Essays that Matter

Ein wegweisender Sammelband zur transdisziplinären Materialitätsdebatte aus der Sicht des dekonstruktiven Feminismus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich einmal wieder ein Buch, das die Theorie des dekonstruktiven Feminismus ein gutes Stück voran bringt! Seit Judith Butlers bahnbrechenden Werken "Gender Trouble" und "Bodies that Matter" hat es deren nicht allzu viele gegeben. Doch der von Sigrid Köhler, Jan Christian Metzler und Martina Wagner-Egelhaaf herausgegebene Sammelband "Prima Materia" meistert diese nicht eben geringe Aufgabe mit Bravour. Zumindest lässt sich dies einer ganzen Reihe von Beiträgen - insbesondere des ersten Teils - bescheinigen, der unter dem Stichwort "Performativitäten" steht. Hier geht Bernd Blaschke Paul de Mans "rhetorische[m] Materialismus" nach, Marc Rölli stellt "Überlegungen zum Paradox der Materialität mit Bezug auf Deleuze" an und Antonia Ulrich widmet sich Nietzsches "performative[m] Schreibprozess".

In einem der instruktivsten und anspruchvollsten der sich insgesamt auf hohem theoretischen Niveau bewegenden Beiträge dieses ersten Teils geht Elisabeth Strowick nicht nur den theoretischen Ansätze von Shoshana Felman, Michel Foucault und Judith Butler - mit der die Autorin sich zumindest stilistisch messen kann - nach, sondern trägt selbst innovative Überlegungen in den Diskurs. Zunächst aber streicht sie heraus, dass die gerade im deutschsprachigen Raum "zählebige Kritik", dekonstruktive Ansätze betrieben eine "'Entmaterialisierung' geschlechtlicher Körper", nicht nur "haltlos" ist, sondern ihrerseits "einen in geschlechtspolitischer Hinsicht prekären metaphysischen Materiebegriff" reproduziert, der fälschlicher Weise die dekonstruktiven Anstrengungen um eine "'Denaturalisierung' von Körpern und Geschlechtern" mit deren "'Entmaterialisierung'" gleichsetze und dabei verkenne, dass es diesen gerade nicht um die unterstellte Entmaterialisierung geht, sondern vielmehr um eine "Reformulierung von Materialität". Theorien des Performativen, so möchte die Autorin zeigen, seien - zumal im Kontext dekonstruktiver, psychoanalytischer und feministischer Theorien des Performativen - dazu geeignet, "die Frage nach Materialität in neuer Weise zu verhandeln", da gerade in diesen Theorien die Frage nach der Materialität besonders "virulent" sei. Diesen performationstheoretischen Ansätzen der "sprachtheoretischen Perspektivierung von 'Materie' und 'Materialität'" geht Strowick nach. Dabei fasst sie Materialität als ein "spezifisch prozesshaftes Geschehen", als "Ereignis". Zugleich aber sieht sie das "Denken des Ereignisses" mit der Frage nach Materialität konfrontiert. In dieser Doppelung der "Ereignishaftigkeit des Materiellen" und der "Materialität des Ereignisses/Aktes" habe sich das "performanztheoretische Denken materieller Ereignisse" zu bewegen, wenn es das "Ereignis eines Entzugs" formuliert, der gerade keinem "Postulat eines 'Vordiskursiven'" entstamme, sondern der Wiederholungsstruktur der Sprache zuzuschlagen sei. Mithin sei die Materialität und somit der Körper nicht etwa eine vordiskursive Entität, sondern artikuliere sich "chiastisch mit der Sprache verschränkt" als "widerständiges Differenzial" und eben als "Entzug". In dieser Verschränkung mit der Sprache, welche die Materialisierung an die Iterabilität des "Zeichen/Aktes" binde, vollziehe diese sich als Praxis der Wiederholung, der aufgrund ihrer differenziellen Struktur ein widerständiges Moment und somit die Potenz zur "Re-Materialisierung" innewohne.

Sigrid Köhlers Beitrag zur Rhetorik von Materialitätsdiskursen und zu "materiell-semiotischen Flecken und Agenten" steht Strowicks Aufsatz in Sachen Innovativkraft durchaus nicht nach. Der Clou ihres Beitrages liegt im Entwurf des Nabels als einem materiellen "privilegierenden/privilegiertem Zeichen", das eine Subjektposition markiert, ohne eine geschlechtliche Identität privilegieren zu müssen, und das somit ein geschlechtlich nicht kodiertes Subjekt denkbar macht, das sich über den Körper "positionieren" lässt, "ohne aber aufgrund einer Körper-Geist-Dichotomie seine Sprachmächtigkeit zu verlieren". Der "materiell-semiotischen Fleck" Nabel erinnert zudem an "die Nichtverfügbarkeit der eigenen Geburt" und somit auch an die "Sterblichkeit/Endlichkeit des Subjekts". Dieses "de-gendering der Materialität" führt, wie die Autorin zeigt, nicht notwendig zu einem Verlust des Materialitätsbegriffs, den sie ungern aufgeben möchte, da er sich für den Entwurf einer "wirkmächtigen", aber nicht "allmächtigen" Subjektposition als "äußerst produktiv" erweisen kann.

Zwar rekurriert Köhlers Beitrag weniger auf Judith Butlers Materiekonzept als auf dasjenige von Donna Haraway, deren Ansatz der materiell-semiotischen Wissensproduktion "in viel stärkerem Maße" erlaube, Materie als "an Signifikationsprozessen beteiligt" zu begreifen, ohne sie präsenzlogisch oder essentialistisch verstehen zu müssen, doch betont Köhler gemeinsam mit ihrer Mitherausgeberin Wagner-Egelhaaf in der Einleitung zu Recht, dass Butlers Standardwerk "Bodies that Matter" als "Impulsgeber" des vorliegenden Bandes fungierte, denn es war Butlers Ansatz, der die "entscheidende Wende" in der Materialitätsdebatte bewirkte. Butlers Rekurs auf eine produktiv verstandene Materie lasse sich zwar auch an "materialistische Denktraditionen" anschließen, doch sei ihr diskursanalytischer Ansatz gegenüber einem präsenzlogischen oder substantialistischen Denken "eindeutig kritisch". Zudem ermöglichten es ihre "Anleihen" bei dekonstruktiven Performativitätskonzepten, auf "Veränderungsmöglichkeiten im Sinne von Verschiebung" hinzuweisen; ein - wie die Herausgeberinnen hervorheben - "hochpolitisch[es]" Projekt, das darauf zielt, "die Mechanismen der Produktion von Körpern" dahingehend zu verändern, "dass 'andere' gesellschaftlich relevante Körper denk- und lebbar werden", womit die Autorin Körper meint, die eine "Selbstrepräsentation jenseits des cartesianischen Körper-Geist-Dualismus" ermöglichen.

Die Untergliederung des Buches in die drei Sektionen "Performativitäten", "Metaphern und Figuren" sowie "Medialisierungen" orientiert sich an drei dem in der Literaturwissenschaft jüngst proklamierten material turn vorgängigen, jedoch mit diesem "eng verschwisterten" und "ihn gleichsam erzeugenden" kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechseln: dem performative turn, dem linguistic turn und dem medial turn. Die von einigen Text der Gegenwartsliteratur initiierte Debatte über die "Neufassung des Materiellen", konstatieren Köhler und Wagner-Egelhaaf, verweise darauf, dass sich die Auseinandersetzung mit Materialitätskonzepten eben nicht auf die Beschäftigung mit "präsenzlogisch verstandener, konkreter Stofflichkeit" reduzieren lasse. Auch erweise die diskursive Verschränkung der Form/Materie-Dichotomie mit der heterosexuellen Geschlechterordnung nicht etwa "die Materialität des biologischen Geschlechts", sondern vielmehr umgekehrt "das biologische Geschlecht der Materialität".

Zwar wartet der erste Teil des Buches zweifellos mit den theoretisch substantiellsten Innovationen und mit den instruktivsten Überlegungen auf, doch enthalten die beiden folgenden Teile durchaus ebenfalls erhellende Beiträge. In der zweiten Sektion widmet sich etwa Olaf Eigenbrodt "textilen Materialien" und "[m]onströse[n] Materialisierungen mythopoetischer Texturen", Claudia Albes untersucht die poetischen Implikationen der zwischen 1790 und 1820 geführten Neptunismus-Vulkanismus-Debatte und Doerte Bischoff beleuchtet Signifikation, Materialität und Gewalt in Kleists Drama "Amphitryon".

Im dritten Teil nimmt Ulrike Bergermann Papier als Medium und Form unter die Lupe, Irmela Marei Krüger-Führhoff geht "[p]ygmalionsche[n] Inversionen" in Literatur und Kunst vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart nach und Christian Krug entdeckt in James Camerons Film "Terminator II. Judgement Day" neben traditionellen Elemente des Horrorfilms "zentrale Themen und Thesen", die Samuel Butler bereits 1872 in seinem utopischen Roman "Erewhon" "präzise vorweggenommen" habe. Zwar kann Krug überzeugend darlegen, dass der "eigentümlichen Status" des Morphs T-1000 "beständig zwischen der Handlungsebene und der Produktionsebene des Films changiert". Was an der "Verkleidung eines Motorrad-Rockers", die der von Schwarzenegger verkörperte T-800 anlegt, "antiautoritär" sein soll, bleibt allerdings schleierhaft, gibt es doch kaum autoritärere Organisationen als Rockergangs. Hier ist Sandra Rauschs kürzlich veröffentlichte Untersuchung plausibler, in der sie den Film in die Tradition des Westerns stellt und dies gerade durch ein close reading der Eingangssequenz belegt, in der sich der bis dahin 'nackte' T-800 die Rockermontur samt dazugehörigem Motorrad erkämpft.

Titelbild

Sigrid G. Köhler / Jan Ch. Metzler / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2004.
380 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 389741144X

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