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Helmut Böttiger über deutschsprachige Gegenwartsautoren

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine neue Generation deutschsprachiger Schriftsteller hat sich in den neunziger Jahren etabliert und sowohl die Literatur als auch das literarische Leben des vereinigten Deutschland verändert. In vielen ihrer Bücher ist eingefangen, was in der Luft liegt, und da viel und oft auch Unausgegorenes in der Luft liegt, verliert man im Getümmel der Gegenwart schnell den Überblick. Eine kleine Hilfe bietet in diesem Falle Helmut Böttigers unter dem Titel "Nach den Utopien" vor kurzem erschienene Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von der Wende bis zur Gegenwart. Sie ist zwar nicht vollständig - es fehlen beispielsweise Autoren wie W. G. Sebald, Christoph Hein, Monika Maron, Gabriele Wohmann, Alexander Kluge und Uwe Timm -, doch wird man reichlich entschädigt durch informative Einzelporträts namhafter deutschsprachiger Gegenwartsautoren, durch genaue Beobachtungen, kluge Kommentare und kurzweilige Darstellungen.

Von einer Ausnahme abgesehen - nämlich von Thomas Strittmatter; er starb im September 1994 mit noch nicht einmal dreiunddreißig Jahren - stellt Helmut Böttiger, Jahrgang 1956, lebende Autoren vor, deren Oeuvre bereits erkennbar ist und deren Namen voraussichtlich auch in zwanzig Jahren noch nicht von der Bildfläche verschwunden sein werden. Es handelt sich dabei um oft sehr unterschiedliche Schriftsteller, deren Gemeinsamkeit einzig darin besteht, dass sie, nach Böttigers Dafürhalten, der Frage nach ihrer zeitlichen Gültigkeit standhalten und ihre Bücher zudem auch unterhaltsam sind.

Der Verfasser weist darauf hin, dass mit dem Ende der DDR zwei Welten aufeinander geprallt waren, die kaum etwas miteinander zu tun hatten. Im Osten wurde, schon als das sozialistische Staatswesen bestand, die Moderne auf eine ganze eigene Weise noch einmal erfunden. Im Westen war sie längst abgehakt. Dagegen bildete sich, etwa bei Wolfgang Hilbig oder Reinhard Jirgl, ein Ich heraus, das mit fundamentalen Widersprüchen lebte in einer Zeit, als sich das Leseland Bundesrepublik anschickte, ein Fernsehland zu werden. Bald dürfte es wohl keine Rolle mehr spielen, vermutet der Kritiker und Kolumnist Böttiger, wer aus dem Osten und wer aus dem Westen kommt. Doch werde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft neu akzentuiert. Auch sei in den letzten Jahren eine Literatur der Einwanderer deutlich hervorgetreten. Zu dieser gehören auch die Texte von Emine Sevgi Özdamar, die 1991 den Klagenfurter Bachmann-Preis gewann und Aufsehen erregte, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache war.

Mittlerweile geht es um die Auflösung des bürgerlichen Ichs, die laut Böttiger bei Botho Strauss in ganz anderer Weise reflektiert wird als beispielsweise bei Ulrich Peltzer, Marcel Beyer oder Ernst-Wilhelm Händler. Das Ich sei wohl noch das "gezeichnete Ich" Gottfried Benns. Aber es wird aufgezeichnet, so Böttiger, von diversen Speicherapparaten und findet sich in neuen Koordinatensystemen.

Was "Pop" in der Literatur hingegen sein kann, zeigt der Autor am Beispiel von Thomas Meinecke unter dem Motto "Pop ist alle Theorie". Vielfach schaltet und waltet hier eine anarchische Subjektivität.

Unter der Überschrift "Platzhirsche" findet man neben Christa Wolf, Martin Walser, Peter Handke (der viele Formen ausprobiert und dessen Abrechnung mit der Gruppe 47 einst "das Zeug zum Hit" gehabt habe) Günter Grass, der heute kaum noch als Schriftsteller wahrgenommen werde, sondern eher als Prototyp des sich einmischenden Intellektuellen, als eine gesellschaftliche Instanz.

Unter "Humor und Melancholie" lernen wir Wilhelm Genazino und Markus Werner näher kennen, unter "Die späte Moderne des Ostens" Wolfgang Hilbig und seinen Meuselwitz-Komplex, ferner Reinhard Jirgl, Durs Grünbein, Kathrin Schmidt und Herta Müller. Sogar ihr jüngstes, auf der letzten Leipziger Buchmesse vorgestelltes Buch "Der König verneigt sich und tötet" wird kurz erwähnt. Über Fritz Rudolf Fries wiederum bemerkt der Autor, anspielend auf dessen "Weg nach Oobliadooh", dass von ihm das Beste stamme, was in der DDR geschrieben worden sei.

Unter der Überschrift "Das Wissen, die Leere, das Ich" befasst sich Böttiger mit Botho Strauss, Ulrich Peltzer bis hin zu Robert Menasse und Ingo Schulze. Am Ende des Reigens stehen Elfriede Jelinek, Thomas Kling, Thomas Lehr und Brigitte Kronauer.

Nebenbei stellt Böttiger eine Veränderung im Prozess des Schreibens fest. Die Ausdrucksvielfalt sei unübersehbar geworden. Auch seien die neuen Medien durch die Informationsindustrie nicht ohne Einfluss auf die Literatur geblieben. Für Autoren sei es vorteilhaft, wenn sie mitspielten. Dabei komme es für sie darauf an, mikrophongewandt und kameratauglich zu sein, damit sie sich dem Publikum einprägen. Der Autor sinnt weiter darüber nach, dass heutzutage, Zeitungsschreiber Dichter werden können, ohne dass jemand wie in früheren Zeiten daran Anstoß nimmt. Den Anfang machte Elke Schmitter vor einigen Jahren mit ihrem Roman "Frau Sartoris". Die Erfolgsgeschichte von Georg Klein wiederum klinge wie ein "Groschenroman". In der Entwicklung des Verhältnisses von Literatur und Medien in der jüngeren deutschen Literaturgeschichte hat Böttiger drei entscheidende Stationen ausfindig gemacht: die Gruppe 47, den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb und das "Literarische Quartett", durch das, dank Marcel Reich-Ranicki, der bisherige Fremdkörper "Literatur" im Fernsehen restlos inkorporiert wurde. Allerdings habe der Kritikerpapst Geister gerufen, die er selbst nicht wollte. In der von Elke Heidenreich moderierten Nachfolgesendung werde grundsätzlich auf Kritik verzichtet. Stattdessen betreibe sie Literaturpolitik. Sie habe mitgeholfen, "Literaturkritik" zum populistischen Schimpfwort zu degradieren und "alles, was ein bisschen differenzierter mit Büchern umgeht", als unnütz und Zeitverschwendung zu verleumden.

Mit köstlicher Ironie beschreibt der Autor literarische Veranstaltungen im "Literarischen Colloquium Berlin" und in Klagenfurt sowie Dichterlesungen im siebten Stock des Bundeskanzleramtes.

Für alle Literaturfreunde ist Böttigers Band genau die richtige Lektüre. Schade nur, dass Autor und Lektorat die Mühe gescheut haben, ihm ein Personenregister mitzugeben. Dies hätte den Wert des Buches zweifellos gesteigert und aus ihm ein wichtiges Nachschlagewerk gemacht.

Titelbild

Helmut Böttiger: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
312 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3552053018

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