Ein Traum vom Schreiben

Hannelore Schlaffers Essays über "Das Alter"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema "Alter" boomt: Nachdem die Werbung begonnen hat, die Älteren als kauftüchtige Konsumenten zu entdecken, bekennen sich die öffentlich-rechtlichen Sender zur Zielgruppe der über 49-Jährigen, und zur Jahrtausendwende erwies das "F. A. Z."-Feuilleton seinen Lesern Reverenz mit der Reihe "Das Moses-Projekt"; inzwischen feiert "F. A. Z." -Mitherausgeber Frank Schirrmacher Bestsellererfolge mit dem Buch "Methusalem-Komplott".

Die Hinwendung zu alten Menschen trägt der demographischen Entwicklung Rechnung und dem Umstand, dass Alt-Werden ein Schicksal darstellt, das jeden ereilt, der nicht den Tod vorzieht. Aus der zunehmenden Häufigkeit und Unausweichlichkeit des Alterns mag sich die Tendenz erklären, den dritten Lebensabschnitt euphemistisch zu benennen, wie man ja auch den moderaten Komparativ "älter" dem barschen "alt" vorzieht, und ihn in einem positiven Licht zu sehen. Inwieweit diese Mentalität und der optimistische Alters-Diskurs allerdings der verführerischen Scheinwelt der Werbung folgen (und nicht umgekehrt), wäre ebenso zu bedenken wie die Frage, ob die neue Offenheit, die den Alten alles zugesteht, wovon die Jungen träumen - vom ausschweifenden Sexualleben über die Weltreise bis zum Extremsport - ihrerseits repressiv wirkt. Die Forderung bis ins hohe Alter wach, flexibel, mobil, unternehmungslustig, am Weltgeschehen interessiert zu sein und sich sinnvoll zu beschäftigen, ist nicht weniger bedrückend als der nunmehr überwundene Anspruch, im Alter habe man sich in Beschaulichkeit zurückzuziehen, kontemplativ die Früchte des Erwerbslebens zu genießen und ansonsten gelassen dem Tod entgegenzuwarten.

Das Ideal gelassener Überlegenheit, abgeleitet aus klassischen Traktaten über das Alter wie Ciceros "De senectute" (44 v. Chr.), hat lange Zeit und nachhaltig die Vorstellungen über das Alter bestimmt, nicht zuletzt, indem es das Alter konzeptionell völlig von der Erfahrung der Krankheit löste, wie Hannelore Schlaffer in ihrem Essay "Krankheit und Schönheit" nachzeichnet. Der Text ist der erste von fünf zum Teil zuvor unabhängig publizierten Essays, die jetzt in einem Bändchen der bibliophilen "Bibliothek für Lebenskunst" des Suhrkamp Verlages vorliegen.

Das Buch vereinigt alle Vorzüge und Ärgernisse einer solchen feuilletonistischen Publikationsgeschichte. Der kulturwissenschaftliche, wenn auch inhärent literaturwissenschaftliche, Zugang zum Thema pflegt den schweifenden Blick, der literarische Motive, historische Anekdoten und tagesaktuelle Ereignisse gleichermaßen erfasst und der es vermag, zeitlich, räumlich oder medial Fernes perspektivisch so anzunähern, dass Ähnlichkeiten ins Auge fallen, Bezüge deutlicher, Unterschiede offensichtlicher werden. Zuspitzung, Verallgemeinerung und persönliche Verve begründen indes eine diskursive Nähe der Ausführungen zur engagierten Frauenzeitschrift, und die Tendenz zum name-dropping verstimmt: Texte und Autoren werden nur so oberflächlich gestreift, dass der nicht mit ihnen Vertraute kaum einen Gewinn aus ihrer bloßen Nennung ziehen dürfte. Wer die angeführten Werke hingegen kennt, erfährt nicht nur nichts Neues; er erkennt im Beschriebenen auch oft die eigenen Lesererinnerungen kaum wieder, so pauschal und zuweilen forciert fokussiert auf einzelne Motive sind die Ausführungen, so wenig scheint in ihnen auf, dass die literarischen Quellen auch poetische Zeugnisse sind.

Gleichwohl hat Hannelore Schlaffers Buch zwei unbestreitbare Verdienste: Es wurde von einer scharfsichtigen Intellektuellen und einer der wenigen Germanistikprofessorinnen in der Generation der jetzt über 60-Jährigen geschrieben. Und: Es reflektiert das Problem der Autorschaft im Zusammenhang mit dem Thema ebenso wie den Sonderfall der weiblichen Autorschaft als geschlechtsspezifischen Blick auf das Alter, denn: "Sobald sich ein Autor entschließt, über das Alter zu schreiben, beharrt er auf der Definition des Alters als eines Zustandes des gesunden, denk- und handlungsfähigen Menschen. Krankheit und Verfall aus der Definition auszuschließen gehört selbst zum Leitgedanken der traditionellen Rede über das Alter." Und: "Auch im Alter gibt es zwei Kulturen."

Aus dem Spannungsverhältnis dieser Kernthesen, der furchtsamen Abspaltung von Krankheit und Tod vom Phänomen des Alters einerseits und dessen Umkodierung zur zweiten Jugend andererseits, entwickelt Schlaffer die kulturhistorischen, gesellschaftspolitischen und geschlechterspezifischen Konsequenzen: "Da die Männer nicht zugeben wollen, wie wichtig ihnen die Illusion der Jugend, die erotische Bereitschaft also, ist, haben sie die unangenehme Aufgabe, tatsächlich zu altern, den Frauen übertragen."

Während die Modifikationen, die das Bild vom alten Menschen erfahren hat, dem Mann erlauben, seine mittleren Jahre einfach auszudehnen, indem er nicht zuletzt durch das Prestigeobjekt der jungen Gefährtin oder zweiten, dritten Ehefrau an der Aura der eigenen Potenz festhält, hat sich die Situation für Frauen im Alter keineswegs verbessert, eher im Gegenteil: Ist der alternde Mann mit junger Geliebten von der Witzfigur, die er im mittelalterlichen Schwank abgab, über die peinlich-tragische Figur, als die er noch bei Goethe auftritt, nunmehr zur bewunderten Persönlichkeit geworden (als Beispiele führt Schlaffer Schröder und Schrempp an, inzwischen ließe sich Außenminister Fischer hinzufügen), so altert die Frau "von der Pubertät an", insofern ihr vom Moment ihrer ersten erotischen Attraktivität an mit deren Verlust gedroht wird, nicht zuletzt von einer vorgeblich hilfsbereiten Kosmetikindustrie.

Der Beitrag "Todesangst und Lebenshunger" überträgt das Modell der Aufspaltung und Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern auf die interne Struktur des Alters. Weil keine "allgemeine Vorstellung von dem, was Alter sei und wann es beginne, besteht", umspanne es inzwischen drei Epochen: "die ersten Pensionsjahre, das altersschwache Greisenalter und die Sterbezeit." Während zumindest die erste Phase von den in der Geriatrie so genannten "jungen Alten" genossen werde wie eine zweite Jugend, übernähmen die "alten Alten" in einem arbeitsteiligen Prozess, stellvertretend für die Gesamtgesellschaft und möglichst deren Blicken entzogen, die Aufgabe, sich "ums Sterben zu sorgen", die eigentlich allen Alten übertragen sei. Der aktive "Senior" aber verberge seine "Todesangst hinter der Lebenslust" und kämpfte, ganz "Handwerker seines Wohlbefindens", als Anhänger des Fitness- und Ernährungskults darum, das biologische Alter hinauszuschieben.

Der zentrale und längste Essay "Charaktere" zeichnet eine historische Entwicklungslinie vom "Staatsmann", über den "Großvater", den "großen Alten" und den "Lebensmüden" bis zu den "Senioren und Seniorinnen" der Gegenwart: "Der Staatsmann" portraitiert mit Cicero den ersten Vertreter einer Altersphilosophie, die von der Mitte des Lebens her denke und das Ziel habe, das Verhältnis unter den Generationen zu organisieren, auch indem sie die Jungen auf ihren Platz verweise. Das Alter werde gepriesen, weil es auf Erfahrung fuße und seine Würde auf der Erscheinung des reinen Geistes gründe. Das Lob des Alters stehe indes nicht im Dienst der Verlängerung des privaten Lebensgenusses, sondern verteidige Autorität im Sinne des Staatswesens. Dieser Machtanspruch, kaschiert als Würde und Weisheit, finde sich auf die private Sphäre übertragen und dort verkörpert durch den Großvater. Dessen Wirkungsmacht sei zwar sozial eingeschränkt und werde literarisch seit dem 19. Jahrhundert mit der Erfindung von 'Kindheit' und 'Familienglück' verniedlicht; die durch Ehescheidung in die Situation von Alleinerziehenden Gebrachten des ausgehenden 20. Jahrhunderts hätten aber die Allianz von Großeltern und Enkel-Generation gestärkt: "Die Alten sind", schließt Schlaffer, "im Jahrhundert der Singles die Träger der Familienideologie." Dass hier die Trennschärfe zwischen den role models von Großmutter und Großvater verloren geht, liegt auch daran, dass Schlaffer einerseits ihren Essay am Ordnungsprinzip männlicher Charaktere ausrichtet, um ihre These von der Kontinuität männlicher Definitionsmacht des Alters von Cicero bis Améry zu belegen, andererseits aber auf kultur- und gegenwartskritische Seitenhiebe allgemeinerer Natur nicht verzichten mochte.

Überzeugender gerät "der Große Alte", eine in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Bereich der schönen Literatur erschaffene Fiktion, die die politische Funktion des alten Staatsbürgers poetisiere. Den Prototypus des Großen Alten verkörpert Goethe, aber auch Platon, Adenauer, Leonardo, Tizian, Mommsen, Tolstoi und in der Gegenwart zählt die Verfasserin Jünger und Gadamer zur Riege derer, deren reale Funktionslosigkeit dadurch kompensiert würde, dass man ihr 'Genie des Alters' verehre. So würden die Wohnsitze der göttlichen Alten zu "Wallfahrtsorten" oder "Gnadenorten", wie es bei Thomas Mann heißt, der in seinem Essay über Goethe und Tolstoi Proben seiner Geronthophilie gibt. Sie weisen voraus auf Manns eigene Präsentation und Repräsentation als "großer Alter", wie sie zuletzt in Breloers "Mann"-Film zur Schau gestellt wurde.

Im 20. Jahrhundert träten im Diskurs über das Alter erstmals Sarkasmen offen zu Tage und zerstören die rhetorische Fiktion eines glücklichen Alters. In Jean Amérys Schrift "Über das Altern. Revolte und Resignation" sieht Schlaffer die Gründungsurkunde einer unverstellt depressiv-zynischen Sicht auf körperlichen und seelischen Verfall. Aus dieser Perspektive bedeutet Altern "Weltmißlingen" und den Verlust von Ich-Identität: "Ich bin Ich im Alter durch meinen Körper und gegen ihn: ich war ich, als ich jung war, ohne meinen Leib und mit ihm. Die Qualität meines sich gegen die Vernichtung hin bewegenden Körpers wird zur neuen Qualität eines transformierten Ich." (Jean Améry)

Die Verdrängung der narzisstischen Kränkung sei die Voraussetzung dafür, "daß das Alter wieder aufersteht - als wohlversorgter Ruhestand" von "Seniorinnen und Senioren". Diese erlebten die für frühere Generationen problematische Phase ihres Lebens als glücklichste, sofern ihr finanzieller und gesundheitlicher Status sie zu den "Woopies" ("well off older people") oder den "Wollies" ("well income old leasure people") gehören lässt. Dass sie sich, laut Statistik, 14 Jahre jünger fühlen, als sie sind, und glauben, acht Jahre jünger auszusehen, und dass diese Diskrepanz mit steigendem Alter und höherem sozialen Status zunimmt, mag den Leser amüsieren. Die Scheinsignifikanz solcher Untersuchungsergebnisse, die letztlich maßstabslos sind, denn wer weiß schon, wie man sich als 77-Jähriger fühlt oder als 80-Jährige aussieht, thematisiert Schlaffer nicht. Dafür widmet sie sich einem anderen, weniger diskurshistorischem als sozialgeschichtlichem Phänomen, der Verbürgerlichung aristokratischer Gesten und Lebensformen in der Vita jener, die in "Seniorenresidenzen" lebend, ihre Selbstverwirklichung im Seniorenstudium, Bildungsreisen, Kulturgenuss und Gärtnerfreuden suchen. Die neuen kultivierten Lebensformen kommen Professoren und Kustoden zugute, also Berufsständen, die ihren Achtungsverlust in der Gesamtgesellschaft im gar nicht so kleinen Kreis ihrer alten (Zu-)Hörer ausgleichen können. Dass der Titel "Senior" in seiner maskulinen Form an "Senex" und "Senator" erinnert, verleihe den "Senioren" eine Würde, die den "Seniorinnen" fehle. Und das nicht nur qua Titel. Die alternde Ehefrau könne allein durch ihre Alltagsaufsicht über den pensionierten Ehemann Einfluss ausüben und ihren Wirkungsraum erweitern - und diese Möglichkeit nutze sie. Schlaffers Beobachtungen einkaufender Ehepaare sind ebenso treffend wie klischiert; sie setzen dem Text kabarettistische Lichter auf und erlauben zugleich weit ausholende, zuweilen auch fragwürdige Assoziationen. Und das ist vielleicht sogar gewollt.

Denn während das Thema "Der alte Mann und das Mädchen" als traditionsreiche Erscheinung in Kunst und Leben dem Mann ein probates Verjüngungsmittel zur Verfügung stelle, das heute gesellschaftlich akzeptiert, wie Schlaffer glaubt, sogar adoriert wird, bleibt der sich gegen das Alter stemmenden Frau nur die Rolle der "unwürdigen Greisin". Das von Brecht am Beispiel seiner Großmutter gefeierte Rollenmodell sieht Schlaffer auch durch die alte Bettina von Arnim verkörpert, die tat, "was jede intelligente alternde Frau gern täte: lieben, denken, schreiben, Reden schwingen, publizieren - eben frei sein."

Schlaffers Buch als Erfüllung dieses Wunsches zu begreifen lässt manche seiner Schwächen als Stärken erscheinen, und das kulturwissenschaftliche Schwadronieren der Autorin als ein 'Reden Schwingen' im öffentlichen Raum, das Aufmerksamkeit ebenso garantiert wie Zustimmung (der Leserinnen). Vielleicht ist das eine weibliche Entgegnung auf das männliche Modell des Publizierens als Wunsch nach "Nachhaltigkeit" und Dauer: die Versicherung der Präsenz in der Gegenwart und die Demonstration einer intellektuellen Vitalität, die sich wenig Zügel anlegen lässt.

Titelbild

Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
110 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518414925

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