Literatur der Moderne und Erster Weltkrieg

Rausch des Gefühls und pazifistische Kritik

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

„Was man die deutsche Mentalität nennt, hat sich berüchtigt gemacht: kaum eine offizielle Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen möglichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten.“ So kommentierte Hugo Ball 1918 in seiner „Kritik der Deutschen Intelligenz“ die legendär gewordene Begeisterung, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs ganz Deutschland zu ergreifen schien. Einer der damals angesehensten Vertreter der literarischen Intelligenz, Thomas Mann, konnte im Spätsommer 1914 mit einigem Recht verallgemeinern: „Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde!“ Eindrucksvoll vergegenwärtigte Ernst Toller später in seiner Autobiographie die damaligen Empfindungen der Jugend in Deutschland: „Ja, wir leben in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, entzünden sich und uns.“

Toller meldete sich als Kriegsfreiwilliger, wurde Rekrut, Frontsoldat. Ähnlich reagierten die meisten Schriftsteller und Künstler seiner Generation. Begeistert zeigten sich genauso auch die älteren und arrivierten Autoren: Richard Dehmel meldete sich – 51jährig – an die Front; Hermann Bahr, Rudolf Borchardt, Friedrich Gundolf, Max Halbe schrieben patriotische Aufsätze und Artikel; Hugo von Hofmannsthal, der zugunsten kriegspublizistischer Tätigkeit vom Militärdienst freigestellt wurde, entdeckte ein gänzlich neues Lebensgefühl: „welches beständige ,Näher, mein Gott, zu Dir!‘; welche unbewußte Heilung und Wiedergeburt“. In dem „Krieg der Geister“, den die literarische, künstlerische und wissenschaftliche Intelligenz der kriegführenden Länder parallel zum militärischen Kampf ausfocht, exponierten sich auf deutscher Seite besonders Gerhart Hauptmann und Thomas Mann. Und selbst der für die Wilhelminische Gesellschaft zuvor untragbare, von der Zensur vielfach verfolgte Frank Wedekind drückte nun öffentlich seine Überzeugung von der Überlegenheit Deutschlands aus.

Der Beginn des Krieges wurde als Katharsis erlebt. „Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung. Hiervon sagten die Dichter“ – und so sagte es beifällig Thomas Mann. Vielen Künstlern schien darüber hinaus der „Große Krieg“ gründlich mit den ästhetischen Konventionen aufzuräumen. Sie feierten ihn als Ereignis schöpferischer Neuerung. Friedrich Markus Huebner, Autor in verschiedenen expressionistischen Zeitschriften und aufmerksamer Beobachter der jüngsten Literatur, sah, zumindest 1914 noch, den Krieg als einen Vollender der avantgardistischen Kunst an, als einzigartige ästhetische Qualität, als Quelle unmittelbaren Erlebens und gesteigerter Kreativität: „Der Krieg ist nicht der Verneiner der sogenannten Neuen Kunst, sondern ihr ungeahnter, sieghafter Zu-Ende-Bildner. Das Erlebnis unsrer kriegerischen Einmütigkeit, das Erlebnis unsrer völkischen Energie, einer Energie der Seele, des Willens, der unnennbaren Gemütskräfte, dieses große geschichtliche Erlebnis ist auf das Innigste verschwistert mit dem innern zu Schöpfung drängenden Zustande jener neuen Künstler“.

Visionen von „Kampf“, „Aufbruch“ und „Krieg“ gehörten schon in der Zeit des Friedens zu den charakteristischen Motivbereichen expressionistischer Dichtung. Unter dem Eindruck der apokalyptischen Stimmung während des „Panthersprunges“ von Agadir entstand 1911 Georg Heyms Gedicht „Der Krieg“. Bereits hier finden sich die Bilder, die auch 1914 die Kriegslyrik prägten: der Krieg als exotischer Dämon, als omnipotente, vitale Urgewalt, deren vernichtender Tanz über die toten Städte einer erstarrten Zivilisation hinwegfegt und sie für ihre Lebensfeindlichkeit bestraft wie Gott die Menschen für ihre Sünden. Und in Ernst Stadlers Versen „Der Aufbruch“ – kurz vor Kriegsbeginn entstanden – erfüllt die Schlacht alle Hoffnungen auf ein jugendliches „Vorwärts“, auf blendenden Heroismus und kameradschaftliche Einigkeit.

Diese Gedichte waren nicht zuletzt ein Diktum gegen den „faulen Frieden“ der Vorkriegsjahre im schwer erträglichen Spannungsfeld zwischen permanenter Kriegsgefahr und lähmender „Ruhe und Ordnung“, zwischen protzigen Drohgebärden des Kaiserreichs nach außen und den Parolen biedermeierlicher Selbstzufriedenheit im Innern. Ernst Tollers Erinnerungen versuchen etwas von dieser Erregtheit zu vermitteln: „Ein deutsches Kriegsschiff ist vor Agadir erschienen. Alle reden vom Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. […] Wir Jungen wünschen den Krieg herbei, der Friede ist eine faule, und der Krieg eine große Zeit, sagen die Professoren, wir sehnen uns nach Abenteuern, vielleicht werden uns die letzten Schuljahre erlassen, und wir sind morgen in Uniform, das wäre ein Leben. Aber der Friede bleibt erhalten, die Lehrer auf dem Katheder vergessen die kriegerische Haltung, uns wird nicht eine Schulstunde geschenkt.“ Auch für Ernst Jünger, der in seinem Frühwerk den Krieg zur „Feier des Lebens“ stilisierte, war der Krieg die große Alternative zur Schule. 1914 wollte er nach Afrika reisen. „Afrika war für mich der Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen, der einzig mögliche Schauplatz für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte“. An der Reise hinderte ihn der Kriegsausbruch. Doch der Krieg wurde ihm zu einem vollwertigen Ersatz. „Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen“, so heißt es in den „Stahlgewittern“, „und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. […] Der Krieg mußte es ja bringen, das Große, Starke, Feierliche.“

Die literarische Kriegsmethaphorik jener Jahre war Ausdruck eines kollektiven Unbehagens an zivilisatorischen Modernisierungsprozessen, die sich in Deutschland seit der Reichsgründung rapide beschleunigt hatten. Anomische Erfahrungen der Sinnleere, Motivationslosigkeit, Langeweile und Beengung schlugen um in einen zerstörerischen Hunger nach Vitalität, Aktivität und Abenteuer. In einer Schweizer Exilzeitschrift beschrieb 1915 der spätere Dadaist Walter Serner den Krieg als Reaktion auf das umgehende „Gespenst der Langeweile“: „Der Staatsmann in seiner Loge hat sein Spektakel, die Menschheit einen grausigen Zeitvertreib“. Solche kritisch gemeinten Diagnosen zielten an den realpolitschen Bedingungen des Krieges gewiß vorbei, sie trafen jedoch etwas von den psychohistorischen Voraussetzungen der allgemeinen Kriegsbegeisterung. Der Haß vieler Intellektueller und Künstler auf die Kultur und Gesellschaft des Kaiserreichs mündete in den Haß auf den mit ihr verbundenen Frieden. „Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. […] Wimmelte sie nicht von den Ungeziefern des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? […] Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!“ Mit ähnlichem Überdruß wie hier Thomas Mann schrieb vier Jahre vorher, im Juli 1910, Georg Heym in sein Tagebuch: „Dieser Friede ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte, Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.“ Die in Heyms Begehren nach vitaler Aktivität, in seinem „Hunger nach einer Tat“ und als Kritik der langweiligen, erlebnisarmen Gegenwart geäußerte Sehnsucht nach dem Krieg ist austauschbar mit der nach einer Revolution: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack der Alltäglichkeit hinterläßt. […] Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein.“

Wer sich wie Georg Heym an Nietzsches vitalistischer Kulturkritik orientierte, wünschte sich mit dem Krieg eine umwälzende Gewalt gesellschaftlicher und geistiger Erneuerung. „Das, was wir den Frieden nennen“, notierte Franz Blei in der Neuen Rundschau, „das muß von Zeit zu Zeit wieder anständig gemacht, von krämerischen Berechnungen befreit, unter Gottes Hand gestellt werden, aus dem Kalkül unseres Verstandes hinaus.“ Es entspricht ganz dem Sinn dieser Rationalitätskritik, wenn dabei der Krieg als politisches und militärisches Phänomen, als Mittel imperialistischer Machtpolitik weitgehend außer Betracht blieb. Schon 1912 betonte der österreichische Expressionist Robert Müller in einer Apologie des Krieges, daß dieser „nicht als solcher wünschbar“ sei, sondern „in seinen ethischen Erscheinungen und in seiner Produktivität“.

Man fühlte mit dem Beginn der „Großen Zeit“ ein neues, unerhörtes Sinnpotential kultureller, nationaler, ja menschheitlicher Reichweite freigesetzt. Manche philosophischen Betrachtungen erklärten den Krieg zur transzendenten Sinnquelle. Für Georg Simmel offenbart der „Verschmelzungsprozeß“ des Kriegsgeschehens dessen „metaphysische Leistungen“: eine „ungeheure Intensitätssteigerung“ des Erlebens, eine „höchste Zusammenraffung der Energie“, mit der sich die getrennten Sphären von Leib und Seele, einzelnem und Gemeinschaft zu „organischer Einheit“ und „Ganzheit“ zusammenschließen. Ähnliche Vorstellungen entwickelte Max Schelers Aufsatz über den „Genius des Krieges“. Von der Beschränktheit disparater Details führe der Krieg den Blick weg zu den ewigen Gesetzen der Schöpfung, öffne den einzelnen zum Kollektiv, das Individuelle und Begrenzte zum Kosmischen. In dieser maßlosen Mächtigkeit erschien der Krieg als ein schockierendes Faszinosum, eine Allegorie, schillernd zwischen „Gott“ und „Dämon“: „Welch furchtbarer Dämon ist der Krieg, daß er so die Erde und Gegenwart zu fressen scheint, die eben noch so breit und reich wie eine wohlgedeckte Tafel vor uns lagen? Welch lichter Genius ist der Krieg, daß er so die Welt weitet und die Geschichte und Zukunft so groß, hell und reich macht.“

Für die expressionistische Avantgarde, die zu den überlieferten literarischen Normen ein eher destruktives Verhältnis hatte, ging die kriegslyrische Praxis in den meisten Fällen mit einem Rückfall in epigonale Formen einher. In der ästhetischen Theorie schätzte man die Bedeutung des Krieges für die Entwicklung und Qualität der modernen Dichtung und Kunst unterschiedlich ein. Der renommierte, dem Expressionismus nahestehende Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein behauptete 1915 in den der Zensur vorsichtig ausweichenden „Weißen Blättern“: „Kein Krieg bringt Kunst hervor“, und er stellte die Frage: „Weshalb ist das meiste, das mit künstlerischem Anspruch aus dem Krieg und für den Krieg gezeichnet und geschrieben wird, so belanglos? […] Wie kam es, daß ungefähr alle europäischen Dichter Schwaches oder baren Unsinn geschrieben haben, als sie vom Krieg zu reden anfingen – wobei Inhalt und Form gleich unwert waren?“ Da der Krieg, so Hausenstein, „etwas ungeheuer Gegenständliches“ ist, sei er mit den Abstraktionstendenzen der jüngsten Kunst unvereinbar.

Theoretische und praktische Anstrengungen, den neuartigen Kriegserfahrungen mit neuen, experimentellen Formen zu entsprechen, fanden sich am ehesten noch im Einflußbereich des Futurismus. Hugo Ball, ein großer Bewunderer der futuristischen Malerei, erhoffte sich von der Dynamik und der Technisierung des Kriegsgeschehens eine zeitgemäße Modernisierung des künstlerischen Ausdrucks. Franz Richard Behrens bekundete gleich mit seiner ersten Gedichtveröffentlichung die Faszination an der Kriegstechnik und gab ihr den programmatischen Titel „Expressionist-Artillerist“. Das Gedicht erschien 1915 im „Sturm“, in jener Zeitschrift, in der auch die futuristischen Manifeste abgedruckt worden waren. Für sie, wie dann auch für die Kunsttheorie des Sturm-Kreises, waren die vitalistischen Begriffe des Lebens und Erlebens zentrale Kategorien. Eine hervorragende Reizquelle intensiver, rauschartiger Erlebnisse, das war der Krieg denn auch für die meisten Wortkünstler des Sturm, vor allem auch für ihren wichtigsten Vertreter August Stramm (gefallen am 1. September 1915). Die Unmittelbarkeit seines Erlebens dem Leser suggestiv, unter Ausschaltung des Verstandes, zu vermitteln, war sein künstlerisches Ziel, das er dadurch zu erreichen suchte, daß er die einzelnen Wörter und ihren Klang aus der Logik der normalen grammatischen Zusammenhänge befreite.

„Leben“ gehört zu den Schlüsselbegriffen damaliger Kulturkritik. Es gibt kaum einen Autor und kaum eine literarische Bewegung in dieser Zeit, die nicht in irgendeiner Form an dem damals verbreiteten Lebenskult partizipierten. Mit der Begeisterung für rauschhafte Geschwindigkeitserlebnisse und der intellektfeindlichen Forderung nach intuitiver Wahrnehmung leistete bekanntlich auch der Futurismus seinen Beitrag zum damaligen Vitalkult. „Wir jungen, starken, lebendigen Futuristen!“ – so beschrieb Marinetti im ersten seiner 1912 im „Sturm“ abgedruckten Manifeste sich selbst und seinen Kreis. Dynamik, Tempo, Kampf, Kraft, Wille und alle starken, aggressiven Affekte waren für sie die Kennzeichen einer wahrhaft vitalen Existenz. Daß Marinettis Manifeste an die Lebensphilosophie Henri Bergsons anknüpften, hatten seine Zeitgenossen sofort bemerkt. Neben Bergson waren es vor allem Friedrich Nietzsche und später auch der Soziologe Georg Simmel, die den literarischen Vitalismus nach 1910 bestärkten.

Der Vitalismus ist das Phänomen, das den Futurismus, den Expressionismus und den Dadaismus bei allen Differenzen verbindet. Er prägte den „Sturm“ und die „Aktion“, er schrieb sich in das Werk Paul Zechs ebenso ein wie in die frühe Lyrik und Dramatik Bertolt Brechts oder auch in die Wortkunst August Stramms.

Der Titel seines Gedichtes „Liebeskampf“ vereint die beiden Bereiche, in denen sich in August Stramms Werk die Macht des Lebens am heftigsten präsentiert: Sexualität und Gewalt. Wie der Futurismus und wie Ernst Jüngers Frühwerk sexualisiert Stramms Werk immer wieder kriegerische Gewalt. In dem Gedicht „Schlacht“, in der „das Leben flammt“, taucht unvermittelt die Zeile auf: „Liebe spreizt den Schooß“. In der Prosaskizze „Der Letzte“ fluten die Assoziationsströme des sterbenden Soldaten bruchlos vom Kriegerischen hinüber zum Erotischen: „Schnellfeuer! Blaue Bohnen! Bohnen! Blaue Augen! mein Schatz hat blaue Augen. haha! drauf! drauf! sie laufen. Korn nehmen. Ha, ha! Drauf! Drauf! Sie laufen. Korn nehmen. Zielscheiben. laufen. Mädchenbeine. ich beiße. beiße. verflucht. Küsse scharfe.“ Die Prosaskizze „Warten“ sexualisiert die Waffe: „Fieber. mit dem Revolver schieß ich sie nieder. wie leicht er in der Hand liegt. zierlich. flach. die Mündung vorn. und rund. fein. zum Küssen. Lippen. haha! ich bin verliebt. der Revolver ein Mädchen! ich hab noch nie mit ihr geschossen. jungfräulich. und die kleinen Patronen. sie hineinpassen. schlüpfen.“

August Stramms Kriegsgedichte sind keineswegs, wie zuweilen immer noch behauptet wird, kriegskritisch. Hier mischen sich Grauen und Faszination. „Es bäumt sich alles in mir dagegen und doch fühle ich mich hingezogen“, bekennt Stramm in seinen Kriegsbriefen. Die Kriegsberichterstatter in den Zeitungen kritisiert er mit dem Satz: „Dieses Lügengeschmiere! Diese Entweihung alles Gewaltigen und Großen, das man hier durchlebt.“ Es ist die Nähe des Todes, die das Leben zu intensivieren vermag: „Das Leben hat herrliche Momente hier. Vielleicht weil es so nahe am Tode liegt.“ Der Kampf als inneres Erlebnis, das Stramms Lyrik wie seine Kriegsbriefe zu vermitteln suchen, ist in seiner ganzen Ambivalenz durch die drei Wörter getroffen: „Grausig! Gewaltig! Groß!“ Die Angstlust gegenüber dem Kriegsgeschehen gleicht dabei ganz der Angstlust gegenüber dem Triebgeschehen, das einige seiner Dramen in Szene setzen.

Der im Prozess der Zivilisation zunehmend ungestillte Hunger nach Leben bringt bei August Stramm und seinen expressionistischen Zeitgenossen so produktive wie fragwürdige Exaltationen hervor. In Stramms Existenz des Postbeamten und Offiziers sind die Bürokratisierungstendenzen und Disziplinierungstechniken des Zivilisationsprozesses exemplarisch verkörpert, in der Existenz des Wortkünstlers rebelliert dagegen das Leben.

Wie Stramms Lyrik lassen sich die meisten Kriegsgedichte aus dem „Sturm“ ideologisch nur schwer einordnen. Liest man in den Zeitschriften, die damals den Expressionismus repräsentierten oder ihm nahestanden, so zeigt sich, daß die literarische Avantgarde während des Krieges und auch schon zu seinem Beginn erheblich widerstandsfähiger gegenüber dem nationalen Rausch war als die literarisch konservativen Autoren. „Kein einziger Expressionist war Reaktionär. Kein einziger war nicht Anti-Krieg. Kein einziger, der nicht an Bruderschaft und Gemeinschaft glaubte.“ So beschrieb der Lyriker Iwan Goll rückblickend die Haltung seiner Generation. Die Behauptung ignorierte zwar die Situation in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn, aber völlig aus der Luft gegriffen war sie nicht. 1916 fand sich kaum mehr ein dem Expressionismus nahestehender Künstler, der mit Pro-Kriegsäußerungen an die Öffentlichkeit trat. Im Gegenteil: Die aktiven Pazifisten während des Krieges stammten zu weiten Teilen aus ihren Kreisen. Und die expressionistischen Zeitschriften wurden zum wichtigsten Forum intellektueller Kriegsgegnerschaft.

Die Kriegsbegeisterung mancher junger Künstler hatte oft nur wenige Monate, manchmal wenige Tage gedauert. Die neue Realität der Materialschlachten und das Massensterben an der Front stimmten nicht mehr mit den überlieferten Kriegs- und Heldenklischees überein. Rudolf Leonhard, Fritz von Unruh, Klabund, Toller und (der damals noch sehr junge) Bertolt Brecht sind bekannte Beispiele für die Wandlungen von der Kriegsbegeisterung zur Kriegskritik.

Als man die Frage nach der Kriegsschuld mit wachsender Dringlichkeit stellte, nahm man auch die eigene Person nicht aus. Mit großem Pathos sagte sich Klabund 1917 in einer „Bußpredigt“ von der Begeisterung seiner „Soldatenlieder“ los. Der Veröffentlichung kriegskritischer Stellungnahmen setzte freilich von Anfang an die Zensur enge Grenzen. Wilhelm Herzog, der zusammen mit Heinrich Mann, Franz Pfemfert, Annette Kolf, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Ricarda Huch und manchen anderen zu einer in ihrer Größe nicht zu unterschätzenden Gruppe von Schriftstellern gehörte, die sich schon zu Kriegsbeginn durch offene Kritik, auffälliges Schweigen oder vorsichtige Distanz der allgemeinen Stimmung verweigerte, mußte im September 1915 auf Anordnung des bayerischen Kriegsministeriums die Herausgabe seiner Zeitschrift „Das Forum“ einstellen. Die zunehmend kriegsablehnenden Beiträge waren schon vorher durch die Streichungen der Zensurbehörden entstellt worden, gegen die zu opponieren Herzog nur die Möglichkeit blieb, sie seinerseits mit provokativer Auffälligkeit hervorzuheben. Die politisch engagierten Zeitschriften aus dem Umkreis des Expressionismus hatten es, wenn sie sich nicht wie Alfred Kerrs „Pan“ der offiziellen Stimmungslage anpaßten, schwer, den August 1914 lange zu überleben. Der oppositonelle „Wiecker Bote“ (herausgegeben von Oskar Kanehl) und Erich Mühsams „Kain“ stellten mit dem Juli-Heft ihr Erscheinen ein. René Schickele übersiedelte 1915/16 mit den „Weißen Blättern“ unter dem zunehmenden Druck der Zensur in die Schweiz. Das „Zeit-Echo“, das nach Kriegsausbruch als „Kriegstagebuch der Künstler“ (Untertitel des ersten Jahrgangs) essayistische, dichterische und graphische Stellungnahmen unterschiedlicher Richtungen veröffentlichte, erschien mit dem dritten Jahrgang (ab Mai 1917) unter dem neuen Herausgeber Ludwig Rubiner nicht mehr in München, sondern in Bern und erhielt dort ein neues, dezidiert pazifistisches Profil.

Die neutrale Schweiz wurde damals zum Zufluchtsort der im eigenen Land als „vaterlandslos“ diffamierten Kriegsgegner und zum Zentrum einer internationalen Friedensbewegung. Hier durften die deutschen Expressionisten das veröffentlichen, was die Zensur in Deutschland verbot. Hermann Hesse lebte schon vor 1914 in der Schweiz; ebenso Iwan Goll und Ernst Bloch. In Zürich ließen sich seit 1915 Albert Einstein, Leonhard Frank, Ferdinand Hardekopf, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und seine Frau Emmy Hennings nieder. Stefan Zweig, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein, Else Lasker-Schüler, Hugo Kersten und Walter Serner hielten sich vorübergehend in der Schweiz auf. Vor allem über den fränzösischen Pazifisten Romain Rolland knüpfte die oppositionelle deutsche Intelligenz hier internationale Kontakte.

Die einzige entschieden kriegskritische Zeitschrift, die in Deutschland, dank der geschickten publizistischen Strategien ihres Herausgebers Franz Pfemfert, kontinuierlich weiter erschien, war „Die Aktion“. Pfemfert griff verschiedenste Möglichkeiten der indirekten Opposition gegen die Politik und Ideologie des Reiches auf. Mit betont antinationaler Geste brachte er Sondernummern für französische oder russische Literatur heraus und veröffentlichte demonstrativ Nachrufe auf gefallene (auch ausländische) Schriftsteller. Unter dem Titel „Ich schneide die Zeit aus“ stellte er kommentarlos Pressezitate zusammen, die sich in ihrer chauvinistischen Haltung sprachlich und gedanklich selbst entlarven sollten. In der „Aktion“ auch fanden sich Vorabdrucke aus dem später verbotenen Buch „Die Biologie des Krieges“ des bedeutenden Medizinprofessors und Pazifisten G. F. Nicolai, dessen streng wissenschaftliche Argumentation gegen sozialdarwinistische Rechtfertigungen des Krieges die Zensoren offensichtlich überforderte. Dem „Aufruf an die Kulturwelt“ setzte Nicolai einen „Aufruf an die Europäer“ entgegen, den kein geringerer als sein „Freund und Gesinnungsgenosse“ Albert Einstein zu unterschreiben bereit war.

Erstmals am 24. Oktober 1914 erschien (mit Beiträgen von Wilhelm Klemm) die Rubrik „Verse vom Schlachtfeld“. Hier wurden von nun an regelmäßig Gedichte junger Expressionisten und Frontsoldaten abgedruckt, die im Ton und in der Perspektive bald als eigenständige Gattung einer antiheroischen Kriegslyrik gelten konnten. In einer ungewohnten Perspektive dokumentierten sie das andere, offiziell verschwiegene Gesicht des Krieges. „Als ich im vordersten Schützengraben diese Zeilen las“, so beschrieb Erwin Piscator später ihre Wirkungskraft, „als ein Gedicht neben dem anderen mein Leid, meine Angst, mein Leben und meinen voraussichtlichen Tod beschrieb und verdichtete […], da wurde mir bewußt, daß kein gottgewolltes Schicksal waltete, daß kein unveränderbares Faktum uns in diesen Dreck führte, sondern daß nur Verbrechen an der Menschlichkeit und dem Menschen dazu geführt hatten.“

Die desillusionierenden Bilder des Todes weiten sich in der expressionistischen Lyrik immer wieder zu Visionen über kollektive Katastrophen, über den Untergang des Abendlandes und einer Welt aus, deren grauenhafter Zustand vom Tod Gottes zeugt. Auch in solchen Zusammenhängen wird der Krieg zur Metapher, und zwar nicht mehr für den quasi revolutionären Aufbruch in einen neuen Zustand, sondern für die Agonie eines Zeitalters, für den Abschluß einer geschichtlichen Entwicklung, in der die Erfahrungen der Absurdität und Angst kaum noch Zukunftsperspektiven zulassen. Nur vereinzelt trifft man in diesen Texten auf vitalistische Bildelemente. Wenn die expressionistische Lyrik nach 1916 dem Kriegsgeschehen überhaupt noch einen Rest von positiven Bedeutungsmöglichkeiten zuerkennen wollte, dann entweder als läuterndem Strafgericht für die Sünden der zivilisierten Menschheit oder als notwendigem Durchgangsstadium zu einer völlig neuen Ära des Friedens und der Mitmenschlichkeit, als „Jüngstem Tag“, der Untergang und Auferstehung zugleich bedeutet, als „Menschheitsdämmerung“ in der doppelten Bedeutung von endzeitlicher Verdunkelung und Morgenröte. Nach dem Sturm des Weltkrieges sollte in gleichsam gereinigter Atmosphäre die Utopie eines humanen Sozialismus Wirklichkeit werden, der Zerfall der Nationen den Boden bereiten für die Entstehung einer neuen Menschengemeinschaft.

Versucht man heute, die für viele Expressionisten typische Entwicklung von der vitalistisch geprägten Kriegsbegeisterung über die desillusionierte Ernüchterung und den Pazifismus zum revolutionären Engagement (aus dem 1918/19 konkrete politische Aktivitäten hervorgingen) zu rekonstruieren, dann scheint man es zunächst mit vielfachen Inkonsequenzen, Brüchen und Unvereinbarkeiten zu tun zu haben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, daß die für diese künstlerische Bewegung charakteristischen Absichten, Werte und Ideen über alle historischen Veränderungen hinweg eine erstaunliche Kontinuität bewahrten. Das schon vor 1914 für die literarische Moderne charakteristische Motiv des „Aufbruchs“ und die Hochwertung der „Aktion“ und des „Lebens“ wurde von der Kriegslyrik auf die Revolutionsdichtung verschoben. Das gleiche gilt für das den Expressionismus prägende Ideal der „Gemeinschaft“. An die Stelle der Idee einer partei- und klassenübergreifenden „Volksgemeinschaft“, mit der Wilhelm II. auch die staatskritische Intelligenz so lange ideologisch zu integrieren vermochte, bis sie von ihr als zu national begrenzt empfunden wurde, rückte die ins Internationale ausgeweitete Utopie der europäischen Gemeinschaft oder einer noch umfassenderen Menschheitsverbrüderung.

Gewiß, die literarische Moderne war politisch gefährdet. Ein vorwiegend im Bereich ästhetischer und kulturphilosophischer Fragestellungen angesiedelter Diskurs wurde zu Beginn des Ersten Weltkrieges mit der überwältigenden Aktualität des politischen und militärischen Tagesgeschehens konfrontiert; dies mag etwas von dem Ausmaß der anfänglichen Hilflosigkeit, der Verwirrung und der Irrtümer vieler Autoren erklären. Darüber hinaus übte das von ihnen vielfältig empfundene Sinnvakuum angesichts einer sich rapide verändernden Welt seinen Sog auch auf fragwürdige Sinngebung aus. Die tiefgreifenden Erfahrungen der Isolation und zwischenmenschlichen Entfremdung verringerten die Widerstandskraft gegenüber problematischen Gemeinschaftserlebnissen. Und das im Prozeß der Zivilisation und unter einer überalterten politischen und sozialen Ordnung zunehmende Leiden an unausgelebten Affekten und Freiheitsbedürfnissen war anfällig dafür, sich in destruktiven Phantasien und Aktionen zu entladen. Ernst Jünger, der mit seiner essayistischen Schrift „Der Kampf als inneres Erlebnis“ noch 1922 ein repräsentatives Beispiel für den Zusammenhang von Vitalismus und Kriegsdichtung vorlegte, hatte die psychohistorischen Voraussetzungen der Kriegsbegeisterung durchaus erkannt, wenn auch mit fataler Distanzlosigkeit beschrieben: „Da entschädigte sich der wahre Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch Gesellschaft und ihre Gesetze eingedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft.“

Der Essay ist eine leicht gekürzte und veränderte Fassung des Aufsatzes „Vitalismus und Kriegsdichtung“ in: Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 34). Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München: Oldenbourg 1996. S. 235-247. Er übernimmt in vielen Passagen wörtlich und ergänzt das Nachwort zu dem vergriffenen Band: Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918. Hrsg. von Thomas Anz und Joseph Vogl (München, Wien: Hanser 1982). Eine vollständige pdf-Fassung des Beitrages (mit Zitatbelegen und weiterführenden Hinweisen) können Online-Abonnenten von literaturkritik.de hier einsehen.