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Martin Walsers Verteidigung der Ehe in "Der Augenblick der Liebe"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Versprechen der Ehe ist Dauer, ihr Alltag Wiederholung. Wer das Gleichmaß der Wiederholung nicht schätzt, muss der Routine den Anschein der Spontaneität verleihen - im Alltag und in der Sexualität. Der Ehebruch als Ausbruch aus der Routine ist deshalb seinerseits Routine - zumindest in der Literatur und bei Martin Walser. Dessen Eheromane sind seit "Ehen in Philippsburg" Ehebruchsromane. "Der Augenblick der Liebe" bildet keine Ausnahme. Er scheint zugleich ein Kommentar in eigener Sache, nachdem im letzten Jahr Martina Zöllners Ehebruchsroman "Bleibtreu" (vgl. literaturkritik.de 07/2004) als Schlüsseltext über die Liebesbeziehung der Autorin zu Walser dekodiert worden ist. Im Gespräch mit der "Welt" erklärt er zwar, es sei "lächerlich zu glauben, ein Autor schreibe ein Buch als Antwort auf ein anderes Buch", und bestreitet, dass "meine Figuren irgendetwas zu tun [haben] mit den Figuren in diesem anderen Buch". Doch für einen promovierten Philologen ist solch eine Zurückweisung von Intertextualität allzu naiv. Es liegt nahe, darin weniger eine ernsthafte literaturtheoretische Position zu sehen als den Versuch eines arrivierten Autors, seine schriftstellerische Autonomie und die seiner Figuren zu verteidigen. Fragen danach, in welches Verhältnis ein Buch sich zu anderen Büchern setzt, mit und ohne Absicht seines Autors, verweist Walser im selben Interview in den Bereich des literaturfernen "Talkshow-Journalismus". Dabei zeugen sie keinesfalls, wie er unterstellt, von unbotmäßigem Interesse am Intimleben der Privatperson Martin Walser. Sie gelten vielmehr jenem 'idealen Autor', für den jede literaturwissenschaftliche Einführungsveranstaltung ihre Teilnehmer zu interessieren sucht: die Fiktion eines Autors, die seine Bücher erzeugen, zitieren, stetig verändern oder unterlaufen. Dass dieser 'Martin Walser' an den realen Martin Walser gemahnt, weil er vielerlei mit ihm gemein hat und weil der öffentliche Martin Walser sich gerne als privater geriert und umgekehrt, gehört zu den Spezifika gerade dieser Autorfiktion.

Der solcherart ideale Autor 'Martin Walser' wird sich in dem Roman "Der Augenblick der Liebe" selbst historisch, als Romancier und als Mann. Nachweisen lässt sich beides, auf der Ebene literarischer Anspielungen und motivischer Bezüge, die weitgehend selbstreferenzieller Natur sind, und auf der Ebene der Handlung, wo Erlebnisse und Reflexionen der männlichen Hauptfigur um Ehe- und Familienleben, Begehren und Schreiben im Alter kreisen. Im Roman wird Autorschaft begründet auf dem von Montaigne übernommenen "Anspruch: sich selbst zum Thema machen!" Er leitet den Helden dazu an, im Sinne La Mettries, "sich selbst auf's Papier zu bringen". Das verlockt dazu, die Selbstthematisierung auch als poetologisches Programm des Romans und seiner Erzählerinstanz zu verstehen.

Wer Walsers Werk kennt, wird deshalb fast jeden zweiten Satz des neuen Romans mit dem "Ach ja" des Déjà vu kommentieren. In ihm mag zu Beginn Entzücken mitklingen, bald Ermüdung, zuweilen Überdruss und schließlich, angesichts der Schwächen etwa bei der Charakteristik der Nebenfiguren, auch Enttäuschung.

Entzücken bereiten die Wiederbegegnung mit dem Walser-Sound, wenn man ihn denn mag, und das sofortige komplizenhafte Einverständnis mit dem mehrdeutigen Duett von Werbung und Verführung, mit dem der Roman anhebt (und schließt): "Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie's gern?" - so eröffnet eine junge Besucherin das Gespräch mit dem Immobilienmakler Gottlieb Zürn, der unter dem Pseudonym Wendelin Krall zwei Essays über den französischen Philosophen La Mettrie veröffentlicht hat. Das ist lange her und scheint kaum jemandem mehr, auch der geschäftstüchtigen Gattin nicht, präsent zu sein. Die bleibt deshalb, obgleich bei dem Gespräch auf der heimischen Terrasse mit Seeblick zugegen, aus der Intimität der beiden La Mettrie-Experten ausgeschlossen. Die Besucherin Beate Gutbrod nämlich promoviert in Amerika über den französischen Autor, dessen Plädoyer für die Autorität der subjektiven sinnlichen Erfahrung als theoretischer Bezugsrahmen für die sich anbahnende Beziehung zwischen Studentin und Privatgelehrtem dient. Im zweieinhalb Stunden währenden Spiel mit Namen und Existenzen konstituiert sich das Liebespaar Zürn/Krall - Gutbrod. Der Zweifel, wem die Gefühle der jungen Frau gelten, dem von seiner Frau ausgehaltenen lebensuntüchtigen Ex-Makler Zürn oder der Fiktion eines erfahrungsgesättigten und wortmächtigen Autors Krall, ist so vom ersten Augenblick der Liebe an virulent.

Zudem ist Gottlieb Zürn ein Mann mit literarischer Vergangenheit, als Hauptfigur der Romane "Das Schwanenhaus" (1980) und "Jagd" (1988) ein typischer Walser-Held, lebens- und versagensängstlich, an der Rivalität mit dem virilen Makler-Konkurrenten Paul Schatz gescheitert, geflüchtet in das Privatleben eines gelegentlich schreibenden Hausmannes. Seine Wiederbelebung bezeugt nicht nur Walsers Ehrgeiz, als eine Art Balzac der bundesdeutschen Gesellschaft deren "Comédie humaine" zu liefern, sondern pariert auch den literarischen Fehdehandschuh der Jungautorin Martina Zöllner aus dem letzten Jahr. Indem er eine in Personenkonstellation, Thematik und Motivik sehr vergleichbare Ehebruchsgeschichte nicht wie Zöllner aus der Perspektive der jungen Geliebten erzählt, sondern weitgehend aus der des alten Ehemannes, entspricht Walsers Roman in thematischer Hinsicht zwar einer Entgegnung. Die wird indes nicht auf gleichem Niveau einer Eins-zu-eins-Entsprechung situiert, sondern in ihrem Entgegnungscharakter dadurch relativiert, dass Walser sie in seinen Romankosmos einbindet. Das, was Zürn im "Augenblick der Liebe" widerfährt und was sich aus der Sicht des älteren verheirateten Mannes und Schreibers zur Affäre mit der jungen Verehrerin sagen lässt, ist eben doch (formal) in den Griff zu bekommen und auf seinen Episodencharakter (am Ende einer Romantrilogie) zu reduzieren. Doch damit nicht genug der relativierenden Arbeit am Mythos Ehebruch.

Der männliche Held hat nicht nur ein Vorleben, sondern führt auch in mehrfacher Hinsicht ein Doppellleben - als Ehemann und Geliebter, als Ex-Makler und Philosoph, vor allem aber als Autor, der unter mehreren Pseudonymen schreibt. Die Attraktion durch die junge Frau ist also nur eine Facette einer komplexen Existenz, die wesentlich im fiktionalen Bereich, in der Schrift beheimatet ist. Der Wirklichkeitsgehalt der sexuellen Erfahrungen steht deshalb in Konkurrenz mit den Phantasien des Begehrens und bleibt letztlich hinter ihnen zurück. Ohne die schützenden Masken der Fiktion verliert der Mann viel von seiner Lust und - so wird insinuiert - reduziert auf die körperlichen Realitäten der Nicht-Autorschaft hat der alte Liebhaber seinerseits wenig zu bieten. Der "Augenblick der Liebe" liegt deshalb im Vexierspiel natürlicher und sozialer Virilität, im Oszillieren zwischen Mann und Autor, Zürn und Krall oder eben zwischen Walser und 'Walser'.

"Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sie's gern?", die Frage der Besucherin danach, ob der Held als bürgerliche Person oder als Autor(-Fiktion) betrachtet werden will, ist deshalb zugleich die Frage eines Autors, der eine biografische Lesart seines Textes einkalkuliert. Dem Affen der Indiskretion gibt er ebenso Zucker wie dem des Verwirrspiels: "In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal."

Infantilisierung und Selbstbezüglichkeit der Lust, in literarischer wie in erotischer Hinsicht, beherrschen den Roman in einem schon parodistisch anmutenden Maße: Die sexuellen Kontakte des ehebrechenden Paares konzentrieren sich nach der ersten Begegnung monatelang auf 'fernmündliche' Kommunikation (was man als altmodische Entsprechung zur Metapher des TELEFONIERENS verstehen mag, die bei Zöllner die sexuelle Befriedigung beim Fernsprechen bezeichnet). Als Zürn/Krall anlässlich eines La Mettrie-Kongresses schließlich in Amerika mit der Geliebten zusammentrifft, bleibt "Mündlichkeit" die vorherrschende Form ihrer sexuellen Verständigung. Beate Gutbrod inszeniert diese einseitige Oralität als "Kommunion", die den Altersunterschied aufheben und einem an die Grenzen seiner Potenz stoßenden Mann behilflich sein will. Der sinniert indes darüber, ob der "Munddienst" als "unterwürfige Dienstbarkeit" für die Frau nicht ohne Lustgewinn bleibe und deshalb lediglich als Folge amerikanischer Sozialisierung nachvollziehbar sei. Das Ergebnis will er darum lieber ökonomisch als eucharistisch verstanden wissen: "er würde es nachher Ausschüttung nennen." Fellatio erscheint so, darin liegt Monika Lewinskis Beitrag zum Austausch symbolischer Kulturgüter, als Ausweis eines clash of sexual cultures. Die reine Lust nämlich empfindet der Alteuropäer Zürn/Krall, ein "kleiner, braver Beamter im Geschlechtsdienst", nur in Verbindung mit der Möglichkeit der Fortpflanzung; sich und die Gattin begreift er als "Funktionäre der Fortpflanzung a.D.".

Amerikanische Sexpraktiken und sprachliche Vorlieben der in Amerika heimisch gewordenen jungen Frau markieren deshalb für Zürn eine unüberbrückbare Fremdheit, begründet nicht in der numerischen, sondern in der psychischen Altersdifferenz. Sie lässt Zürn seinen Amerika-Aufenthalt verkürzen und sehnsüchtig verfrüht nach Hause zurückkehren, in den Schutz der heilkräftigen Ehefrau. Zuvor nämlich hat er seine Stimme verloren, so dass Beate seinen von ihr ins Englische übersetzten Vortrag auf dem La Mettrie-Kongress verlesen muss. Gegen die Anfeindungen, die er als Deutscher auf sich zieht, weil er sich, so der Vorwurf, mit Hilfe von La Mettries Plädoyer gegen eine abstrakte Moral und deren Statthalter im notorisch "schlechten Gewissen" von der deutschen Schuld freisprechen wolle, kann Beate ihn nicht beschützen. Und noch viel weniger kann er, sprachlos, heimwehkrank und sexuell weit weniger engagiert als sie, der Beschützer sein, den sie braucht, um sich der Ränke an ihrem Universitätsinstitut, der Verunsicherungen durch ihren lippenlosen Doktorvater oder der gewaltsamen Zudringlichkeiten ihres Kollegen Rick zu erwehren. Wie der Autor Krall mit seiner Stimme seine Au(c)torität verliert, so verliert die sich als Befreierin begreifende Beate Gutbrod ihre Macht, als deutlich wird, dass das Gefängnis der Ehe für Zürn der einzig erträgliche Lebensraum ist. Als der im "Hochgefühl der Biederkeit" zur Ehefrau zurückgekehrt ist und in einem erotischen Übersprung des Begehrens mit ihr im Wald bei einer Autobahnraststätte ihren "Mangel an freier Freude am Geschlechtlichen" kurzfristig überwunden zu haben scheint, erlebt er das "Gesetz: je heftiger du dich heimsehnst, desto größer ist, wenn du heimkommst, die Enttäuschung. Nichts entspricht einander so innig wie Sehnsucht und Enttäuschung" (übrigens ein fast wörtliches Zitat aus "Jagd").

Alter ist Körpergefühl, lautet die Botschaft des wohl prominentesten Textes über das männliche Alter, Goethes Novelle "Ein Mann von funffzig Jahren". Sie wählt als Erzählanlass die Liebe zwischen dem Titelhelden und einem jungen Mädchen und verschiebt, der Entstehungszeit und ihrem Verständnis von Diskretion gemäß, die Ängste des Mannes vor Attraktivitäts- und Vitalitätsverlust vom Penis auf Metonymien der Potenz wie die Zähne. Bei Walser hingegen konzentrieren sich alle Ängste vor dem Alter und alle Versprechen der Jugend auf das Genitale, die Erektions- und Zeugungsfähigkeit. Das ist, nunja, nahezu rührend, und das soll es wohl auch sein. Möglichen Kritikerinnen der "Altersgeilheit" greift der Autor voraus, indem er die alternden Gattinnen am Romanende eine Debatte über das Thema führen lässt: "Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahnung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein [...]. Es gab Damen und Herren im Ächtungsdienst für jedes Alter."

Als Zürn unter der Bitternis dieser Erkenntnis zu begreifen glaubt, dass er in Amerika die junge Frau versäumt hat und zu ihr zurück will, erreicht ihn die Nachricht, dass sie, die, weil er sie verließ, ihre Dissertation 'geschmissen' hat, jenen Kollegen geehelicht hat, vor dem er sie hatte beschützen sollen.

Diese Wendung der Ereignisse kann man nur als klischeehaft lesen. Sie entbehrt des psychologischen Realismus, wie fast die gesamte Figur der jungen Geliebten. Nachdem Walser mit "Der Lebenslauf der Liebe" eine wenigstens stilistisch glaubwürdige weibliche Innenperspektive gelungen ist, die in den Ausmaßen einer monomanischen Lebenssuada ihresgleichen sucht, ist man einigermaßen irritiert über die wenig plausible, schwer nachvollziehbare Figur der Beate Gutbrod. Man mag einwenden, dass die Verständnislosigkeit des Erzählers der Figur gegenüber Ausdruck für die Verständnislosigkeit Zürns sei. Schließlich ist er durch sie wesentlich erotisch attrahiert - die Initialzündung seines Begehrens geht von ihrem Mund und ihren Schuhen aus. Und diese Mischung aus Infantilisierung und Fetischisierung ist von leitmotivischer Stringenz und psychischer Plausibilität, insofern sich für Zürn Alterstrauma und Existenzproblem im Sexuellen konzentrieren und sein schreibendes Alter Ego Krall mit La Mettrie für diese sinnliche Engführung des Lebensgeschichtlichen die philosophische Rechtfertigung beisteuert. Demgegenüber scheint die deutsche Doktorandin in Amerika eine emotional verwaiste, sexuell unbefriedigende, intellektuell eingeschüchterte, de facto schreibgehemmte Exilexistenz zu führen. Erlösung von ihren Selbstzweifeln, die alle Aspekte ihres Lebens umfassen, verspricht sie sich davon, im Verhältnis zu einer beschützenden männlichen Autorität die disparaten Bedürfnisse nach Liebe, Anerkennung und Verständnis verbinden zu können. Der Roman behauptet, die sich selbst nicht schön findende Beate werde, als Zürn sie attraktiv, weil jung, findet, erstmals ihrer sexuellen Identität und weiblichen Attraktivität versichert (übrigens ist der weibliche Körperdiskurs zentraler Bestandteil von Zöllners Roman): "Sollte sie hoffen, Gottlieb Zürn könne sie, so wie er sie auf seiner Terrasse einen Augenblick lang in ihrem Körper hatte heimisch werden lassen, auch mit Beate [dem ungeliebten Namen, A.P.] versöhnen?" Der zu Beginn des Romans in der Terrassenszene situierte "Augenblick der Liebe" wäre also für Beate der Augenblick der Selbstliebe, ermöglicht durch die scheinbare Einlösung ihres Vaterkomplexes und ihres Erlösungsphantasmas. Denn durch seine Doppelexistenz als potenter Autor und gebundener Ehemann, als Autorität und Gefangener scheint Krall/Zürn ihren widerstreitenden Bedürfnissen zu entsprechen, beschützt zu werden und zu befreien. Zürn indes erweist sich den doppelten Anforderungen nicht gewachsen: Nachdem er mit seiner Stimme auch die Macht der Autorschaft eingebüßt hat, zieht er sich auf seine biologische Vaterschaft zurück und weicht den sexuellen und psychischen Anforderungen der Geliebten aus, indem er ihr, ganz stolz-besorgter Papa, im Bett die Lebensgeschichten seiner vier Töchter erzählt. Sie sind alle etwa in Beates Alter und reproduzieren die Biografie ihrer Mutter, indem sie schöngeistige, lebensängstliche oder in ihrer Biografie beschädigte Männer unterhalten. Die talking-cure zeitigt Erfolg: Beate schläft ein - eine Pointe, die dem Autor so gut zu gefallen scheint, dass er sie als running gag einsetzt.

Was Beate an den Gute-Nacht-Geschichten ihres Bettgenossen findet, warum sie sich in ihn verliebt, was sie dazu bringt, ihn zu fragen, wann er sie heiratet, warum sie schließlich einen Mann ehelicht, der sie zuvor beinahe erwürgt hätte - all dies sind Ungereimtheiten in "Der Augenblick der Liebe"; klären kann man sie vielleicht mit Blick auf Zöllners "Bleibtreu". Dort ist das Objekt der plötzlichen Liebe ein Promi-Autor, und Prominenz (ähnlich wie Macht) soll ja sexuelle Attraktivität verleihen. Wo "Bleibtreu" das biologische Alter des Mannes ausklammert und dessen sexuelle Folgen aus der Perspektive der Geliebten diskret verschweigt, fokussiert "Der Augenblick der Liebe" die sexuelle Diskrepanz des altersungleichen Paares und beharrt auf der ausschließlich erotischen Attraktion des Mannes durch die Frau, während bei Zöllner die seelische Dimension, die vermeintlich weibliche Perspektive auf den Ehebruch, den Roman dominiert. Dessen erzählerisches Programm, das Spannungsverhältnis von Klischee ("Affäre") und originärem Gefühl ("Liebe"), greift Walsers Roman auf. Auch hier reflektiert die Geliebte die "Affärenlächerlichkeit" und fragt sich: "Kann etwas komischer sein als der Anspruch, unvergleichlich zu sein?" Den Handlungsspielraum, diese Frage zu entkräften, gesteht Walsers Roman - anders als der Zöllners - der jungen Frau allerdings nicht zu, ebenso wenig wie das Prädikat der Einzigartigkeit. Die Reduzierung der Geliebten auf das Klischee, das im Gegensatz zum Klischee des Ehebrechers mit Torschlusspanik keine freundliche ironische Brechung erfährt, und das Misslingen der weiblichen Perspektive sind wesentliche Schwachpunkte von "Der Augenblick der Liebe".

Sein geheimes Zentrum und seine eigentliche Heldin hat der Roman in der Institution der Ehe und der Figur der Ehefrau. Sie bleibt geheimnisvoll, weil ihr - anders als der Geliebten - respektvoll und das heißt mit Distanz und ohne introspektive Darstellung begegnet wird. Maßgeblichen Anteil am Respekt von Ehemann und Erzähler hat die Tatsache, dass unklar bleibt, ob die Ehefrau sexuell interessiert oder ihrem Mann lediglich aus Liebe zu Willen ist. Dieses Bild einer 'reinen', von kruder Sexualität und weiblicher - pardon - Geilheit freien Liebe, die letztlich 'höher' steht und als einzige Bestand hat, scheint für die moralische Versuchsanordnung des männlichen Ehebruchs unabdingbar, so altbacken sie ist. Dass Walser sie nicht als diskursives Konstrukt erkennbar macht, weist auf den blinden Punkt des Romans; mentalitätsgeschichtlich verortet er sich im Zwinker-Chauvinismus einer Selbstgefälligkeit, die durch larmoyante Selbstzweifel nicht hinlänglich überdeckt wird.

Die inzwischen überbordende Walser-Philologie (die 2002 im Aisthesis Verlag erschienene Walser-Bibliografie von Matthias N. Lorenz umfasst, ohne vollständig zu sein, 258 Seiten) findet in "Der Augenblick der Liebe" reichlich Material. Zu untersuchen sind diesmal weniger intertextuelle Bezüge zu den Werken der großen Vorbilder Kafka und Goethe. Für "Der Augenblick der Liebe" ist der wichtigste Referenzautor Martin Walser. Diese Selbstbezüglichkeit mag man als Replik auf die Infragestellung eines Lebensprojekts verstehen, wie sie Zöllners "Bleibtreu" zum Ausdruck gebracht hat. So wie die auf Zöllners Ausgangsszenario Bezug nehmende Eingangsszene das Schweigen unter alten Eheleuten als größte Nähe feiert (und damit gegen den Anspruch einer rückhaltlosen gegenseitigen Mitteilung der ehebrechenden Liebe - Bleibtreus "Näheprojekt" - verteidigt), so stellt der Roman als Ganzer geradezu zur Schau, dass, wer, jung, unbefugt und nichtsahnend, den (literarischen) Kontakt mit einem Autor sucht, der ein alter Mann ist, auf ein Leben stößt, das auch ein (schriftstellerisches) Lebenswerk ist. In ihm ist "Der Augenblick der Liebe" nur ein Augenblick, zudem einer, in dem das Begehren, das der "blühende Mund" der jungen Frau weckt, den Mann zu seiner langjährigen Ehefrau zurückführt - und zu einer Liebe jenseits von Begehren: "Anna, du liebe Lebenslängliche", seufzt es da in Gottlieb Zürn, und er küsste Anna "überall hin, nur nicht auf den Mund".

Der vermeintlich außerordentliche coup de foudre lässt sich also ganz gut in die Ordnung der Ehe einfügen. Dass er sich auch, wenn nicht in die Lebens-, so doch in die Werkgeschichte eines Autors integrieren lässt, soll "Der Augenblick der Liebe" als Teil der Gottlieb-Zürn-Trilogie demonstrieren. Darin liegt sein literarischer Reiz.

Kokett hingegen mutet der Gestus der Entsagung an, die nicht etwa der alternde Held sich auferlegt, sondern die der Autor, der ideale versteht sich, seinen Leserinnen anempfiehlt. Das von Friedrich Kittler beschriebene Band von Autorschaft und Liebe, seit dem 18. Jahrhundert zwischen Leserin und Autor geknüpft, soll, muss, darf nur ein fiktives sein, für das der Autor jede Verantwortung ablehnt, denn "zum Glück ist man für das, was einem einfällt, nicht verantwortlich zu machen".

Also, liebe Walser-Leserin: Terrassen meiden, die Bodensee-Gegend umfahren, Schluss mit dem Daumenlutschen und vor der Dissertation nicht desertieren. Schriftlichkeit der Mündlichkeit vorziehen. Unbedingt, bitte.

Titelbild

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498073532

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