Forschungsergebnisse und Klischees

Der "Text und Kritik"-Sonderband zur Gruppe 47 in dritter, überarbeiteter Auflage

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Erscheinen der vor annähernd zehn Jahren publizierten zweiten Auflage des "Text und Kritik"-Sonderbandes zur Gruppe 47 hat sich mit der nunmehr zugänglichen Korrespondenz Hans Werner Richters, des primus inter pares der Gruppe, die Quellenlage zu deren Entstehungsgeschichte nicht unwesentlich erweitert. In der soeben erschienenen dritten, wie es heißt, "gründlich überarbeitet" Auflage konnte somit die nicht eben erfolgreich verlaufene Gründungsgeschichte der Zeitschrift "Der Skorpion" weitaus besser rekonstruiert und dokumentiert werden. Nachdem die US-amerikanische Besatzungsmacht die am Ende des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen Kriegsgefangenenlager der USA gegründete "human-sozialistische" Zeitschrift "Der Ruf" im April 1947 wegen "Nihilismus" verboten hatte, planten die ehemaligen Redaktionsmitglieder Alfred Andersch und Hans Werner Richter als Nachfolgeorgan den "Skorpion", dessen erste Ausgabe im Januar 1948 erscheinen sollte. Bevor es allerdings so weit war, ereilte die Publikation bereits das Schicksal ihrer Vorgängerin: Die Amerikaner verweigerten ihr wegen 'Nihilismus' die Lizenz. Als diese später doch noch erteilt wurde, ließ sich das Projekt aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nicht mehr verwirklichen. Da das Nicht-Erscheinen des "Skorpion" mit ein Grund für das Entstehen der Gruppe 47 war, lässt sich die 20 Seiten umfassende "Dokumentation zur Geschichte des 'Skorpion'" im Anhang des vorliegenden Bandes durchaus rechtfertigen. Allerdings schwillt somit der zuvor bereits überproportional umfangreiche Teil der zwei Jahre dauernden Vorgeschichte der Gruppe 47 von 80 auf 100 Seiten weiter an, während die 20 Jahre von 1947 bis 1967, also der Zeitraum, in der die Gruppe 47 bestand, mit nur 180 Seiten und die folgenden zehn Jahre von der letzten Tagung bis zum "Begräbnis" mit weiteren 30 abgedeckt werden; letzteres allerdings ist durchaus angemessen.

Einiges bleibt trotz der "gründlichen Überarbeitung" auch an der vorliegenden dritten Auflage zu bemängeln. So muss den Textrevisoren angekreidet werden, dass aktuelle Kontroversen wie der gegen einige Gruppenmitglieder erhobene Antisemitismusvorwurf nicht verhandelt werden. Auch zeigt sich der Band nicht immer auf der Höhe der Forschung, sondern bleibt etwa der längst überwundenen Entpolitisierung der Lyrik Ingeborg Bachmanns verhaftet. Von der "Esoterik ihrer Gedichte" ist da die Rede, deren Sinn und Thematik "unbestimmt" bleibe. "Wo dennoch durch ihre Bildlichkeit gesellschaftliche Zustände erkennbar werden", meine sie "das Unauffällige, Private". An ihr Werk "Früher Mittag" werden die Autoren hier wohl kaum gedacht haben. Statt die Ergebnisse der Bachmann-Forschung der letzten Jahrzehnte zur Kenntnis zu nehmen, werden Klischees der 50er und 60er Jahre über "die Bachmann" reproduziert: "[D]ie äußere Erscheinung der Lyrikerin, ihr Auftritt vor der Gruppe, schienen fast eine größere Wirkung hinterlassen zu haben als ihre Gedichte selbst", heißt es etwa unterschwellig misogyn. Und dass ihre Lyrik "fast immer überschwänglich gelobt wurde", sei wohl darin begründet, "daß man in ihr - endlich - wieder eine 'Dichterin' fand". Nicht also die Qualität ihrer Gedichte überzeugte die Mitglieder der Gruppe 47, vielmehr wird ein Frauenbonus unterstellt.

Neben solchen Misslichkeiten ist zu monieren, dass die Gelegenheit der Überarbeitung nicht dazu genutzt wurde, Widersprüche zu tilgen. So ist einmal davon die Rede, dass der "Ruf" im April 1947 verboten wurde, ein andermal, dass Andersch und Richter "auf Druck der amerikanischen Besatzungsmacht im April 1947 aus der Redaktion ausgeschieden waren".

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47. Text + Kritik. Sonderband.
3., überarbeitete Auflage.
edition text & kritik, München 2004.
353 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3883777625

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