Könige im eigenen Land

Thomas Stangls Debut-Roman führt in ein imaginäres Timbuktu

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selten waren sich die Kritiker so einig wie bei dem Debutroman des 38-jährigen Wiener Schriftstellers Thomas Stangl. Der Rezensent der "Frankfurter Allgemeinen", Tilman Spreckelsen, fand seinen Erstling "Der einzige Ort" einfach grandios. Roger Willemsen lobte im Literaturclub das Buch, an dem sein Verfasser zehn Jahre lang geschrieben hat, über alle Maßen, und seine Mitstreiter stimmten ihm zu.

Zwei Europäer reisen Anfang des 19. Jahrhunderts auf unterschiedlichen Wegen, ohne voneinander zu wissen, nach Timbuktu. Der eine, ein Franzose mit Namen René Caillié, reist auf eigene Faust und wird von keinem unterstützt. Er nähert sich, als Moslem verkleidet, über den Senegal der sagenumwobenen Wüstenstadt. Der andere, der schottische Major Alexander Gordon Laing, bricht von Tripolis auf. Er reist im offiziellen Auftrag der Royal Society mit einer Karawane durch die Sahara nach Timbuktu. Zuvor weilt er einige Zeit beim Konsul in Tripolis und gewinnt dort die Zuneigung seiner Tochter Emma.

Beide, der Schotte und der Franzose, sind Afrika verfallen und haben eine Vision von dem Ort, den sie ansteuern. Timbuktu ist für sie, wie für andere Forscher vor ihnen und nach ihnen, ein magischer Ort, ein visionäres Ziel, ein mythisches Zentrum der Geschichte. Dabei haben beide keine rechte Vorstellung von dem, was sie erwartet. Ihr Ehrgeiz und ihre Träume treiben sie an - bis an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit. Statt der erwarteten Glücksmomente müssen sie lange Wartezeiten, beschwerliche Wanderungen und unsägliche Strapazen in Kauf nehmen. Mehr tot als lebendig schleppen sie sich oft dahin, der eine wie der andere. Kopfschmerzen und Hitze quälen sie; Regen, Leere und Finsternis machen ihnen zu schaffen. Das Gehen bereitet vor allem Laing Schmerzen. Fieberträume suchen ihn heim; die Wunden an seinen Füßen wollen nicht heilen. Er hat Schmerzen, die kaum noch beherrschbar sind, und gerät so in einen "Zustand minimalen Funktionierens".

Caillié wiederum weiß am Ende nicht mehr, zu welchem Gott er betet. "Gegrüßet seist du, Maria voller Scheiße, die Frucht deines Leibes ist verfault", kommt schließlich in einem kaum hörbaren Gemurmel über seine Lippen. Am Ende haben beide jegliches Zeit- und Ortsgefühl eingebüßt und fühlen sich in einem glühenden Afrika ganz verloren, zumal sie am Ziel ihrer Wünsche eine deprimierende, graue Stadt empfängt, ein Ort, der nicht hält, was er in ihren Träumen und Visionen versprach. Denn das legendäre Timbuktu, das Laing und Caillié 1826 und 1828 nacheinander erreichen, ist weder reich noch schön, sondern entpuppt sich als elendes, sandverwehtes dreckiges Nest.

Kein Wunder, dass beide bald nach ihrer Ankunft den Ort ihrer Sehnsucht wieder verlassen. Laing wird auf dem Rückweg ermordet, Caillié erreicht nach vielen Qualen und Mühen über Marokko die französische Heimat. Von beiden Entdeckern sind zwar Aufzeichnungen und Berichte erhalten, sie selbst aber wurden schnell vergessen und sind heute kaum noch bekannt.

Stangl beleuchtet daneben die verschiedenen Verhältnisse zwischen den einzelnen Glaubensgruppen und erzählt von Afrikanern, die an die Kraft und die Wahrheit ihrer Träume glauben und Fremde achten, denn, so erklärt es Ibrahim dem Franzosen, "man weiß nicht, ob sie nicht in ihrem eigenen Land Könige sind." Aber der Schriftsteller verfällt keiner Schwarzweißmalerei. Immerhin erfahren die beiden Reisenden Betrügereien aller Art. Sie fühlen sich nicht selten hintergangen und sind mitunter davon überzeugt, dass man auf ihren Tod spekuliert. Von René wird berichtet, dass er gerade dann misstrauisch wird, wenn man ihm mit dem Ausdruck strahlender Freundlichkeit und vollkommener Offenheit begegnet.

Laing trifft ebenfalls Menschen, die die Tyrannei der Osmanenherrschaft verbogen hat und denen er nicht über den Weg traut. Allerdings sind die beiden Reisenden selbst nicht ohne Fehl und Tadel, im Gegenteil. Mit einer gewissen Verachtung blicken sie auf die einheimische Bevölkerung herab. Caillié, dem als Franzose der Begriff von Würde eingefleischt worden ist, meint, diesen "barbarischen Völkern", die die heiligsten Rechte ihrer Mitmenschen und ihrer selbst missachten, überlegen zu sein.

Inspiriert wurde Thomas Stangl zu seinem Roman durch eine Erzählung von Jorge Luis Borges, der einen Mann namens Joseph Cartaphilus durch die schwarze Wüste irren und die Länder der Troglodyten und Garamanten durchstreifen lässt, bis er schließlich die berühmt-berüchtigte Stadt erreicht. Schon Herodot hat von Timbuktu berichtet, in der einst die Tuaregs herrschten und der im 19. Jahrhundert nicht nur unsere beiden Protagonisten, sondern auch Leo Frobenius und Heinrich Barth einen mehr oder weniger langen Besuch abgestattet haben. Auch von ihnen und anderen Forschungsreisenden und Eroberern ist in diesem Buch die Rede.

Zwischendurch vertieft sich Stangl in ausgreifenden Essays, Betrachtungen und Kommentaren in Mythen, Sagen, Legenden und historische Überlieferungen über das alte, unbekannte Afrika und seinen wechselnden kultur- und sozialhistorischen Hintergrund. Von der Antike bis zur Neuzeit spannt sich der Bogen, über eine Zeit, die aufregend, aber auch gewalttätig war und neben Träumen und Visionen auch Kolonisation und Rassismus hervorgebracht hat.

Mannigfaltige Geschichten über den Kontinent, den man lange Zeit auch den schwarzen nannte, durchziehen den Roman über die beiden Abenteurer, deren Schicksal sich daneben wie eine kleine flüchtige Episode ausnimmt.

"Die erzählerischen Gesetzmäßigkeiten, denen Reisen ans Ende der Welt folgen müssen, sind vielleicht Rückstände halb vergessener magischer Rituale, und jede der Reisen stellt die Wiederholung und Variation früherer Reisen dar", schreibt Thomas Stangl und bemerkt an anderer Stelle: "Manchen Eroberungszügen gehen kollektive Träume voraus, unterhalb des Ideologischen, Rationalen oder Rationalisierbaren, in der Schwebe zwischen Bildern und Geschichten, sie begleiten und beeinflussen die Handlungen, ohne dass sie von ihnen eingeholt werden könnten, ohne dass die Verbindung wirklich festgemacht werden könnte; manchmal geraten sie in Vergessenheit, man bleibt mit der Realität zurück."

So gewinnt man im Laufe der Lektüre einen anschaulichen Überblick über die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Afrika in der europäischen Geschichte, die zunächst bestimmt waren von der Sehnsucht nach fernen Wundern und später von der Gier nach sagenhaftem Reichtum.

Nachdem man sich langsam und mühsam eingelesen hat in den weit ausholenden und lang gesponnenen Roman, ist man zu guter Letzt mit involviert und fasziniert von der Poesie, den meisterhaften Schilderungen, von der Fülle der Details und dem langen Atem des Autors, der zweifellos in dieses Werk viel Arbeit und viel Wissensstoff, den er sich gewiss erst mühsam aneignen musste, investiert hat. Dabei ist Thomas Stangl selbst noch nie in Timbuktu gewesen und bisher noch nicht einmal aus Wien herausgekommen. Aber oft gelingen Dichtern und Schriftstellern, die die Orte und die Landschaften ihrer Geschichten nie gesehen haben, die besten Orts- und Landschaftsbeschreibungen. Man denke nur an Schiller, seinen "Wilhelm Tell" und die Schweiz.

Titelbild

Thomas Stangl: Der einzige Ort. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2004.
405 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3854206496

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