Vom Überleben

György Konrád führt mit erstaunlicher Lakonie durch seine Kindheitserinnerungen

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

György wird in den 1930er Jahren in eine ungarische Familie des höheren Bürgertums hineingeboren. Als die Deutschen Ungarn besetzen, ist er elf Jahre alt. Das Schreckliche, das geschieht und ihm zugleich sein Glück bedeutet, steht gleich am Anfang des Romans: Als einzige Kinder im Ort haben seine Schwester und er den Nationalsozialismus überlebt. Die 200 übrigen Kinder sterben in Auschwitz. Damit ist das Paradox seines Lebens und Überlebens eröffnet: Sein Glück beruht auf Denunziation. Eine Anzeige des Dorfkonditors gegen die Familie (dessen Gründe bleiben dem Erzähler und dem Leser im Dunkeln) zwingt die Geschwister zur Flucht. Einen Tag, bevor ein Transport die Bevölkerung ins Konzentrationslager bringt.

György Konrád, im vergangenen Jahr 70 geworden, meldet sich seit den späten 60er Jahren mit Eifer als Essayist und Romancier zu Wort. Seine Texte, unter anderem in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlicht, widmen sich einem eng mit seiner Biographie verbundenen Themenkomplex: der ungarisch-jüdischen Identität. Grundlagen dessen, was ihn selbst, seine Identität ausmacht, lassen sich aus seinem schmalen Roman mit dem spektakulär-schlichten Titel "Glück" lesen. In Ich-Form erzählt dort ein Protagonist, der wenig Anlass dazu gibt, diesen Roman nicht als autobiographisch zu werten. Er erzählt die Geschichte seiner Familie, Kindheitserlebnisse und Erinnerungsfetzen aus den folgenden Jahrzehnten.

Konráds Erzähler springt zwischen den Zeiten, zum Schluss gar ins Jetzt, als der dreifach Verheiratete zur Jahrtausendwende an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Er gerät ins Plaudern: "Wer in der Schulklasse das schönste Mädchen und zugleich der größte Wildfang war, das wußten wir alle. Wer, das will ich verraten: Baba Blau, deren dicken, dunklen Zopf anzufassen und daran ein bißchen zu ziehen ein Genuß war". Er geht mit Beschreibungen ins Kleine, schildert Gerüche und Stoffe im Eisenwarenladen seines Vaters. Frappant nüchtern sind im Kontrast die großen Ereignisse gewandet: Dass Vater und Mutter nach dem Krieg aus einem österreichischen Konzentrationslager zurückkehren, ist in einen einzigen faktischen Satz gefasst.

"Glück" offenbart ein derart kontinuierlich empfundenes Ich, dass sogar die Sprünge in den Jahren und Jahrzehnten nur anhand äußerer Daten, nicht durch die Erzählhaltung kenntlich werden. "Seit ich mich erinnern kann, fühle ich mich als ein und dasselbe Wesen und nicht als ein anderes". Der Elfjährige benimmt sich wie ein Großer: "Und ich sprach im stillen Kämmerlein nach dem abendlichen Ausschalten des Lichts schon seit Jahren meine politischen Gebete".

Ein besonderer, feiner Humor ist diesem Erzähler zu eigen. Er verwandelt bedrohliche, unmenschliche Situationen ins Groteske und nimmt ihnen so den Schrecken. Kaum einmal gerät die Komik bitter, auch nicht im Dialog mit einem toten Soldaten, der den Kindern auf der Suche nach Essbarem im Weg ist: ",Entschuldige bitte', sagten wir und versuchten, ihn von der Kiste zu wälzen.,Nichts entschuldige ich', entgegnete der Soldat gleichmütig.,Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich auf dieser Kiste sterben mußte, nachdem ich auf der Kellertreppe angeschossen worden bin und mich bis hierher geschleppt habe. Ich verstehe nicht einmal', fuhr der Soldat fort,,wie ich in den Keller gelangt bin. Ihr könnt in dieser Kiste ziemlich gute, wenn auch von außen weiß gewordene, mit anderen Worten vielleicht verschimmelte Knackwürste finden, die nach vorsichtigem Abkratzen der weißen Schicht genießbar werden'".

Die Erlebnisse des Krieges, das Sterben der Nächsten um ihn herum, die Bedrohung des eigenen Lebens - sie nehmen György nicht seine Menschenfreundlichkeit. Früh wird dem Jungen bewusst, dass ihm, dem wohlhabenden Juden, nach dem Leben getrachtet wird: "Seit meinem fünften Lebensjahr wußte ich, daß sie mich, sollte Hitler siegen, töten werden". Doch beschließt er, dass alle Bedrohung gegen ihn nicht auf Bösartigkeit, sondern auf Dummheit beruhen muss - und vielleicht bewahrt er mit dieser Haltung seine Nähe zum Mitmenschen. Der Schriftsteller György Konrád wurde für seine Geisteshaltung 1991 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt.

Titelbild

György Konrád: Glück.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Hans Henning Paetzke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
156 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518414453

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