Das positionale Moment des Schreibens

Daniel Weidner untersucht Scholems politische, esoterische und historiographische Schreib(weis)en

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rolf Tiedemann berichtet in seiner "Erinnerung an Scholem", dass der Ruf, der diesem in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts am Institut für Sozialforschung vorausging, "niemanden mehr erstaunt [hätte] als Scholem selbst. Es war der uneingeschränkter Autorität, ohne daß man so recht hätte sagen können: Autorität wofür. Natürlich für die Geschichte der Kabbala, aber von der wußten wir kaum etwas". Walter Benjamin bemerkte in einem Brief an Scholem, "lebendiges Judentum" habe er "in durchaus keiner anderen Gestalt kennengelernt als in Dir". Im letzten Jahrzehnt sind die Texte Gershom Scholems weit über den engen Kreis der Judaisten hinaus rezipiert worden und haben eine erhebliche Resonanz in der Religions-, Geschichts- und Sprachphilosophie sowie in der Literaturwissenschaft gefunden. Dabei hat sich ein intellektuelles Mosaik ausgebildet, hinter der die Texte, aber auch die Person Scholems immer mehr zu verschwinden scheinen: Scholem als Historiker der Kabbala, früher Zionist, scharfer Kritiker der jüdischen Akkulturation, Freund und Herausgeber Benjamins, scharfsinniger Interpret der Texte Kafkas und vor allem als eine der schillernden Figuren im intellektuellen Diskurs der ersten wie auch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Vor allem die in den letzten Jahren veröffentlichten Jugendtagebücher und -briefe fundieren, dass Scholems hoher Bekanntheitsgrad als Erforscher der jüdischen mystischen Tradition, als kritischer und kreativer Denker des modernen Judentums antithetisch auf einer radikalen Ablehnung all dessen gründet, was das deutsch-jüdische Bürgertum des 19. Jahrhunderts als Errungenschaft verbuchte: Politik, Kultur und Wissenschaft der Akkulturation. Damit stellte sich Scholem der kulturellen Disposition seiner Familie entgegen, die, wie er in seinen autobiographischen Aufzeichnungen "Von Berlin nach Jerusalem" notierte, "den Weg von der traditionellen jüdisch-orthodoxen Lebensweise [...] bis zur weitestgehenden Assimilation an die Lebensart der Umgebung zurücklegte". Darin sah Scholem, wie er rückblickend konstatierte, nichts weniger als die "Tragik" der deutschen Juden überhaupt: ihre "Selbstaufgabe", ihren "Selbstbetrug". Die "deutsch-jüdische Symbiose", wie sie etwa Hermann Cohen forderte, erkannte Scholem als eine "unglückliche Liebe", schlimmer noch: als "einen wahren Schrei ins Leere", wie er 1964 in seinem Aufsatz "Wider den Mythos des deutsch-jüdischen Gesprächs" kompromisslos formulierte. Als Scholem 1982 85jährig kurz nach seinem Aufenthalt als einer der ersten Fellows des Berliner Wissenschaftskollegs starb, hinterließ er ein immenses Text-Korpus. Die Bedeutung Scholems, die sich auch daran erkennen lässt, dass er mittlerweile geradezu als "Klassiker" (Joseph Dan) des modernen jüdischen Denkens gelesen wird, geht jedoch weit über die Erforschung der Kabbala im engeren Sinne hinaus. Vor allem für viele nichtjüdische Intellektuelle und Schriftsteller beschwor Scholem, wie Amos Funkenstein anmerkte, "das willkommene Bild eines nicht-nur-halachischen, kreativen und dennoch durch-und-durch-authentischen Judentums. Er lud [...] zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise, zu einer kreativen Rekonstruktion einer mythopoetischen Symbolwelt" ein, die zudem die Prämissen eines modernen Judentums, eines modernen Denkens überhaupt, dadurch garantierte, dass Scholem den "Gegensatz zwischen Tradition und Säkularisierung dialektisch und nicht bloß antithetisch aufgefaßt" hat. Scholems Kabbala erweist sich, wie zuletzt Andreas Kilcher treffend bemerkt hat, als ein "Judentum, das sich wie kein anderes der Moderne öffnet, indem es gerade ihre Brüche in den zugleich theologischen, existentiellen und ästhetischen Dispositiven des Exils, des Traditionsverlustes, ja selbst des Nihilismus mitdenken ließ".

Entscheidend für Scholems intellektuelles Profil, so wird allerorten versichert, sei in erster Linie auch seine Freundschaft mit Walter Benjamin seit Juli 1915 gewesen. Das bezieht sich nun keineswegs nur auf den intellektuellen Austausch, auch als Person hat Benjamin eine wichtige Funktion als imaginärer Gefährte, was insofern zumindest bemerkenswert ist, als für den jungen Benjamin weder sein Judentum noch gar der Zionismus auch nur annähernd so zentral waren wie für Scholem. Es ist vermutlich eine eigene Arbeit vonnöten, um das Verhältnis von Scholem und Benjamin auch nur annähernd auszuleuchten, jene Gemeinsamkeit der Einsamen, die selber auf einer immens komplizierten Taktik und Rollenverteilung beruht. So schwierig es für die Interpretation des intellektuellen Profils Gershom Scholems auch zu sein scheint, ganz von Benjamin abzusehen, so groß ist die Gefahr, Kryptisches mit möglicherweise noch Kryptischerem zu erklären.

Diese Gefahr hat Daniel Weidner, dem die Forschung eine der inspiriertesten Arbeiten der letzten Jahre zu Scholem verdankt, noch rechtzeitig erkannt, da dessen Untersuchung sich ursprünglich ausschließlich dem Verhältnis zwischen Benjamin und Scholem widmen wollte. Stattdessen hat er sich dazu entschlossen, Scholem dezidiert unabhängig von Benjamin zu lesen, "in dessen Schatten er zu lange gestanden hat und auf den hin er bisher zu einseitig gelesen wurde". Weidners diesbezüglich 'dekonstruktive' Arbeit begleitet den jungen Intellektuellen Scholem auf der Suche nach sich und dem Judentum, untersucht die Verknüpfung von politischen, theologischen und wissenschaftlichen Texten und leuchtet deren Kontexte aus. Erfreulicherweise legt Weidner keine weitere der in den letzten Jahren typischen Monographien über Scholem vor, sondern konzentriert sich auf dessen spezifische 'Schreibweise', was darin seinen Grund hat, dass die zuletzt schrittweise veröffentlichten Jugendaufzeichnungen eine Re-Lektüre ermöglichen, "die nicht nur Scholems intellektuelle Entwicklung präziser darstellen kann als das bisher geschah, sondern auch die Kräfte sichtbar macht, die Scholems Werk insgesamt konstituieren". Damit fällt Licht auf jene Seite Scholems, die bisher im Schatten seines Ruhms als Historiker der jüdischen Mystik und des Messianismus gestanden hatte. Sortierte sich die bisherige Forschung vor allem um die Fragen, ob es sich bei Scholems Texten um eine Übersetzung mystisch-theologischer Figuren ins Profane handelt oder gerade um den Widerstand gegen eine solche Übertragung, um eine Theologie trotz und nach der Entzauberung, so richtet Weidner nun vor allem den Blick auf die Vielfältigkeit der von Scholem genutzten Gattungen, die Rhetorik seiner Darstellungen und Korrespondenzen sowie seiner übersehbaren literatur- und sprachtheoretischen Interessen.

Völlig zurecht legt Weidner auch die Finger auf eine weitere seit Jahren schwärende Wunde der Forschung: Scholems Texte werden in eine Fülle von unverbundenen und dekontextualisierenden Zitaten aufgelöst; von seinem Werk bleiben - im Sinne eines best of - häufig nur Aphorismen, deren Problemhorizonte und Schreibkontexte damit natürlich verschwinden. Es zeichnet fast alle Interpreten Scholems aus, dass sie Textbausteine unterschiedlichster Art gedankenlos zu einem Potpourri vermengen: theologische Thesen werden mit Zwischenbemerkungen aus Scholems historischen Studien wahllos vermischt, Briefstellen und politische Aussagen aus Interviews werden unterschiedslos und nicht selten in Halbsätzen nebeneinander zitiert. Sympathisch an Weidners Furor ist, dass er en passant durchaus zugibt, nicht ganz frei von diesen Gefahren selbst vorgegangen zu sein; es scheint, so resümiert er versöhnlich an die Adresse der zuvor attackierten Forschungsarbeiten, "als liege in Scholems Texten selbst eine Tendenz, in solche Zitate zu zerfallen. Mit anderen Worten: Kaum ein Leser Scholems verzichtet auf den interpretatorischen Gewinn, mit diesen Zitaten zu spielen und Scholems nur angedeutete Thesen fortzuschreiben".

Weidner sieht in Scholem primär und mit gutem Recht einen manischen Schreiber, der schon früh Notiz- und Tagebücher führt, Exzerpte und Arbeitskladden verfertigt und überhaupt eine Vielzahl von Briefen, Gedichten, esoterischen Texten, politischen Aufsätzen, Manifesten, Übersetzungen, später dann auch historische und biographische Essays über Zeitgenossen, die Erinnerungen an Benjamin und seine Autobiographie verfasst. Weidner ruft in Erinnerung, dass auch Scholems Beschäftigung mit der Kabbala ein ständiges Weiter-, Wider- und Umschreiben früherer Texte ist, indem er etwa von seinen eigenen Büchern ein Exemplar mit leeren Zwischenblättern binden lässt, in das später weitere Beobachtungen eingetragen werden (können). "Scholems Dasein kreist um die Schrift und er assoziiert sich gerne mit dem Bild eines modernen Schriftgelehrten. 'Schrift' meint dabei je verschiedenes: die 'Schrift' des Schriftstellers, die es ihm ermöglicht, sich schreibend auszudrücken, die 'Schrift' des Theologen, die Quelle des begehrten Judentums; die Schrift des Geschichtsschreibers, das Monument der Vergangenheit. 'Schrift' ist Gegenstand, Thema, Material von Scholems Texten". Gleichzeitig gelingt es Weidner aber auch, den rhetorischen Aspekt dieses 'Schrift'-Konzepts sichtbar zu machen, das stark der Vorstellung von 'écriture' ähnelt, die für Roland Barthes weder der kollektiven Sprache noch dem individuellen Stil zugehört, sondern das positionale Moment des Schreibens markiert: Auf der einen Seite ist 'Schrift' bei Scholem für Weidner "eine Art absolute Metapher von Scholems gesamtem Werk", auf der anderen Seite wird sie in Scholems Texten "auch immer wieder behauptet und in Vollzug gesetzt". Scholems Texte sind daher folgerichtig "weniger eine Beschreibung als eine Einschreibung" in die Tradition und den Kosmos der Texte. In diesem Sinne werden sie von Weidner nicht als kanonisierter Bestand gelesen, sondern als "Lösungsversuche für historisch-konkrete Aufgaben und als dynamische, sinnproduzierende und -setzende Schreibhandlungen".

Dem Umstand, dass sich Scholems Schreiben vor allem in Diskursen und Kontexten außerhalb der 'Literatur' vollzieht, in der Politik, in der Philosophie, in der Theologie und schließlich in der Religionsgeschichte, trägt Weidner dadurch Rechnung, dass er sich in seiner Arbeit auf fünf Kontexte konzentriert - den deutschen (Kultur-)Zionismus, den Neukantianismus vor allem Hermann Cohens, die durch Benjamin vermittelte Rezeption der Frühromantik, die antiliberale Theologie und die zeitgenössische Religionsgeschichte -, die in drei Dimensionen - dem politischen, dem esoterischen und dem historiographischen Schreiben - ausgelotet werden. Der erste Teil der Arbeit untersucht die 'politische Erziehung' und zeigt an den Tagebüchern, wie stark und krisenhaft das Streben nach Legitimität beim jungen Scholem ist; im zweiten Teil werden vor allem die frühen theoretischen Texte Scholems untersucht, wobei sich ein deutlicher Trend von allgemeinen Problemen (etwa der neukantianisch ausgerichteten Erkenntnistheorie) zu spezielleren Reflexionen über das Judentum, dann auch über einzelne Bereiche der jüdischen Überlieferung feststellen lässt. Im dritten Teil erarbeitet Weidner, wie Scholem ein Bild der Kabbala als religionsgeschichtlicher Bewegung entwirft, wobei versucht wird, zugleich die innere Struktur von Scholems Projekt aufzuzeigen und dieses Projekt in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu stellen. Interessant und überaus plausibel ist Weidners Neubewertung der Art der Lektürehaltung Scholems, nach der die Kabbala, anders als Scholem dies oft selbst suggerierte, "nicht einfach 'erzählt', sondern durch ein bestimmtes Set von Fragen und Methoden gelesen" wird, die "dabei weniger aus geschichtsphilosophischen Hintergrundannahmen als aus einer bestimmten Logik der Forschung" folgen. In der von Scholem konstatierten Dialektik "einer ins Häretische umgeschlagenen Kabbala, eines nihilistischen Messianismus, der die Sprache der Aufklärung zu sprechen suchte", öffnet sich die Kabbala der ästhetischen Moderne, wie Scholem insbesondere an den Texten Kafkas zeigen konnte. Stellvertretend für die Moderne erscheint Kabbala daher im Status des "Nichts der Offenbarung". Es ist das besondere Verdienst der Untersuchung von Daniel Weidner, diesen Grenzfall der von Andreas Kilcher in einer früheren Publikation so genannten "ästhetischen Kabbala", in der sich die kabbalistische Spekulation säkularisierend in einen poetischen und ästhetischen Umgang mit der Sprache auflöst, einer kritischen Gegenlektüre zu unterziehen und dabei zu fruchtbaren Neubewertungen zu gelangen, die viele fruchtbare Denkanstöße für die zukünftige Beschäftigung mit Scholems Texten liefern.

Titelbild

Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2003.
446 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 3770537548

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