Hommage an Leopold Bloom

Zum 100. Jubiläum des "Bloomsday"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

"Mr. Power blickte mit wehmütiger Beklommenheit auf die vorbeigleitenden Häuser hinaus.

- So plötzlich ist er gestorben, der arme Kerl, sagte er.

- Der beste Tod, sagte Mr. Bloom.

Ihre weit aufgerissenen Augen starrten ihn an.

- Kein Leiden, sagte er. Ein Moment bloß, und alles ist vorbei. Wie wenn man im Schlaf stirbt.

Keiner sprach."

Dublin, an einem frühsommerlichen Tag vor hundert Jahren. Die Gespräche von vier Männern in einer Kutschfahrt zu einer Beerdigung drehen sich um alles mögliche. Als die anderen drei schließlich auf den plötzlichen Tod des Verstorbenen zu sprechen kommen, macht Mr. Bloom diese so offensichtlich unpassende nüchterne Bemerkung.

Mr. Bloom steht immer ein bisschen am Rande, was dadurch verschleiert wird, dass wir neben den auktorialen Passagen ständig über seine stummen Reflexionen unterrichtet werden. Der berühmte innere Monolog rückt ihn so für uns als Leser ins Zentrum. Dazu kommt, dass er stets verbindlich und um Anpassung bemüht ist. In winzigsten Details lässt uns der Autor diese Position am Rande ahnen. Beim Einsteigen in die Kutsche lässt er einem Mr. Dedalus den Vortritt, der sagt im Hochklettern nur "Ja, ja" statt Danke!; stattdessen wird Bloom aufgefordert, sich zu sputen: "Sind wir denn alle da? fragte Martin Cunningham. Kommen Sie schon, Bloom."

Cunningham, Dedalus und Power sprechen sich mit Vornamen an, duzen sich also nach deutschen Begriffen. Bloom wird mit Nachnamen angeredet und spricht die Mitfahrenden seinerseits mit Nachnamen an. Seine Sonderrolle wird von ihm so gut es geht ignoriert. Als die anderen drei einen alten jüdischen Geldverleiher erblicken und verfluchen, hat Cunningham die Größe, einzuräumen, dass doch alle mal bei ihm gewesen seien, fügt jedoch hinzu, als sein Blick auf Bloom fällt, "Nun, fast alle von uns." Auf diese kaum merkliche Weise erfahren wir, dass Bloom offensichtlich in geordneteren Verhältnissen lebt als die anderen: Dedalus versäuft sein Geld, von Cunningham werden wir erfahren, dass seine Frau Alkoholikerin ist und regelmäßig das Mobiliar versetzt. Bloom reagiert in dieser Szene auf Cunninghams Bemerkung damit, dass er "mit plötzlichem Eifer" den anderen die Geschichte vom (fast erfolgreichen) Selbstmord des Sohnes des Geldverleihers erzählen will; er wird zweimal roh unterbrochen, Cunningham nimmt ihm die Pointe aus dem Mund.

Heute stockt man, wenn man diese Szene liest. Derjenige, der von den anderen offenbar für einen Juden gehalten wird, beteiligt sich am Herziehen über einen "dreckigen Juden" und ist doch trotz dieser Anpassungsleistung nicht erfolgreich. Er erkennt in Gedanken später an, dass Cunningham der bessere Geschichtenerzähler sei. Seine Anpassungsbereitschaft geht so weit, dass sein Verhalten manchmal Züge von Servilität aufweist.

Die Szene mit dem Geldverleiher geht ihm später wieder durch den Kopf: "Nun ist der ja auch wirklich, was man einen dreckigen Juden nennt." Das erinnert an die Distanzierungen der integrierten westlichen Juden der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gegenüber den "Ostjuden" der polnischen Stetls.

Nun ist zwar der irische Antisemitismus des Jahres 1904 nicht mit dem deutschen des Jahres 1934 oder 44 zu verwechseln, er ist eher Teil der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit und des Ressentiments, wie er bei halbkolonial gehaltenen Völkern üblich ist, und mehr sarkastische Schärfe in den Dialogen der irischen "Patrioten" gilt noch den Engländern. Andererseits beachte man die Feinheit der Formulierung: "was man einen dreckigen Juden nennt". Blooms zögernde Zustimmung zur verbalen Hetze nützt ihm im übrigen auch nichts: er selbst wird während des Tages wiederholt auf seine Position als Kind eines jüdischen Einwanderers verwiesen, und er wird schließlich lernen, dazu zu stehen.

Der Tag der Handlung ist genau datiert: es ist der 16. Juni. Und am 16. Juni jährt sich der Tag zum 100. Male, an dem James Joyce das erste Mal mit seiner späteren Frau Nora ausging, mit der er Zeit seines Lebens zusammenbleiben sollte. Der "Bloomsday" ist das Epos des in den Beginn des vorigen Jahrhunderts versetzten Odysseus, der einen langen Tag durch die kleine irische Metropole treibt, um schließlich wieder zu seiner Penelope heimzukehren, und in dessen Wahrnehmungs- und Beobachtungsnetzen sich die ganze Stadt und die damalige Epoche verfangen.

In der Figur des Leopold Bloom, der Hauptfigur des Buches, und an ihrer Konstruktion und ihrem Verhalten lässt sich zeigen, was Joyce alles in ihr bündelte und wie es trotzdem gelang, eine farbige, ja sympathische Figur zu schaffen. Es entsteht vor unserem inneren Auge quasi ein Individuum vor uns, das zugleich im Sartreschen Sinne so sehr ein "einzelnes Allgemeines" ist, dass sich an seiner Position und seinen Reaktionen die politisch-historisch-philosophischen Strömungen des Zeitalters wie in einem Brennspiegel bündeln - ja dass wir "von heute aus" (das Buch erschien 1922) die ganzen Erschütterungen und Wahnformen des vergangenen Jahrhunderts hier aufzucken sehen, deren Ausläufer uns immer noch und immer wieder beschäftigen. Der "Ulysses" bietet auch eine Studie darüber, wie sie funktionieren, und wie ihnen möglicherweise zu begegnen wäre.

Joyce hat betont, wie wichtig es ihm war, eine positive, "volle" Figur zu schaffen. Es galt, den grüblerischen, noch fast jugendlichen Stephen Dedalus, den stark autobiographischen Helden seiner früheren Werke, zu ergänzen durch die Figur eines erwachsenen Mannes, der verheiratet ist und Vater, beruflich "voll im Leben" steht und der sich durch eine Reihe von Eigenschaften auszeichnet, die für seinen sozialen Charakter sprechen: er ist hilfsbereit, häuslich, zugleich offen und weltzugewandt - und obwohl kein Akademiker wie Stephen, ein musischer und bildungswilliger Autodidakt, der ständig über handfeste philosophische Fragen nachsinnt.

Blooms Denkweise, seine ständigen Grübeleien, sind anders als die abgehoben-philosophischen Stephens auf Alltagsfragen gerichtet. Man könnte sie, mit einem Ausdruck von Günter Anders, als "Gelegenheits-Philosophie" bezeichnen, oder Bloom mit dem Begriff des "Bastel-Denkers" (Levi-Strauss) belegen, was ein experimentelles Denken bezeichnet, das sich fast spielerisch des kategorialen Instrumentariums bedient, um Situationen zu klären.1

Ohnehin ist Bloom ja nicht in der akademischen Sphäre heimisch, sondern bewegt sich am Rande des Tageszeitungs-Journalismus: also auch einer intellektuellen Tätigkeit, wenn auch sozial nicht so hoch angesehen wie die akademischen Berufe. Er wird an diesem 16. Juni in seiner Beschäftigung als freier Anzeigenacquisiteur gezeigt, er sucht wiederholt Kunden und Zeitungsredaktionen auf. Die Selbständigkeit in seiner Arbeit ist offensichtlich wichtig für ihn; versteckt im Buch gibt es Hinweise, dass er in früheren Tätigkeiten als abhängig Beschäftigter mit seinen Chefs aneinandergeraten ist.

Verborgen ist dies alles aber unter der Fassade einer ruhigen Bürgerlichkeit. Man hat deshalb an seinem Tagesablauf mitunter das Treiben des modernen Mr. Jedermann durch den Tag sehen wollen. Dabei ist die Situation im Hause Bloom alles andere als gewöhnlich. Bloom erfährt, als er morgens die Post reinholt, dass sich bei seiner Frau Marion ("Molly"), die gelegentlich als Sängerin auftritt, für 16 Uhr ein Besuch ankündigt: ein Impresario, der offensichtlich das Konzertprogramm durchsprechen will. So jedenfalls die Fiktion, die Molly und "Poldy" (so nennt sie ihn) pflegen. Beide wissen, dass Molly ein Verhältnis mit diesem Mann eingehen wird, sprechen aber nicht darüber. Bloom kündigt an, er werde erst spät nach Haus kommen können.

Eine Ehe also, in der es nicht zum Besten steht. Später erfahren wir, dass beide nach dem frühen Tod eines Sohnes vor elf Jahren keinen sexuellen Verkehr mehr miteinander hatten. Sie haben sich also arrangiert und gehen eigene Wege, versuchen es wenigstens. Auch Bloom unterhält, wenn auch nur in Briefform, ein Verhältnis zu einer anderen Frau. Deshalb gehen sie vorsichtig miteinander um; Bloom macht Molly wie stets das Frühstück und bringt es ihr ans Bett. Dennoch erhält man nicht den Eindruck, der Mann sei lächerlich oder masochistisch. Es ist seine Art, mit der Herausforderung umzugehen, und am Ende des Tages wird er in dem berühmten inneren Monolog der schlafenden Molly Bloom als Mann durchaus passabel abschneiden. Dennoch, er muss den Tag überstehen, das parallel in seinem Haus Geschehende verdrängen, bei seinen Streifzügen durch Dublin vermeiden, auf den Konkurrenten zu stoßen, was ihm zeitweise nur mühsam gelingt. Es steht durchaus nicht von Anfang an fest, wie er diesen Tag überlebt.

Die zweite Herausforderung, die er meistern muss, ergibt sich aus seiner schon beschriebenen Außenseiterrolle: er ist jüdischer Herkunft, wenngleich christlich getauft (sogar mehrmals: sein Vater war bereits zum Protestantismus übergetreten, wegen der Heirat mit Molly trat Leopold zum Katholizismus über) - aber tatsächlich ist er Atheist, zumindest Agnostiker. Schon das, wenn auch so direkt nicht vor den Zeitgenossen ausgebreitet, begründet eine Sonderrolle im zutiefst papistischen Irland seiner Zeit. Vor allem aber ist er kein fröhlicher Säufer wie die vielen irischen Zeitgenossen, die wir hier vorgeführt erhalten, sondern ein nüchterner Mann, der seine eigenen Wege geht.

Wie es nun Bloom schafft, diesen beiden Herausforderungen an diesem langen Tag, der bis nach Mitternacht währt, zu begegnen, das macht den Kern des Buches aus - und nicht die Vielfalt seiner formalen Mittel. Der ersten begegnet er durch Flucht und Ausweichen - erst nachts kehrt er erschöpft ins heimatliche Bett heim. Der anderen aber kann er nicht ausweichen, und er will es schließlich auch nicht mehr. Paradoxerweise bewirkt das erste Ausweichen das Standhalten gegenüber der zweiten Herausforderung, aus der er so etwas wie eine neue Identität schöpft.

Den ganzen Tag über ziehen ihm Szenen des früheren Glücks mit Molly durch den Kopf, aber ohne jeden Groll. Wehmütig erinnert er sich, wie sie sich auf einem Berg nahe Dublins das erste Mal geküsst haben:

"Beschirmt unter Farnen lachte sie, warmumarmt. Wild lag ich auf ihr, küsste sie [...] Sie küsste mich wieder. Ich wurde geküsst. Ganz hingegeben wuschelte sie mein Haar. Geküsst, küsste sie mich.

Mich, und ich jetzt".

Kurz zuvor konnte er, vormittags durch die Innenstadt gehend, den Gedanken an das vergangene Glück nicht mehr zurückdrängen. Beim Anblick seidiger Frauenunterwäsche in einem Schaufenster überkommt es ihn regelrecht:

"Eine warme menschliche Schwere senkte sich nieder auf sein Hirn. Sein Hirn gab sich hin. Parfüm von Umarmung fiel ihn allseits an. Mit ausgehungertem Fleisch, dunkel, flehte er stumm darum, Anbeter sein zu dürfen."

Am Punkt seiner tiefsten Erniedrigung wird er, der seine Frau immer noch liebt und den Rivalen nicht einmal hassen kann, von seinem Begehren überwältigt, dem Wunsch nach zärtlicher weiblicher Berührung, der sich in seinem masochistischen Unterwerfungswillen äußert.

Ausgehungert in jeder Beziehung, betritt er in dieser Szene eine verräucherte Kneipe, aus der er angeekelt gleich wieder heraustritt: fleischfressende schwitzende Männer, deren Anblick ihm physisch zuwider ist. Doch taucht in der langen Passage, die seinen über die schmatzenden und lärmenden Gäste hinweghuschenden Blick wiedergibt, eine flüchtige Notiz auf:

"Bin ich genau so? Uns selber sehn, wie uns andere sehn." Dies Motiv ist Joyce so wichtig, dass er es fast 300 Seiten später wörtlich wiederholt.

Dieses absolute Fehlen jeder Arroganz ist es, was Bloom als Person so gewinnend macht, seine Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihren Blick auf sich auszuprobieren.

"Haß. Liebe. Das sind Namen. Rudy. Bald bin ich alt."

Rudy ist der Name seines kleinen Sohnes, der vor elf Jahren im Alter von einigen Tagen verstorben ist und um den Bloom immer noch trauert. So wie seine Gedanken auch immer wieder seines Vaters gedenken, der mit einem Selbstmord aus dem Leben geschieden ist. Blooms Charakter ist von einer Disposition zu tiefen Depressionen nicht frei2. Er ergibt sich ihr und der Resignation angesichts des Älterwerden jedoch nicht, sondern kämpft still um sein Weiterleben.

Und zu kämpfen wird er von seinen Zeitgenossen gezwungen. Den Anfang macht Stephens Studienkollege Buck Mulligan, der hinter Blooms Rücken zu Stephen tuschelt: "Der ewige Jude [...] Hast du seinen Blick gesehen? Er sah dich an, deiner zu begehren [...] Besorg dir nen Arschschützer".

Stephen war zuvor morgens schon mit antisemitischen Äußerungen konfrontiert worden. Ein Engländer, der in seinem und Buck Mulligans Wohnturm logiert und seine Sympathie für die "irische Sache" und das damalige Revival des Gälischen in der nationalistischen Bewegung äußert, behauptet, dass wahre Problem Englands sei, dass es in die Hände deutscher Juden zu geraten drohe. Der Direktor einer Schule, an der Stephen kleinere Unterrichtsjobs ausübt, behauptet den nämlichen Unsinn; hier allerdings widerspricht Stephen deutlich:

"Ein Kaufmann, sagte Stephen, ist einer, der billig einkauft und teuer verkauft, ganz gleich ob Jude oder Heide, nicht wahr?

- Sie haben gesündigt wider das Licht, sagte Mr. Deasy grabesschwer. Noch in ihren Augen kann man die Finsternis sehen. Und das ist der Grund, warum sie Wanderer sind auf Erden bis auf den heutigen Tag."

Der eigentliche Höhepunkt der Auseinandersetzung steht aber Bloom bevor, der nachmittags in einer Kneipe auf Cunningham und einige andere Bekannte wartet. Dieser Termin ist vereinbart worden, um einen kleinen Versicherungsbetrug einzufädeln, damit die Witwe des Verstorbenen an die Erträge einer Police herankommt, die noch nicht fällig wäre - und dazu haben die anderen Bloom dazugebeten, weil sie ihn als Juden offensichtlich für besonders geschickt in Gelddingen halten. Dieses Klischee, das zwar so nie ausgesprochen wird, ist Bloom so unangenehm, dass er es nicht nur zu ignorieren beschließt, sondern dass in der exakt zu rekonstruierenden Chronologie des Tages später zwei Stunden fehlen - in dieser ausgesparten Zeit muss also der Deal Cunninghams und zweier anderer Herren mit Bloom im Hause des Verstorbenen stattgefunden haben.

Während Bloom also in der Kneipe auf die anderen wartet, die ihn dazu abholen wollen, steht er noch in anderer Hinsicht unter Stress. Er weiß, dass um eben diese Zeit Molly ihren Liebhaber empfängt. Das führt dazu, dass er sich in die hitzigen Debatten in der Kneipe verwickeln lässt, weil sie eben auch von seinen düsteren Gedanken ablenken. Genial ist an diesem Kapitel, dass es aus der Sicht eines der Kneipengängers und -schnorrers geschildert wird, wozu lange Passagen kommen, die die Handlung im Stil altirischer Heldensagen kommentieren, was die ironische Brechung der Erzählhaltung noch verdoppelt. Ohnehin strotzt die Szenerie von Komik: Saufdiskurs plus Kelten-Epik werden nicht nur ironisch gegeneinander geschnitten, sondern dienen als Säurebad für die entbrennenden politischen Diskussionen. Der Wortführer der Saufbrüder, ein polterndes Großmaul, das von den anderen nur "Citizen" genannt wird, rühmt etwa den altgälischen Sport des Steineschmeißens, während Bloom prompt die Vorzüge der "Behendigkeit und des Trainungs des Auges" beim Tennis preist. Während sich das Kneipengespräch von Gegenstand zu Gegenstand fortspinnt, gerät Bloom Stück um Stück mehr mit diesem dumpfen "Citizen" aneinander, dessen Behauptungen er beharrlich widerspricht. Konsequenterweise fängt der Chauvinist an, Blooms Herkunft als Ire zu bezweifeln. Mehrere Male versucht Bloom die Anspielungen auf Fremde, die Irland verlausten und nicht hierher gehörten, zu überhören.

"Welcher Nation gehören Sie denn an, wenn ich fragen darf, sagte der Bürger.

- Irland, sagt Bloom. Ich bin hier geboren. Irland.

Der Bürger sagt nichts, er räuspert sich bloß den Schleim aus der Gurgel und spuckt, weiß Gott, eine ganze Red-Bank-Auster davon direkt in die Ecke."

Während die Kumpane sich bereits einer neuen Runde Bieres widmen und sich das Gespräch verlagern könnte, entschließt sich Bloom ruckartig zu einem Coming-out. In das Gespräch der anderen hinein fährt er fort:

"Und dann gehöre ich auch noch einer Rasse an, sagt Bloom, die gehasst und verfolgt wird. Heute noch. In eben diesem Augenblick. Genau in dieser Sekunde.

Bei Gott, und vor lauter Aufregung verbrennt er sich fast die Finger am Stummel seiner ollen Zigarre.

- Beraubt, sagt er. Ausgeplündert. Beschimpft. Verfolgt. Um die Habe gebracht, die uns nach Recht und Gesetz gehört. In eben diesem Augenblick, sagt er und hebt die Faust, auf der Versteigerungstribüne verkauft in Marokko unten wie Sklaven oder Vieh.

- Sprechen Sie vom neuen Jerusalem? sagt der Bürger.

- Ich spreche von der Ungerechtigkeit, sagt Bloom."

Man kann Bloom zum Vorwurf machen, dass er nicht wisse, dass man Antisemiten und Chauvinisten nicht mit Argumenten beikommen kann. Er hätte mit einer Runde Bier seine Gegner auch rasch besänftigen können. Die ironische Abmilderung dieser Szene durch die Beschreibung aus der Perspektive des Erzählers kann trotzdem nicht verhehlen, dass Bloom hier zum ersten Mal aufbegehrt und sich "auf die Seite der Verfolgten stellt", zu denen er doch praktisch nicht gehört, oder doch nur "potentiell". In der persönlichen Krise, in der er steckt, im Stress dieser Situation entschließt er sich zu einem demonstrativen Bekenntnis.

Es spricht für Joyce' Realitätssinn, wie er die Szene fortlaufen lässt:

"Und dann klappt er auf einmal zusammen und dreht und windet sich ganz im Gegenteil, so schlapp wie n nasser Sack.

- Aber es ist zwecklos, sagt er. Gewalt, Haß, Geschichte, all das. Das ist kein Leben für Männer und Frauen, Beschimpfung und Haß. Und dabei weiß doch jeder, was das wirkliche Leben ist, das ist das genaue Gegenteil davon.

- Und das wäre? sagt Alf.

- Die Liebe, sagt Bloom. Ich meine, das Gegenteil von Haß. Ich muß jetzt gehen, sagt er zu John Wyse. Nur schnell auf einen Sprung zum Gericht rüber [...] Und zack! Saust er ab wie ein geölter Blitz auf Kugellagern."

Bloom bricht die Diskussion, die keine ist, ab; seine Resignation angesichts des drückenden Gewichts von Gewalt und Unterdrückung in der Geschichte entspricht jedoch der Haltung Stephens, der zu Beginn des Buches im Gespräch mit dem antisemitischen Lehrer postuliert hatte, Geschichte sei ein Albtraum, aus dem er zu erwachen sich bemühe. Die rasche Rücknahme von Blooms politischer Geste macht diese jedoch nicht ungeschehen3, im Gegenteil, er hält an der Liebe als Gegenpol zum Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt fest, und dies in einer Situation, in der er gerade der Betrogene ist. Ja, er setzt kurz darauf einen (allerdings eher schiefen) Klotz auf einen groben Keil, als sich die Szenerie weiter bedrohlich zuspitzt.

Während Cunningham und zwei Kollegen in der Kneipe eintreffen und sich ein Gespräch über den abwesenden Bloom entwickelt - darüber, dass er zumindest ein "Riesenroß von einem Außenseiter" sei, besteht weitgehend Einigkeit -, wird das (falsche!) Gerücht von einem sagenhaften Wettgewinn Blooms enthüllt, und das steigert den Zorn des "Citizen" so sehr, dass er auf den zurückkehrenden Bloom losgehen will. Cunningham und seine Leute ziehen Bloom rasch auf eine Kutsche, während der "Citizen", von seinen Saufkumpanen festgehalten, an der Tür brüllt: "Israel soll leben, dreimal hoch!"

Es kommt zu einem handfesten öffentlichen Skandal. Sofort bildet sich angesichts der Brüllerei ein Auflauf: ein Mann stimmt ein antisemitisches Lied an, eine Schlampe schreit obszöne Beschimpfungen. Blitzartig formiert sich etwas, was Elias Canetti in seiner "Massenpsychologie" "Hetzmasse" nannte. Bloom aber, schon halb auf der Kutsche, weicht nicht schweigend von dannen.

"Und sagt er:

- Mendelssohn war Jude und Karl Marx und Mercadante und Spinzoa. Und der Erlöser war Jude und sein Vater war Jude. Euer Gott.

- Er hat gar keinen Vater gehabt, sagt Martin. So, und jetzt reichts. Ab geht's.

- Wem sein Gott? sagt der Bürger.

- Nun, sein Onkel war Jude, sagt er. Ihr Gott war Jude. Christus war Jude wie ich.

Bei Gott, der Bürger stürzt in den Laden zurück.

- Jesus, sagt er, ich schlag dieser Judensau das Hirn raus, weil der Kerl den heiligen Namen gebraucht hat. Jesus, ich werde ihn kreuzigen, das werd ich, jawohl. Gib mir die Keksdose da.

- Halt! Halt! Sagt Joe."

Folgenlos wirft der "Bürger" die Keksdose der davonrollenden Kutsche hinterher.

Natürlich ist Blooms Argumentation alles andere als sattelfest, zumal er den Helden des biergeschwängertem Chauvinismus eine Liste abtrünniger, der Aufklärung zuzuzählender Juden entgegenhält, von denen seine Gegner, mit Ausnahme des Namens Marx vielleicht, nie gehört haben dürften. Und der "Jude" Marx dient auch heute noch eher der Argumentation der Gegenseite. Den Zimmermann aus Galiläa aber in der Eile zu Jesus "Onkel" zu erklären, ist auch nicht ohne Witz. Es bleibt jedoch ein Akt des Mutes, in dieser aufgeheizten Situation dem Tobenden entgegenzutreten. Dieser Akt wird auch nicht dadurch ungeschehen gemacht, dass Joyce, um nur ja kein Pathos aufkommen zu lassen, die Szene in einer ironischen Himmelfahrt enden lässt:

"Und sie sahen Ihn, ja Ihn, Ben Bloom Elias, inmitten von Wolken von Engeln auffahren zur Herrlichkeit der Helle in einem Winkel von fünfundvierzig Grad über Donohoe in der Little Green Street, als habe ihn der Schwung einer Schaufel hinaufbefördert."

Entscheidend scheint mir aber, dass Bloom in dieser Konfrontation trotz seiner wackligen Argumentation zu einer paradoxen "nichtjüdisch-jüdischen Identität" findet. Das heißt er nimmt die Zuschreibung an, die ihm von der Gegenseite auferlegt wird, und wendet sie offensiv ins Positive.

Bloom ist damit genau in der Situation des (säkularisierten) Juden, der nach Sartres "Betrachtungen zur Judenfrage" (1944) erfährt, dass er der Zuschreibung des Jude-Seins durch die anderen nicht entgehen kann. Sartre beschreibt dieses Erlebnis: "Wir sind zu sehr mit uns selbst verwachsen, um uns objektiv zu betrachten. Aber im Leben des Juden taucht eines schönen Tages das Wörtchen 'Jude' auf und verschwindet nie wieder." Die einzige Lösung für den selbstbewussten Juden bestünde darin, die Verantwortung für sich und sein Volk4 zu übernehmen. Genau hierfür entscheidet sich jetzt Bloom, obwohl er sich nur partiell als Jude empfindet.

Dies wird deutlich in den nächtlichen Unterhaltungen mit Stephen, dem er, als Stephen niedergeschlagen wird, aus der Patsche hilft. Stephen in einer Kneipe gegenübersitzend behauptet er, er habe den Beleidiger wirkungsvoll zum Schweigen gebracht mit der Bemerkung, "dass sein Gott, ich meine Christus, ebenfalls Jude war und desgleichen seine ganze Familie, genau wie ich, obwohl ich's in Wirklichkeit nicht bin." "Die Juden", raunt er Stephen leise ins Ohr, damit man es in der Kneipe nicht hört, würden doch fälschlicherweise bezichtigt werden, am allgemeinen Untergang schuld zu sein, und davon sei kein Wort wahr.

Den müden Stephen interessiert das alles nur mäßig. Als Bloom ihm später noch zu Hause in der Küche einen Kakao macht, spielt der Gastgeber mit dem Gedanken, Stephen anstelle des toten Sohnes gewissermaßen unter seine Obhut zu nehmen. Das sind kaum spürbare Vereinnahmungsversuche, denen sich der egozentrische Stephen entzieht. Bemerkenswert ist aber, wie er die Distanzierung vollzieht. Als sie gesprächsweise auf die Gemeinsamkeiten des Altirischen mit dem Hebräischen zu sprechen kommt, singt Bloom Stephen die ersten zwei Zeilen aus der Hatikwah vor, der späteren israelischen Nationalhymne; mehr als ein paar Brocken Hebräisch beherrscht er nicht. Der Gast revanchiert sich damit, dass er seinerseits ein Lied "über ein verwandtes Thema" singt, das sich als Geschichte von einem jüdischen Ritualmord an christlichen Kindern entpuppt.5

Bloom ist als "prädestiniertes Opfer" traurig, als er dies hört. Das Gespräch schleppt sich noch eine Weile dahin, bis Stephen den Vorschlag Blooms, bei ihm zu übernachten, ausschlägt; schließlich verlässt Stephen das Haus, und Bloom geht schlafen. Mit dem nächtlichen Monolog Mollys und ihrer Erinnerung, wie sie ihm damals das Jawort gegeben hat, klingt das Buch versöhnlich aus. Nach außen hin hat sich an Blooms Situation nichts geändert. Aber er hat gelernt, zu seiner paradoxen Identität als Judäo-Ungaro-Ire (oder vielleicht, als moderner Odysseus, auch noch Grieche) zu stehen, als Produkt vielfältiger Einflüsse, die ihn konstituieren, die er aber zugleich neu zusammensetzt. Er hat begriffen, sich als Kreuzungspunkt diverser Einflüsse zu sehen, als Schnittpunkt, aus dem heraus er seine Identität - als wie immer fragile Konstruktion - zu entwerfen hat.

Seine Selbstbehauptung wirkt so überzeugend, dass David Ben Gurion einmal erklärt hat, die Rabbis könnten ja sagen, Bloom sei kein Jude - für ihn wäre er einer. Seine Identität geht nicht in Fremdzuschreibungen auf, auch nicht in der des Jüdischen6. Sie besteht aus seiner in der Anfechtung behaupteten Menschlichkeit.

Es gab in der Joyce-Forschung da und dort Spekulationen, wie der Roman weitergehen könnte, ob es zu einer Versöhnung Blooms mit seiner Frau kommt. Müßige Fragen. Wenn wir heute auch nicht anders können, als die Kneipenszene als Vorwegnahme kommender Pogrome zu lesen, ist das seinerseits eine Projektion. Schließlich gibt es auch in der Kneipe Figuren, die widersprechen und Einwände gegen die Tiraden des "Bürgers" erheben.

So spüren wir, wie der Albtraum der Geschichte auch auf diesem Roman lastet, doch daß er, wie eingeschränkt auch immer und vielleicht nur für einen kurzen Moment, ein Modell des Widerstehens liefert.

Eine erweiterte Fassung mit Anmerkungen und Fußnpten finden Sie hier zum Download.