden, wird von Gray mühelos entkräftet. Jede Zuweisung des Anti- oder Vormodernen, bzw. im eigentlichen Sinne der Barbarei, aus dem globalen Anspruch dieses Terrorismus herauszulesen, ist nichts weiter als die Fortschreibung des arroganten Verständnisses von der Einförmigkeit als Ziel westlicher Modernisierung. Gray geht es um die Betonung kultureller und wirtschaftlicher Differenzen als Spielarten der Moderne. Dabei legt er den durchaus modernen und westlich geprägten Typus von Ideologie, Taktik und Strategie der Auseinandersetzungsform des dezentralisierten Terrornetzwerkes al Qaida frei. Ohne freilich viel Neues zu verraten: sein Wissen entstammt einigen bekannten Büchern etwa des al-Qaida-Experten Rohan Gunaratnas und der führenden Islamwissenschaftlerin Malise Ruthven.

In der Aufzählung der handelsüblichen Analysen, die Überbevölkerung und Unterentwicklung als Nährboden für den radikalen Islam erkennen, im positivistischen Irrglauben durch neoliberale Umstrukturierung und wissenschaftliche Entwicklung Staat und Markt so arrangieren wollen, dass sich Wohlstand und Friede für wachsende Bevölkerungsteile ergäbe, stellt Gray ein beeindruckendes Bild realistischer Apokalypsen zusammen. Seine behende durch die Weltgeschichte eilende, gut leserliche Einführung in die modernen Probleme und ihre theoretischen Hintergründe kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass "die Zukunft der Menschheit [...] geprägt sein [wird] von steigenden Bevölkerungszahlen, dem sich verschärfenden Wettbewerb um die natürlichen Ressourcen und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Jeder einzelne dieser Faktoren ist eine Begleiterscheindung unserer gewachsenen wissenschaftlichen Erkenntnis. Im Zusammenspiel mit historischen, ethnischen und religiösen Feindseligkeiten künden sich darin Konflikte an, die denen des zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer zerstörerischen Kraft durchaus ebenbürtig sein." Wir müssen es ihm leider glauben.

Titelbild

John Gray: Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker.
Verlag Antje Kunstmann, München 2004.
175 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3888973554

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