Der Tod steht ihm gut

Marcus Jensens Antiheld dreht sich im Roman "Oberland" um sich selbst

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jens Behse ist tot. Schon als er zu erzählen beginnt, spricht er mit einer Stimme aus dem Jenseits. Allerdings - hier liegt der überraschende und gelungenste Coup in der Wahl der Perspektive - kann der tote Erzähler nicht steuern, auf welche Szene seines Lebens er blickt. So muss er sich selbst an jene vor ihm ablaufenden Augenblicke seines Lebens herantasten, ohne dabei aber im Geringsten befürchten zu müssen, überrascht zu werden.

Jens Behses Leben spielt sich in drei Teilen ab. Im ersten Teil begegnet er uns Anfang der 70er Jahre als fünfjähriger Knirps, der nicht einmal die "Kindermindestniedlichkeit" erreicht. Bereits auf der Fähre, die ihn bei tosendem Wellengang auf die Urlaubsinsel Helgoland bringt, werden die wichtigsten Motive und Symbole seines Lebens ausgebreitet. Da ist zum einen die Kapitänsmütze, die er als konservatives Symbol bis an sein Lebensende der antiautoritären und linksliberalen Gesinnung seiner Eltern entgegensetzt. Da ist zum anderen aber vor allem der Tod, der nicht nur in der Überfahrt auf die "Toteninsel" und der an den Tod gemahnenden Mütze in vielerlei Hinsicht die Szenen für sich einnimmt. Der aufgefaltete Motivkreis schließt sich im dritten Teil, in dem sich der Antiheld plakativ inszeniert selbst in die Luft sprengt. Nicht ohne vorher noch den Gestalten aus dem ersten Kapitel, der blonden "Alexandra" und dem "Wikinger" zu begegnen. Vor allem aber der Oma Kerber, der Pensionswirtin auf Helgoland, der Jens als Zivi schließlich auf ihrer Reise in den Tod beisteht.

Der zweite Teil aber ist nimmt den größten Raum von Jens' Lebensbeschreibung ein. In Pinneberg werden die 80er Jahre aufgefächert, nicht ohne die üblichen Zutaten wie Yps-Heft und NDW-Lieder zu vergessen. Doch anders als in den Generationenbüchern der Popliteraten geht es Marcus Jensen nicht um das Beschwören eines Wir-Gefühls. In Jens Behse begegnen wir einem Außenseiter, der es dank der von ihm geliebten 116 Kilo schweren unangepassten Steff zu etwas Anerkennung seitens seiner Mitschüler bringt. Eine Portion Zahlenmystik gemischt mit esoterischen Ausflügen in das Reich der Toten tun ein Übriges, um ihn in der Achtung der anderen steigen zu lassen. Die Themen, um die die Gedanken des Jugendlichen kreisen, sind zum einen die Abgrenzung von seinen Eltern und deren Freunden, die ihm mit ihrem antiautoritären Verständnis und der verordneten Offenheit kein Vorbild sein können. Zum zweiten ist es die konservative Gegenbewegung, die ihn wie nebenbei bis in die Nähe der unreflektierten Kokettierung mit Nazi-Symbolen und Adolf Hitler bringt. Aber schließlich und vor allem sind es Krankheit und Todessehnsucht, die den jungen Behse sein Leben lang begleiten.

Marcus Jensen hat mit "Oberland" ein über weite Teile detailliert gezeichnetes und genau beobachtetes Gemälde der 70er und 80er Jahren gezeichnet. Der auf welterklärendes Fabulieren angelegte Roman gerät allerdings, indem er auf die subjektive Erlebens- und Erfahrensperspektive des Protagonisten baut, in weiten Teilen zu einem Kreisen um sich selbst. So wie Jens Behse aus seinen selbst gesteckten Begrenzungen nicht auszubrechen vermag, so wiederholt der Roman die eigenen Wiederholungen und verliert so an Erzähl- und Ausdruckskraft. Ein "Schelmenroman", wie der Buchrücken verheißt, hätte das Buch werden können, und auch die lobenden Vergleiche mit Günter Grass, die manchem Kritiker in den Sinn kamen, scheinen in einigen Passagen durchaus berechtigt. Aber leider verfällt die Lebendigkeit des Kreises, die sich in den ersten Beschreibungen auftut, im zweiten Teil in eine langatmige und ermüdende Todesstarre. Etwas mehr Lebendigkeit hätte man Jens Behse bei aller Todessehnsucht dann doch gewünscht.

Titelbild

Marcus Jensen: Oberland. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2004.
512 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3627001044

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