Außenseiter, Nein-Sager, Partisan - und Suizidant

Irene Heidelberger-Leonards Biographie Jean Amérys - ein Meilenstein der Forschung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Trotz aller Ehrungen und Glücksmomente dürfte er sich in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhundert als "ein David gegen die viel zu vielen Goliaths" gefühlt haben, mutmaßt Irene Heidelberger-Leonard in ihrer Biographie des 1912 geborenen Hans Maier, der schon früh und mehrfach seinen Namen änderte, in Mayer, in Hanns Mayr oder auch in Johannes Maier - und der schließlich als Jean Améry bekannt wurde. Wie jede ihrer Thesen kann die Autorin auch ihre Annahme begründen und plausibilisieren, Améry habe sich in den 60er Jahren an vielen Fronten gegen übermächtige Gegner kämpfen gesehen. Mehr noch: Heidelberger-Leonard, die auch als Gesamtherausgeberin der ebenfalls bei Klett-Cotta erscheinenden Werkausgabe Amérys fungiert, hat eine rundum überzeugende Biographie vorgelegt, die sich bald als Meilenstein in der Améry-Forschung erweisen dürfte. Dies nicht nur, weil sie zahlreiche bislang unbekannte Texte Amérys heranzieht und auswertet - etwa das Essay "Zur Psychologie des deutschen Volkes" (1945) und als wohl wichtigsten den Roman "Die Schiffbrüchigen" (1934-35) -, sondern auch, weil sie anhand dieser Schriften überraschende Entwicklungslinien im Oeuvre des Autors hervortreten lassen kann. Überhaupt ist das Buch nicht eben arm an überraschenden, für die Améry-Forschung geradezu sensationellen Erkenntnissen, wenngleich die Nachzeichnung von Amérys Lebensgeschichte "voller Lücken" bleibt, wie Heidelberger-Leonard ohne zu zögern eingesteht. Denn "wie anders wäre eine Biographie zu schreiben"?

Obwohl sich der Schüler Hans in den Anfangsjahren der Weimarer Republik nicht ganz grundlos seinem Lehrer "an Bildung haushoch überlegen" fühlte, immerhin hatte er bereits mit acht Jahren "den ganzen Schiller" gelesen, brach er das Gymnasium vier Jahre später ab. In dieser Zeit lebte der Knaben winters in einer dörflich-bäuerliche "Winterwelt" und sommers in der "Sommerwelt" der den Ort seiner Kindheit bevölkernden jüdischen Sommerfrischler. Zu jeder der Welten gehörte er "in gleichen Maßen", also "letztlich zu keiner". Dabei überflügelte sein Intellekt sie beide, drang hinaus in die Welt des Geistes und der Philosophie und geriet schon bald "unter de[n] Einfluß" des Wiener Kreises und des Logischen Empirismus, die seine "lebenslange Orientierung am Positivismus" vorbereiteten.

1930 trat er in die Buchhandlung der Volkshochschule Leopoldstadt ein, in der er acht Jahre bleiben sollte und die von Leopold Langhammer geführt wurde, den Améry noch viele Jahre später als seinen "Mentor" rühmte. Auch als er bereits ein junge Mann war, schlugen noch zwei Seelen in Hans Maiers Brust, einerseits die des "konservative[n] Landschaftsschwärmer[s]" und des "Retter[s] der bäuerlichen Heimatliteratur", andererseits die des "sozialistische[n] Weltverbesserer" und des "Revolutionär[s]". Aus dem "Außenseiter der zwanziger" wurde der "Nein-Sager der dreißiger" und schließlich der "Partisan [...] der vierziger" Jahre.

In den 30er Jahren verfasste der Nein-Sager sein bis heute unveröffentlichtes Erstlingswerk "Die Schiffbrüchigen", von dem der Autor noch kurz vor seinem Tode sagte, dass es ihm noch immer "kalt über den Rücken" laufe, wenn er es lese. Diesem Werk schenkt Heidelberger-Leonard zu Recht besondere Aufmerksamkeit. Denn wie sie zeigt, "gibt der Erstling mehr Auskunft über Amérys Weltbild als irgendeine andere spätere Schrift". Schon in "Die Schiffbrüchigen" "präfiguriert" Maier die im vierzig Jahre später erschienen "Diskurs über den Freitod" formulierten Gedanken über den Suizid, die also "keineswegs erst Ergebnis der Konzentrationslager" sind.

Ein Dezennium nach Abfassung des Romans, also unmittelbar nach Kriegsende, forderte Maier in einem Essay "Zur Psychologie des deutschen Volkes" nicht nur Nietzsches Bücher ebenso wie die "seiner ganzen biozentrischen Epigonen von Klages bis Spengler" zu verbieten, sondern auch die "integrale physische Extermination von sämtlichen führenden Parteipersönlichkeiten" sowie des gesamten Personals der Gestapo. Dies, so erläutert die Autorin, sei nicht als moralisches Gebot misszuverstehen. Vielmehr habe Maier in diesen Maßnahmen eine soziale Notwendigkeit gesehen. Erstaunlicherweise scheint er zugleich Hitlers Wählerschaft von 1932 zu exkulpieren. Denn, so argumentiert er, sie "stimmte noch nicht für Auschwitz und Birkenau". "Man" habe "diese Dinge" auch später nicht intendiert, sondern sei "teils zu feige und teils zu taub" gewesen, um sie zu verhindern. Angesichts von Amérys intransigenten Ausführungen in "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966) zeigt sich die Autorin zu Recht über "so viel Verständnis, so viel Wohlwollen" verwundert.

In den gut zehn Jahren, die zwischen der Abfassung des Romans und des Essays lagen, durchlitt Maier den Nationalsozialismus, zunächst in Österreich, in dem die - wie er schrieb - einheimischen "Amateure der Bestialität" den deutschen Faschismus bis zum Anschluss nur nachspielten, dann im Belgischen Exil, in dem er sich dem kommunistischen Widerstand anschloss, nach der Festnahme im Juli 1943 schließlich im Gefängnis und seit Januar 1944 in den KZs Auschwitz und Bergen-Belsen, aus dem er im April 1945 befreit wurde.

In der Nachkriegszeit veröffentlichte er in verschiedenen Zeitschriften - wie die Autorin schreibt - "[j]ournalistische Konfektionsware", um seinen Lebensunterhalt wenigstens auf niedrigem Niveau zu sichern. Auch sonst sieht er sich genötigt, jede Arbeit anzunehmen, sei es als Laufbursche, Transporteur oder Nachhilfelehrer.

In den 60er Jahren war aus dem "fremdbestimmten Auftragsschreiber" der "ich- und selbstbewußte Essayist" geworden, der sich seit 1955 Jean Améry nannte - und der prinzipiell immer gegen sich selbst dachte und schrieb, eine Anstrengung, die nachzuvollziehen er auch seinen Lesern abverlangte, "was nicht selten zur Abwehr führt[e]". Von seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" (1966), in dem sich "die Brechung der Erfahrung in der Brechung der Sprache" spiegelt, zeigten sich nicht nur Adorno und Ingeborg Bachmann beeindruckt. "Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewegten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen", beschreibt er hier seine Erfahrung mit der Tortur. Und: "Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt."

Später folgten zahlreiche weitere Werke, zu deren wichtigsten die Arbeit "Über das Altern" (1968), das den Tod als "[u]nsere[n] Triumph über das Leben" beschreibt, ebenso zählt wie "Lefeu oder Der Abbruch" (1974), "die summa seines Schaffens", und "Hand an sich legen" (1976), der "'Werter' der siebziger Jahre". Am 17.10. 1978, fünf Jahre nach Bachmanns Verbrennungstod, legt dessen Autor Hand an sich. Nicht zum ersten Mal, dieses Mal jedoch erfolgreich. Allein die "Bild"-Zeitung, so konstatiert Heidelberger-Leonard, verlieh ihm "das Epitaph, das er so ersehnt hatte: 'Selbstmorddichter'".

Titelbild

Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amery. Revolte einer Resignation. Biographie.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004.
408 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3608935398

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