Die Einheit des Faches

Literaturwissenschaft und Linguistik in einem Sammelband von Ulrike Haß und Christoph König

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Zitat geistert durch diesen Band, vom Vorwort bis in mehrere der Aufsätze, ein Zitat, das heute einigermaßen befremdlich klingt: "Denn wir begreifen jetzt, daß ein Linguist, der sich gegenüber der poetischen Funktion der Sprache verschließt, und ein Literaturwissenschaftler, der sich über linguistische Fragen und Methoden hinwegsetzt, gleicherweise krasse Anachronismen sind." Das dekretierte Roman Jakobsohn 1960. Die Germanisten um 1960 konnten mit jenem "wir" allerdings kaum gemeint sein; weder Werkimmanenz noch die gerade neu erwachende Neigung zur Literaturgeschichte gaben linguistischen Fragestellungen Raum. Nimmt man den Satz als Forderung, so ist heute eine Germanistik, die bereits im Grundstudium Schwerpunktsetzung erlaubt, von einer Einlösung weiter entfernt denn je. Liest man ihn nun als Prognose, so ist er deshalb allenfalls von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse.

Das war nicht immer so. Zehn Jahre nach Jakobsohns Satz sprachen manche Indizien für eine erneuerte Kooperation der Fachteile, die spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert auseinander gedriftet waren. Die Rede war von einer strukturalistisch erneuerten Linguistik als Leitdisziplin, ab 1971 modellhaft skizziert in den von Jens Ihwe herausgegebenen drei Bänden zu "Literaturwissenschaft und Linguistik". Rasch aber flaute die Begeisterung ab. Schon um die Mitte der siebziger Jahre war von einer Krise des Zusammenwirkens der Fachteile die Rede, die dann bald dem zuvor gewohnten Nebeneinander Platz machte. Die Gemeinsamkeit des Faches besteht, so scheint es heute, vor allem in der Aufgabe, Deutschlehrer auszubilden; und vielleicht noch darin, dass unter dem gegenwärtigen üblen Zwang, jeden Zuschuss unter Bedingungen der Markteffizienz zu rechtfertigen, Geld für vorhandene Strukturen wohl leichter zu behalten als für neue erst zu erkämpfen ist.

Ulrike Haß und Christoph König verfolgen in ihrem Sammelband freilich nicht nur den wissenschaftshistorischen Zweck, einen kurzfristigen Aufbruch nachzuzeichnen, solange die Akteure noch davon berichten können; und manche davon, besonders Joachim Gessinger in seinem Beitrag zu "Literaturwissenschaft und Studentenbewegung" im einleitenden historischen Teil "Übergänge", wissen hier bei bei allem theoretischen Anspruch erhellende Details nachzuzeichnen, die es künftiger Wissenschaftsgeschichte erleichtern werden, sich nicht allein an der zuweilen irreführenden Abfolge methodischer Postulate zu orientieren. Zum "antiquarischen" Zweck, so die Herausgeber im Vorwort, tritt der "kritische": ein gegenwärtiges Problem des Fachs in historischer Perspektive zu beleuchten und so einen Beitrag zur erneuten Verständigung der Fachteile zu leisten.

Die Bilanz freilich ist ernüchternder, als die Herausgeber und viele Beiträger es wohl beabsichtigten. Zum einen verraten Details, dass der Aufbruchselan um 1970 doch auf einen relativ kleinen Teil der Fachgemeinschaft beschränkt war. "Machen Sie sich keine Illusionen", soll ein Professor seinen Doktoranden gesagt haben, "was wir hier in Bielefeld [...] machen, das interessiert an den allermeisten Instituten in Deutschland überhaupt nicht!" Ob nach Jahrzehnten wörtlich zitiert oder nicht: das ist gut erinnert, weil es bezeichnet, wie eine linguistisch geprägte Literaturwissenschaft sogar zur Zeit des größten Optimismus Minderheitenprogramm war - und umgekehrt die strukturalistisch erneuerte Linguistik von Poesie nur ausnahmsweise etwas wissen wollte.

Zum anderen stand wohl das Programm, das um 1970 als Modernisierung galt, überhaupt auf schwachen Füßen. Auf der empirischen Ebene zeigt das der Aufsatz von Achim Geisenhanslüke und Oliver Müller zur Gründungsphase der "Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik": Die programmatisch geforderte Verschränkung der Fachteile musste auch deshalb zurücktreten, weil zu wenige Beiträger diese überhaupt leisten konnten oder wollten. Zwar stellen im Block "Methoden" Klaus-Michael Bogdal mit der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse und Jürgen Link mit seiner Analyse von Kollektivsymbolik noch heute aktuelle literaturwissenschaftliche Modelle vor. Doch betont Bogdal, wie seine an Foucault anschließende Methode erst durch Distanzierung von jener Strömung der Linguistik, die sich an vorgeblich harter Naturwissenschaft orientiert, möglich wurde, und sucht Link nach Legitimation, indem er die Kompatibilität seiner Ergebnisse mit der einer hermeneutisch operierenden Literaturwissenschaft hervorhebt. Beides stimmt und führt zur Vermutung, dass die Produktion von Bogdal und Link auch ohne jede Linguistik möglich gewesen wäre. Aus linguistischer Sicht geht Dietrich Busse der Diskursanalyse nach und muss doch die Distanz seines Fachs zu diesem Ansatz beklagen. Die möglichen Erkenntnisse, die Busse skizziert, sind für Literaturwissenschaftler interessant; so interessant wie viele Erkenntnisse von Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern oder Psychoanalytikern. Eine privilegierte Bedeutung der Linguistik für die Literaturwissenschaft ist auf diesem Wege nicht zu begründen.

Bogdal und Link zielen methodisch aufs Ganze und erweisen doch nur die Differenz; ähnlich François Rastier mit seinem bedenkenswerten Plädoyer für eine "materiale Hermeneutik", dem die abschließende Perspektive, an eine Korpuslinguistik anzuschließen, doch nur aufgesetzt erscheint. Konsequent betont dagegen Nikolaus Wegmann, der in seinem Beitrag einsichtig den Literaturstreit als einheitsstiftendes Moment der Literaturwissenschaft herausarbeitet, die Eigengesetzlichkeit der Beschäftigung mit Literatur.

Immerhin wären dem punktuelle Berührungen entgegenzuhalten, wie sie besonders in den Aufsätzen der Blöcke "Institutionen" und "Gemeinsamkeiten" benannt werden sollen. So kann Gerd Antos Aspekte der Angewandten Linguistik zeigen, die auch für Literaturwissenschaftler interessant sein können. Schon Christopher Wells' Versuch, von Seiten der Auslandsgermanistik die Nähe der Fachteile zu zeigen, überzeugt jedoch kaum. Zwar sind dort in der Ausbildung Sprachlernen und die Lektüre von Literatur eng verbunden. Dennoch dürfte in diesem Kontext linguistische Forschung keine Rolle spielen und werden allenfalls die Handreichungen, die von Wissenschaftlern im Bereich Deutsch als Fremdsprache entwickelt wurden, je nach praktischem Erfordernis und individueller Lehrerfahrung eingesetzt. Was Wilfried Barner zur Rhetorik-Forschung berichtet, erweckt den Anschein, dass die Linguistik dafür wenig Interesse aufgebracht hat und auch erst eine nach literaturwissenschaftlichen Vorstellungen umgewandelte Linguistik die Forschungsfelder bearbeiten könnte, die Barner überzeugend benennt. Die Stilistik, in Beiträgen von Ulla Fix und Hans-Harald Müller abgehandelt, bietet vielleicht aktuell noch weniger Ansatz zu Gemeinsamkeiten. Seitdem die Linguistik sich von der normativen Pflege der Muttersprache ab- und der empirisch gestützten Suche nach Gesetzlichkeiten in Sprachsystem und -gebrauch zugewandt hat, blieb Stilkunde ein Feld für sprachlich interessierte Laien. Deren Ratschläge zu beachten wäre zwar so manchem Literaturwissenschaftler anzuraten; welche Grundlage aber ein gemeinsames Forschungsprogramm haben sollte, bleibt unklar. Ulrike Haß zieht dann in ihrem Beitrag zu "Sprachmodell und Literatur in der Sprachwissenschaft" das Fazit, dass "Literarizität und Historizität als Kategorien eines Sprachmodells irrelevant" werden.

Und die Kulturwissenschaft, von der man nun allenthalben Rettung erhofft? Andreas Gardt skizziert im abschließenden Beitrag des Bandes eine solche Perspektive. Sein Beispiel ist die Luther-Bibel. Die Befunde, zu denen er auf übersetzungstheoretischer, syntaktischer und semantischer Ebene gelangt, überzeugen zwar. Sie wären einem aufmerksamen Literaturwissenschaftler indessen auch ohne jeden Rückgriff auf Linguistik möglich, während ein Linguist den von Gardt in der Tat erwogenen Einwand formulieren könnte, hier werde der Textkorpus einer Person überbewertet.

Ergebnis: Die Einheit des Fachs ist seit einem Jahrhundert Illusion. Literaturwissenschaftler und Linguisten können zwar voneinander lernen, aber nur wie eben Wissenschaftler benachbarter Fächer überhaupt. Man muss das nicht beklagen, man kann es zur Kenntnis nehmen; ändern wird man es nicht.

Titelbild

Ulrike Haß / Christoph König (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
301 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3892446989

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