Wer hat die stärkeren Werte?

Martin Meyers Meyers Essay "Krieg der Werte"

Von Matthias RusseggerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Russegger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod". Dieser Satz steht auf einem Bekennerschreiben islamistischer Terroristen, das der spanischen Regierung nach dem Bombenattentat in Madrid am 11. März 2004 zugeleitet worden war. Er bestätigt nicht nur die Entschlossenheit zur Selbstaufopferung, für eine gerechte Sache in den Tod gehen zu wollen und zu können, er spiegelt auch wieder, wie sehr unsere Wert- und Moralvorstellungen, Lebensweisen und -ziele von denen der anderen abweichen können.

Aber, wie ist das möglich? Haben die modernen, westlichen Gesellschaften ihre Überlebensfähigkeit im Laufe der Geschichte nicht mehr als einmal erfolgreich unter Beweis gestellt? Welcher vernünftige Mensch konnte denn nach 1989 noch an der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsform als der einzig wahren, da bis heute ohne Alternative gebliebenen, zweifeln?

In Martin Meyers "Krieg der Werte" werden diese Fragen diskutiert, denn ein Krieg setzt nun einmal zwei oder mehrere Kriegsparteien voraus, die um den Sieg miteinander ringen. In diesem Falle also kämpfen die Werte der westlichen Welt gegen die der fundamentalistischen Terroristen. Erschienen ist dieses Buch im Jahre 2003, nach dem 11. September, nach dem Sieg der Koalition über die Taliban in Afghanistan, nach dem Einmarsch der (sich bereits auflösenden) Koalition im Irak, nach der Beseitigung Saddam Husseins, aber noch vor dem Aufflammen des zur Zeit vehementen Widerstandes gegen die westlichen Besatzungstruppen und bevor wieder vermehrt Terroristen, in großem Maße und überall auf der Welt, Menschen in die Luft sprengen - oder US-Soldaten irakische Gefangene misshandeln und demütigen. In weiser Voraussicht legt sich Meyer auch nicht auf einen Favoriten fest und hält sich fern von eventuellen Prognosen, wer den Kampf gewinnen wird.

Es geht Meyer eher darum, dem Leser anhand der geschichtlichen Entwicklung des westlichen Wertekanons zu zeigen, wieso man am 11. September so überrascht wurde, wieso man den Gegner so schwer versteht und dass, wenn man sich nicht der Schwächen des eigenen Wertesystems und der eigenen Moralvorstellungen bewusst wird, diese Diskepranz wohl auch nie verstehen wird.

Zum Verdeutlichen ein Beispiel: Der Wert und das Anliegen der Unversehrtheit des Lebens war laut Meyer unter den Menschen keine Voraussetzung, es gab nie einen Automatismus beim Menschen, den anderen zu schonen. Solches Verhalten musste mühsam eingeübt werden: War im Mittelalter das Leben kurz und (für den Großteil der Bevölkerung) mühselig, so war man sich dessen auch bewusst. Der Trost bestand einfach ausgedrückt darin, nach einem frommen Leben in den Himmel zu kommen; dem Sterben wohnte noch kein so großer Schrecken inne, das Leben war noch nicht so wertvoll. In der Frühen Neuzeit flammte mit der Hinwendung zur Antike eine "neue Lust am Dasein" auf, und seitdem erfährt das Leben gegenüber dem Transzendentalen in unseren Gesellschaften eine stetige Steigerung. Das Opfer des Lebens hatte jedoch zu allen Zeiten seine Bedeutung. Erst nach den beiden Weltkriegen, den Verwüstungen und unzähligen Toten, so Meyer, begann sich ein neues "Ideal des ewigen Friedens als politisches Regulativ und Ziel auch für ein zu schonendes und eminent zu achtendes Leben" herauszubilden. Die Frage laute nun, ob es überhaupt irgendeine geschichtlich erzwungene Konstellation geben könne, die dieses Opfer legitimiere.

Für die westlichen Gesellschaften wohl eher nicht. Islamistische Terroristen antworten entschlossen mit ja. Meyer zufolge erleben wir mit ihnen die Rückkehr der " politischen Theologie" in ihrer reinsten Form. Der Glaube, im Kontakt mit anderen Weltanschauungen und Wertvorstellungen Schaden nehmen zu können, gepaart mit einer zum absoluten Fanatismus getriebenen Hypermoral, gäbe dem Wort Überleben eine ganz neue Bedeutung. Dies noch verbunden mit einer Alles-oder-Nichts-Mentalität erkläre die Opferbereitschaft, zudem weiche die "religiös motivierte Fundamentallehre" ins Transzendentale aus. Der Tod bekommt so einen höheren Wert als das Leben.

Meyer stellt dem noch weitere Aspekte gegenüber: einen Werteüberschuss, basierend auf einer Unzahl von kurzlebigen Wahrheiten hier, die einzig wahren, fest verorteten Weltanschauung dort. Ideologieschwäche trifft auf ideologienkonservierenden Fanatismus. Die Überzeugung, die Vernunft und ihre daraus resultierenden logischen Schlussfolgerungen (bzw. Lebensweisen) seien für alle gleich gegenüber dem Bedürfnis, die angestammten, verbliebenen Gebiete des Islam abzuschotten.

Leider bleibt die Seite der ,Unvernünftigen' letztlich zu wenig berücksichtigt. Stets wird von der westlichen Welt und ihren Werten ausgegangen. Dies bietet sich für einen Autor aus der Schweiz natürlich auch an. Meyer bezieht sich sehr genau auf die Geschichte, auf (westliche) Philosophen, Denker, Autoren und stellt so auf anspruchsvollem Niveau und auf breiter Basis die Entwicklung der westlichen Wertvorstellungen dar. Die Fundamentalisten werden dann fast immer auf der Gegenposition festgemacht und der Imagination des Lesers überlassen. Auch diesmal bleibt der islamische Terrorist weitgehend unsichtbar. Die Frage bleibt auch diesmal: reicht es aus, sich das Bild des Gegners einfach in einem leicht verzerrten Spiegelbild seiner selbst vorzustellen?

Meyer empfiehlt die Rückbesinnung und Beschränkung auf Werte, die zu einem in Vernunft und Maß gestalteten Dasein führen: Widerstand gegen Äußerlichkeiten, Schicksalsfestigkeit, Freundschaft, Akzeptanz der Sterblichkeit, Abwehr verfeinerter Begierden. Dem ist zuzustimmen, bedeutet dies doch, dass man sich vorher bewusst gemacht hat, was mittlerweile für einen persönlich und in der Gesellschaft schützenswert und wertvoll erscheint, aber in Wirklichkeit nur Energien zerstreut und verschwendet. Oder, kriegerischer: Man muss erst seine Schwachstellen kennen, bevor man sich wirkungsvoll verteidigen (oder auch angreifen) kann.

Titelbild

Martin Meyer: Krieg der Werte. Wie wir leben, um zu überleben.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2003.
118 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3312003318

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