Mühefroh und mühefromm

Gunnar Decker über "Rilkes Frauen"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Orpheus, so wurde geargwöhnt, habe sich im Orcus nach Eurydike nicht etwa aus Sorge, "sie bleibe zurück" umgewandt, wie Ovid dichtete, sondern vielmehr damit sie zurückbleibe, und er somit weiterhin über sein Liebesleid und die Sehnsucht nach der unerreichbar Fernen singen könne. Denn ihm habe mehr an der Kunst als an der Geliebten gelegen. Marina Zwetajewa dürfte wohl kaum an diese Insinuation gedacht haben, als sie Rilke den "deutschen Orpheus" nannte. Aber immerhin kann Gunnar Decker in seinem Buch "Rilkes Frauen" zeigen, dass die "[d]istanzgeschützte Fernstenliebe" dem Autoren der "Sonette an Orpheus" zur "höchsten Form der Liebe" wurde, da nur sie es ihm erlaubte, "ganz Bildhöhlenbewahrer, ganz Worthandwerker zu bleiben". Es wäre also durchaus denkbar, dass Rilke, wäre er an Orpheus' Stelle gewesen, sich eben aus dem diesem unterstellten Grunde umgewandt hätte.

Decker ist seinem Protagonisten durchaus nicht mit emphatischer Sympathie zugetan, sondern findet - wo nötig - auch kritische Worte. Und es ist oft nötig. Sehr oft sogar, wenn es um Rilkes Beziehungen zu anderen Menschen geht, und bezüglich seiner Beziehungen zu Frauen eigentlich immer - zumal wenn er Liebesbeziehungen zu ihnen unterhält. Dabei brilliert Decker zunächst mit einem fast schon glänzend zu nennenden, oft ironisierenden Stil, dessen lapidare Treffsicherheit immer wieder besticht; so etwa, wenn er konstatiert, Rilkes spätere Frau Clara Westhoff habe sich von diesem "zur Anbetung verknechten" lassen. Was umso verwunderlicher ist, als Rilke Frauen "wenig mehr zu bieten" hatte "als seine höchst anspruchsvolle Hilflosigkeit". Allerdings verlieren einige an sich originelle Formulierungen durch Wiederholung, und in der zweiten Hälfte des Buches wird Deckers Stil nachlässig, geradezu schlampig. Dass Claire Goll mit Rilke "Liebe machte", mag man so kaum lesen. Auch nicht, dass der Erste Weltkrieg "jedem Optimismus endgültig den Rest gegeben" hat.

Rilke, der die Liebe feierte, sei gleichwohl stets auf der Fluch vor ihr gewesen. Liebend habe der "Pathetiker der Distanz" und "Virtuose der Fernstenliebe" die "Selbstaustreibung der Liebe" betrieben - um sie später, wenn sie längst "verblasst" und "halb vergessen" war, in seinen Werken neu zu erfinden. Den Frauen, die er liebte, gestattete er in seinem "Dichterleben" hingegen nur eine "Statistenrolle". Die einzige Ausnahme bildete Lou Andreas-Salomé, der die "Hauptrolle in seiner Lebensinszenierung" zufiel, und die dem "ewigen Kind", das "zeitlebens ein Muttersöhnchen" blieb, nicht nur Geliebte war, sondern für das sie auch als Ersatzmutter fungieren musste. Dass Rilke sich seine Mutter "mühefroh und mühefromm" wünschte, lässt ermessen, was das bedeutete.

"Rilkes Frauen", das sind jedoch nicht nur dessen Geliebten, sondern etwa auch Eleonora Duse, mit der Rilke eine "gegenseitige Instrumentalisierung" verband, bei der "von beiden Seiten viel Berechnung im Spiel" war, Ellen Key, der er nach Andreas-Salomé die Rolle der Ersatzmutter aufbürdete, Marthe Henneberg, von Rilke kurzfristig zur Ersatztochter auserkoren, Regina Ullman, eine Schriftstellerin, für die er sich bei dem Verleger Anton Kippenberg stark machte oder Nanny Wunderly-Volkart, Rilkes "engste Vertraute der letzten Lebensjahre". Den Schlusspunkt setzt jedoch wieder eine Geliebte: Alice Bürer, seine "letzte Affäre" und zu dieser Zeit gerade mal achtzehn Jahre alt. Dass mit Bürer eine 'kleine' Telefonistin Rilkes letzte Liebschaft war, und nicht, wie von ihm zeitlebens bevorzugt, eine "adlige Dame der Gesellschaft" oder besser noch eine "nützliche Mäzenin", habe, wie Decker meint, "etwas versöhnliches". Dass der über 50-Jährige sich an ein halbes Kind heranmacht, ist ihm nicht bedenklich. Vielmehr bewundert er Rilke hierfür als "Artist[en] der Liebe".

Erstaunlicherweise scheint Franziska zu Reventlow für den Autor, der oft genug Rilkes sogar eher beiläufige Begegnungen mit Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts be- und ausleuchtet, nicht zu "Rilkes Frauen" zu zählen. Dass Rilke der vom Kosmikerkreis als "Mutter und Hetäre" vergötterten Chronistin von Wahnmoching während der gemeinsamen Schwabinger Jahre für geraume Zeit - wie Reventlow in ihrem Tagebuch nicht ohne Freude vermerkte - "jeden Morgen" ein Gedicht in den Briefkasten steckte, ist für Decker keiner Erwähnung wert. Überhaupt wird die Bohémienne nur einmal - und unter falscher Schreibweise ihres Namen - als Empfängerin eines Briefes genannt, in dem Rilke ihr über seine Tochter Ruth berichtet. Die Aufnahme der Gräfin in das "Register ausgewählter Frauennamen" ist Decker das nicht wert.

Hingegen darf Lou Andreas-Salomé die ausführlichste Behandlung für sich beanspruchen. Zu Recht, war sie doch zweifellos nicht nur die wichtigste Frau, sondern die wichtigste Persönlichkeit überhaupt in Rilkes Leben. Allerdings wird Decker ihr nicht immer ganz gerecht, weder, was ihre Beziehung zu Rilke betrifft, noch als Theoretikerin mit eigenem Kopf. So schrumpft die von Inge Stephan zu den Gründerinnen der Psychoanalyse gezählte Literatin bei Decker zur "eifrige[n] Freud-Schülerin", als sei sie, die einen durchaus eigenen Ansatz vertrat, keiner selbstständigen Gedanken fähig gewesen. Ihre Beziehung zu Rilke betreffend, neigt Decker unterschwellig dazu, sie für dessen psychische Defekte verantwortlich zu machen. Als Ersatzmutter und erste Geliebte habe sie eine von "Fürsorge und seelischer Grausamkeit" geprägte, "beinahe masochistisch zu nennende Abhängigkeit" geschaffen, "die alle seine folgenden Bindungsversuche fatal belastet" habe. Sie habe nicht nur "ein Muster geprägt", "schlimmer noch, sie stieß Rilke immer dann fort, wenn er sie störte". Besonders übel kreidet Decker Andreas-Salomé ein Schreiben an, das unter dem Titel "Letzter Zuruf" bekannt geworden ist. Dieser Brief an Rilke aus dem Jahre 1901 sei "süffisant-gemein", trage gar "perfide Züge". Teilen mag man indes keine der beiden Charakterisierungen. Auch im Faktischen irrt Decker, wenn er erklärt, Salomé habe auf einer Milchrechnung den "Nachsatz" angefügt "Wenn einmal viel später Dir schlecht zu Muthe ist, dann ist bei uns ein Heim für die schlechteste Stunde.", und daraus schließt, sie müsse nach Abfassung des "Letzten Zurufs" wohl "eine Schwäche befallen haben". Tatsächlich hatte Andreas-Salomé Rilke das schriftliche Angebot bereits bei einem früheren, vielleicht als letzten gedachten Besuch gemacht. Im "Zuruf" nimmt sie nun hierauf Bezug: Sie habe das Angebot "auf ein Stück Deines Papiers" geschrieben, weil sie es "nicht aussprechen konnte". Es handelt sich bei der Niederschrift auf Rilkes Milchrechnung also keineswegs um einen "Nachsatz" im oder zum "Letzten Zuruf".

Zeigt sich Decker auch weithin kritisch gegenüber Rilkes Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, so exkulpiert er ihn letztlich doch. Die wahren Schuldigen sind die Frauen selbst, namentlich Rilkes leibliche Mutter und seine Ersatzmutter Lou Andreas-Salomé, die beide den Jungen verdarben.

Titelbild

Gunnar Decker: Rilkes Frauen oder Die Erfindung der Liebe.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2004.
313 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3379008168

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