Sommerfrische einmal anders

201 Weltkriegsbriefe aus der Korrespondenz von Paul Ludwig in den Jahren 1914-1918

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rekonstruktion der "Kriegserfahrungen" (Gerhard Hirschfeld u. a., 1977) und des "Kriegsalltags" (Peter Knoch, 1989) hat in den vergangenen 40 Jahren wertvolle Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs erbracht und das Bewusstsein dafür geschärft, dass dieser Aspekt historischer Forschung nicht nur ein unverzichtbares Pendant zur bis dato vorherrschenden 'offiziellen' Militärgeschichtsschreibung darstellt, sondern als Variante oder Perspektive von Alltagsgeschichte den "Krieg des kleinen Mannes" (Wolfram Wette, 1992) sichtbar macht und überdies der Friedenserziehung dient.

Nicht Auslöser, aber Motor dieser Forschungsrichtung waren unter anderem die Debatten, die um den deutschen "Sonderweg" und die "Kriegsschuldthese" - prononciert vertreten etwa in Fritz Fischers kontrovers diskutiertem Buch "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18" (1961) - entfesselt wurden und die über die letzten vierzig Jahre hinweg die Historikerzunft selbst und ihre Geschichtsschreibung zum Schlachtfeld der Auseinandersetzung gemacht haben - jüngst etwa von Wolfgang J. Mommsen in seinem Buch "Der Große Krieg und die Historiker. Neue Wege der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg" (2002) vorzüglich resümiert.

Material für diese Forschungsorientierung am Kriegserlebnis des einfachen Soldaten (oder Offiziers) ist reichlich vorhanden, wurde 'die Truppe' doch in regelmäßigen "Schreibstunden" dazu angehalten, der "Heimatfront" über den Kriegsalltag an der Gefechtslinie oder in der Etappe Bericht zu erstatten. Denn sparsame Informationen über das Ergehen der Soldaten waren immer noch besser als gar keine Informationen, ersparten sie doch den Angehörigen daheim die Qual der Ungewissheit. Und so unterlag zwar der Briefverkehr der militärischen Zensur "hinsichtlich der Schilderung und Beurteilung der militärischen Lage", da ja auch private Post 'dem Feind' in die Hände fallen konnte (und ab 1915 durften selbst Briefstempel und Aufdrucke keine Orts- oder Formationsangaben mehr enthalten), doch ließ sich das Notwendige und Wissenswerte (und oft auch Verschwiegene) zumeist aus den Umständen erschließen.

An Quellen fehlt es der Geschichtswissenschaft also nicht, eher hat sie es mit anderen Problemen zu tun, wie Bernd Ulrich in seiner Studie "Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933" (1997) ausgeführt hat, darunter dem Versuch vieler Soldaten, ihren Familien die wahre Misere des Krieges zu ersparen, zur Notlüge über die wahren Verhältnisse zu greifen und dadurch die tatsächliche Ereignisgeschichte zu verfälschen. Umso dankbarer muss man für die jetzt vorgelegte, umfassende Brief-Edition von Walther Ludwig sein. Ludwig hat die Korrespondenz seines Vaters Paul Ludwig (1890-1987) mit dessen Eltern und Geschwistern, Freunden und Bundesbrüdern, Kameraden und Eltern Gefallener in ungekürzter Form herausgegeben und sie sachkundig kommentiert, und diese ist nicht nur umfangreich, sondern auch bedeutend, weil sich der Kriegsteilnehmer, ein frischgebackener Dr. phil. und Sohn eines Stuttgarter Pfarrers - im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden und Untergebenen - gewählt, sachkundig und differenziert artikulieren konnte, weil er von 1914 bis 1918 über vier lange Kriegsjahre im Einsatz war und weil sein Briefwechsel mit seinen teils detaillierten Frontberichten nahezu lückenlos erhalten geblieben ist. Zudem lässt der Band die unterschiedliche Bewertung der Kulturen und des Krieges durch die verschiedenen Generationen klar erkennen, die eher "rechtskonservative" Haltung des Vaters Karl Ludwig (1855-1929) ebenso wie die sich ins "Linksdemokratische" verschiebende politische Haltung des Sohnes. Während Paul Ludwig nämlich nach Hause schrieb, um die Seinen über die Ereignisse daheim auf dem Laufenden zu halten, wich die anfängliche Kriegseuphorie einer veritablen Kriegsernüchterung und mischte sich immer mehr Skepsis in seine Rede, Skepsis an der militärischen Führungskompetenz der eigenen Heeresleitung einschließlich des Kaisers.

Wie repräsentativ diese Entwicklungslinie der Distanzierung von den Kriegszielen ebenso wie von der eigenen Führung wie auch der Relativierung der Vorurteile gegenüber dem Kriegsgegner ist, könnte ein Vergleich mit der zuerst 1916 veröffentlichten Sammlung "Kriegsbriefe deutscher Studenten" (Hg. Philipp Witkop) ergeben, die sowohl in Deutschland wie auch im Ausland mit wachsender Resonanz wahrgenommen wurde und unter dem bekannteren Titel "Kriegsbriefe gefallener Studenten" bis 1942 eine Auflage von etwa 200.000 Exemplaren erreichte. Ende der zwanziger Jahre regte sie sogar eine englische Edition an, nämlich Laurence Housmans Sammlung "War Letters of Fallen Englishmen" aus dem Jahre 1930.

Paul Ludwigs Briefwechsel leistet der Rekonstruktion und Dokumentation der "inneren Chronik" (Hanna Hafkesbrink, 1948) des Ersten Weltkrieges unschätzbare Dienste. Als Vizefeldwebel am 2. August 1914 einberufen, erfolgte die Entlassung des vielfach ausgezeichneten Leutnants (darunter das Ritterkreuz 2. Klasse und das Eiserne Kreuz 1. Klasse) nach dem geordneten Rückzug aus Lothringen am 7. Dezember 1918. Dazwischen liegen zahlreiche Kampfeinsätze, Stellungswechsel, Weiterbildungskurse, Verwundungen im Gefecht oder Lazarettaufenthalte aufgrund von Typhuserkrankungen und dergleichen sowie Urlaube in der Etappe und Daheim. Eine vom Herausgeber erarbeitete Chronik gibt eine gute Übersicht über die wichtigsten Stationen, ein Namens-, Orts- und Sachregister im Anhang erschließt die Briefe auf bestechende Weise. Kommentare über die Schriftform, den Schriftträger (Karte, Brief, Umschlag, Tinte, Stempel usw.), den Postweg usw. tragen das Nötige zur genauen Positionierung der Dokumente bei.

Manfred Hettling, der in seinem Aufsatz "Arrangierte Authentizität" (in: "Von Richthofen bis Remarque") den Vergleichskorpus der Witkop-Edition ("Kriegsbriefe gefallener Studenten", 1916) untersucht hat, hat damit auch das Modell des Darstellungsspektrums und der Entwicklungslinien des Ludwig'schen Frontbriefwechsels geliefert. Vier typische Themenfelder benennt er für die "Massenquelle" Feldpostbrief, sie alle finden sich auch bei Ludwig wieder: die Erörterung allgemeiner politischer und religiöser Fragen; die bei akademischen Schreibern oft schockartige Wahrnehmung anderer Sexual- und Verhaltensnormen beim 'einfachen Mann'; die Darstellung des 'Kriegserlebnisses'; die Reflexion über den Sinn des Krieges und über seine Bedeutung für das Leben des Einzelnen.

Auch der Überblick, den Hettling über den Verlauf der 'Moral' im Heer gibt, lässt sich direkt auf Ludwig anwenden: Zunächst dominiert ein Gefühl der Kriegsbegeisterung und der Überlegenheit über den Feind; in einer zweiten Phase, etwa mit dem Stellungskrieg im Westen einsetzend, "machen sich physische und psychische Erschöpfung breit"; Pflichtgefühl tritt an die Stelle von Begeisterung; mit der Frühjahrsoffensive 1918 flackert dann noch einmal kurz Hoffnung auf ein baldiges und siegreiches Ende auf, bevor ein Gefühl allgemeiner Erschöpfung wieder um sich greift und dann auch die Auflösungserscheinungen beschleunigt; der sich rasch ausbreitenden Einsicht in die Unabwendbarkeit der Niederlage kann dann auch die militärische Führung nichts mehr entgegensetzen. Anlass für Spannungen bietet auch die soziale Schieflage innerhalb der Truppe: statt die sozialen Schichten zusammenzuschweißen, wie es die Sozialromantik manches Kriegsliedes noch erwartungsvoll verheißt, werden Schichtszugehörigkeit, Gehaltsgefälle und Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis immer stärker zur sozialen Abgrenzung genutzt. Hettlings Aufsatz beweist, wie wenig individuell im Grunde über die Kollektiverfahrung des Frontkrieges geschrieben worden ist und bietet daher einen vorzüglichen Schlüssel zur Aufarbeitung und Interpretation von Feldpostbriefen.

Titelbild

Walther Ludwig (Hg.): Der erste Weltkrieg in Briefen.
DRW-Verlag Weinbrenner, Leinfelden-Echterdingen 2002.
188 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3871816418

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Thomas F. Schneider / Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2003.
421 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-10: 904200955
ISBN-13: 9789042009554

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