Lebenslauf eines ermordeten Künstlers

Jean Echenoz' neuer Roman spielt "Am Piano"

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Delmarc ist 50 Jahre alt, von Beruf Konzertpianist. Sein Aufpasser Bernie vereitelt meist, dass "Monsieur Max" schon vor seinen Auftritten geistige Getränke zu sich nimmt und sich, trotz seiner Erfahrung und Routine auf der Bühne und im Umgang mit dem Publikum, regelrecht an den Flügel schubsen lassen muss. So weit, so gut. Max lebt in Paris im gleichen Haus wie seine Schwester, vor 30 Jahren schmachtete er am Konservatorium von Toulouse der Cellostudentin Rose hinterher, der er noch heute jeden Tag einen Gedanken widmet. Ansonsten gibt es keine Frauengeschichten über ihn zu berichten - bis auf jene Dame in seinem Viertel vielleicht, die häufig ihren Hund ausführt und die ihm zu gefallen scheint. So vergeht die Zeit. Bis Max eines Abends überfallen und mit einem Messerstich in den Hals ermordet wird. Ende Teil eins.

Im so genannten Zentrum angekommen, einer Art Nobelkrankenhaus an der Weggabelung zwischen Himmel und Hölle, trifft Max auf Doris Day, die dort als Krankenschwester eingesetzt ist und auf Dino, einen Pfleger, der sich vehement gegen die Vermutung wehrt, er sei Dean Martin. Max wird von Oberarzt Béliard darüber aufgeklärt, dass binnen einer Woche entschieden ist, ob er in den ruhigen und schönen Park oder in den hektischen Stadtbereich kommen wird. Nach ein paar kleineren chirurgischen Eingriffen und einem amourösen Abenteuer ist es so weit: Max muss zurück, der Park bleibt ihm versagt. Drei Regeln hat er im Stadtbereich künftig zu beachten: Kein Kontakt zu Personen, die er als Lebender gekannt hat - er darf nicht erkannt werden und auch nicht in seinem früheren Beruf arbeiten. Er braucht eine neue Identität: Ende Teil zwei.

Im Amazonastiefland von Peru, genauer in Iquitos, verbringt Max ein paar Tage der Orientierung und des Müßigganges, dann nimmt er Kontakt mit einer Person auf, die ihm im Zentrum genannt wurde, gibt neue Papiere in Auftrag, die er mit Mühe bezahlen kann und verpflichtet sich zu einem Schmuggelgeschäft, das ihn wieder nach Paris bringt, wo ihm eine andere Kontaktperson einen Job als Barmixer in einem Stundenhotel und ein billiges Zimmer in eben jenem Etablissement vermittelt. So fristet er ein anonymes Dasein, bis er ein Techtelmechtel mit Félicienne, der Empfangsdame des Hotels anfängt. Just als er dieser überdrüssig zu werden beginnt, betritt sein ehemaliger Aufpasser Bernie die Bar, erkennt ihn trotz seines neuen Gesichts und hilft ihm, Félicienne loszuwerden. Da sie nun schon in Kontakt getreten sind, schmieden die beiden gleich weitere Pläne. Da tritt urplötzlich Béliard auf, macht einen Aufstand und erinnert Max an die Auflagen des Zentrums. Doch seine Autorität erlahmt auf halber Strecke, Max widersetzt sich und Béliard versinkt in Depressionen und Alkoholexzessen. Warum ist Béliard überhaupt in den Stadtbereich gekommen, war es nur wegen Max' Verfehlungen? Nein, er sucht eine Frau, die aus dem Park entwichen ist.

Beinahe Ende Teil drei und somit auch beinahe Ende des Romans "Am Piano" des französischen Schriftstellers und Goncourt-Preisträgers Jean Echenoz. Mit diesem für den Autor typisch freien und unkonventionellen Buch persifliert und erweitert er die Gattung des Künstlerromans und auch den Topos des Übernatürlichen in der zeitgenössischen Literatur. Frei meint unter anderem das hemmungs- und grenzenlose Wechseln von Orten und Seinszuständen, das lustvolle Spielen mit Sprache, die innerhalb zweier Sätze von anspruchsvoll und gebildet zu flapsig und vulgär wechselt, das direkte Ansprechen des Lesers: "Sie hingegen, Sie kenne ich, ich habe Sie durchschaut. Sie haben gedacht, Max ist mal wieder so ein Homme à Femmes, einer von diesen guten alten Verführern ..." Und Jean Echenoz nimmt sich die Freiheit, sich selbst zu zitieren, wenn er Béliard im Gespräch mit Max über Frauen sagen lässt: "Ach [...], die großen Blondinen und so. Kenn ich zu gut." Denn Béliard ist eine Figur aus dem 2002 erschienenen und ebenfalls hervorragend von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten Roman "Die Großen Blondinen".

Vielleicht spielt "Am Piano" ja auch auf den Roman "Ein Abend im Club" von Christian Gailly an, der ebenfalls von einem Pianisten handelt und dessen Handlung sich, wie im vorliegenden Buch, nach einem Todesfall erstaunlich dreht. Wie dem auch sei, Jean Echenoz, dessen früher Roman "Cherokee" seit ein paar Wochen endlich wieder (im Taschenbuch) vorliegt, hat sein verspieltes literarisches Universum um einen weiteren hell leuchtenden Stern erweitert.

Titelbild

Jean Echenoz: Am Piano. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
196 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3827005329

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