Das Große Verkommen

Robert Polidori fotografiert Pripjat und Tschernobyl

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

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Das Feuer brach in der Nacht des 26. April 1986 aus. Kurz zuvor war eine Explosion zu hören. Die Bewohner von Pripjat, einer Gemeinde von Kraftwerksmitarbeitern, wurden Zeugen, wie die Flammen aus dem Block 4 des Atommeilers von Tschernobyl schlugen. Was sie nicht wussten: Ein grob fahrlässiges Herumtüfteln am Sicherheitssystem, die Destabilisierung des Reaktors und die anschließende Detonation sollten zum größten zivilen Atomunfall aller Zeiten führen. Die folgende Evakuierung der Bevölkerung machte 116.000 Menschen aus den Städten und Dörfern im Umkreis von 30 Kilometern um das Kraftwerk heimatlos.

Noch heute ist Tschernobyl Zentrum eines Bannkreises mit einem Durchmesser von zehn Kilometern. Die Gegend ist immer noch schwer radioaktiv verseucht. Der Betonsarkophag, unter dem mehr als 200 Tonnen Uran und eine Tonne radioaktives Plutonium schwelen, zeigt vielfach Risse. Auch Pripjat bleibt eine verlassene Stadt. Im Mai 2001 fotografierte Robert Polidori die Hinterlassenschaften der Todeszone. Seine großformatigen Bilder reichen von Aufnahmen aus dem zerstörten Kontrollraum von Reaktor 4, über Bauruinen von Wohnkomplexen bis hin zu geplünderten Schulen und Säuglingsstationen. Noch in ihrer Verlassenheit erzählen diese Orte von den Menschen, die hier lebten.

Die Abwesenheit der Bewohner ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Stillstand. Im Gegenteil. Durch die geöffneten oder entglasten Fenster halten die Elemente Einzug. Schimmel macht sich auf den feuchten Decken breit. Die Feuchtigkeit wandert die Wände herunter und lässt die zumeist türkise Farbe in großen Stücken abplatzen. Am Boden angekommen, beginnt sie die Möbel aufzuweichen und sorgt für fleckigen Bewuchs auf Teppichen und Polstermöbeln. Wie ein geheimnisvoller Aussatz kriecht die Zeit unter die Zivilisationstapete, wirft Falten, frisst sich weiter und schält sie vom Beton. Man riecht den Moder nicht nur, man sieht ihn auch. Das Verkommen hat seine ganz eigenen, fast malerischen Farben.

Auch nebenan geht das Leben weiter. Die für Rettungs- und Aufräumarbeiten verwendeten Lastwagen bilden einen riesigen Autofriedhof, auf dem sie friedlich vor sich hin rosten. Manche wurden von den Rettungskräften zum Schutz vor radioaktiver Strahlung mit einem Bleimantel versehen, manche von Plünderern ausgeweidet und ihrer mechanischen Teile beraubt. Nicht weit entfernt rottet schwimmendes Gefährt im kontaminierten Wasser des Pripjat-Flusses seiner gänzlichen Unbrauchbarkeit entgegen: Kähne und Frachtschiffe. Einige von ihnen sind leck geschlagen und kippen langsam in Richtung Wasseroberfläche ab.

Überall macht die Natur Boden gut. In den Rissen des Straßenbelags wuchern die Gräser. Büsche wachsen unkultiviert und verleihen den tristen Plattenbauten der Kleinstadt Tschernobyl ein gespenstisches Aussehen. Hier wohnt kein Mensch. Einzelne Häuser und kleine Anwesen beginnen unter Blätterdächern und hinter grünen Wänden zu verschwinden. Doch die Friedfertigkeit dieser verwunschenen Areale ist trügerisch, die vordergründige Reparadisierung des Steingartens Eden täuscht. Im Unterholz, im Schatten der Büsche und Bäume hält sich etwas verborgen, das eben seine unsichtbaren, aber tödlichen Finger nach dem Besucher ausstreckt. Hier kauert der Dämon Fallout.

Und der hat alle Zeit der Welt, um nicht den profanen Ausdruck der radioaktiven "Halbwertszeit" ins Spiel bringen zu müssen. Der Reaktorunfall verdaut sich unendlich langsam. Trotzdem hat wenigstens hier im Westen eine allgemeine Amnesie eingesetzt. Wäre das Unglück selbst nicht im Bewusstsein der meisten endgelagert und auf Halde gestellt, würde man die Stirn auch im Hinblick auf die strahlende Zukunft Tschernobyls in tiefe Sorgenfalten legen. Doch mit diesem Vergessen und Vertuschen will Polidori sich nicht abfinden. Er klagt an, will Betroffenheit erzeugen. Wenigstens beabsichtigt er das.

Sieht man genauer hin, erkennt man, dass der Fotograf die Rechnung ohne seine eigenen Bilder gemacht hat. Die nämlich ästhetisieren die Katastrophe verlässlich. Tische und Stühle präsentieren auf ihren Oberflächen Relikte einer vergangenen Geschichte, beschienen von einem warmen Sonnenlicht. Bücher haben ihre aufrechte Haltung aufgegeben und lassen sich in den Staub sinken. Eine leer stehende Turnhalle feiert für immer Große Ferien. Heilige Stille ist eingetreten. Polidori scheint nicht zu ahnen, was er da eigentlich abgelichtet hat: Die Schönheit des Verfalls. Das Atmen der Dinge.

Titelbild

Robert Polidori: Sperrzonen - Pripjat und Tschernobyl.
Steidl Verlag, Göttingen 2004.
112 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-10: 3882439211

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