Der Mythos im Plural

Ein Bild-Textband versucht Troia zu zeigen, "wie es wirklich war"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während Brad Pitt als Achill zornig über die Leinwand und in die Schlachtreihen seiner Gegner hüpft, sieht man im Hintergrund gewaltige Mauern, die eine noch gewaltigere Stadt beschirmen: Troia. Und es ist - natürlich - eine Computersimulation.

Ob Birgit Brandau, Hartmut Schickert und Peter Jablonka darüber lächeln werden oder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen? Denn auch sie haben sich mit Troia-Rekonstruktion mittels Computersimulation beschäftigt, allerdings auf der Grundlage von wissenschaftlicher Literatur und vor allem auf der Basis von langjähriger archäologischer und publizistischer Kärrnerarbeit vor Ort. Wer ihren Band "Troia. Wie es wirklich aussah" in die Hand nimmt, wird auch ohne Action-Szenen Spannendes erleben, lassen doch die 70 Fotos und 43 Rekonstruktionen, die beiden Karten und der so prägnant wie verständlich geschriebene Text die komplexe Realität des mythischen Ortes Troia plastisch erkennen.

Die wissenschaftlichen Debatten darüber, wie bedeutend, wie groß, wie mächtig "das heilige Ilion" - so nannte es Homer - wirklich war, steht am Beginn eines Buches, das dem Leser immer wieder ins Bewusstsein rückt, dass bei Rekonstruktionen von Tempeln, Häusern, Palästen - wie überhaupt in Archäologie und Geschichtsschreibung - natürlich auch Phantasie und Spekulation eine Rolle spielen. Einer der größten Vorzüge der Darstellung ist, dass man unterscheiden kann, wo der gesicherte Forschungsstand aufhört, wo begründete Vermutung anfängt und wann Spekulation und Mythos fröhlich ins Kraut schießen.

Auf diese Weise erhält man einerseits eine kurz gefasste, klare Geschichte einer der bedeutendsten Grabungsstätten der Welt, die sich besonders dadurch auszeichnet, dass hier über fünftausend Jahre Besiedelung in oft gut differenzierbaren Epochen greifbar werden. Andererseits kann man durch die Gegenüberstellung von heutigem Aussehen und Computersimulation eine Ahnung davon bekommen, wie sich die Folge von immer neuen Troias, die nach Bränden, Erdbeben und Kriegen entstanden, unterschieden, wie man möglicherweise darin lebte, worin die besondere Bedeutung der einzelnen Epochen bestanden haben mag.

Massive Tortürme mit fünf Meter dicken Mauern erheben sich da, wo heute ein Trümmerfeld immerhin den Verlauf von Straße und Fundamenten mehr als nur erahnen lässt. Man sieht einen Kuppelofen im Hof eines Wohnhauses stehen, einen Palast, wie er vor dreitausendfünfhundert Jahren ausgesehen haben mag, dann auch spätere Besiedlungsstufen mit dem griechischen und dem römischen Theater, die zum Teil noch sehr gut erhalten sind. So belegen die Autoren äußerst anschaulich, dass es Troia nur im Plural gibt!

Und Homer, Schliemann, Brad "Achill" Pitt? Der Erste sorgte durch die geniale literarische Aufbereitung sehr alter Mythen, welche die häufigen Kriege um die Stadt zu einem einzigen gewaltigen "clash of civilizations" zusammengefasst hatten, dafür, dass man Troia - mit Ausnahme kürzerer Phasen - nie wieder vergaß. Der Zweite sorgte - fasziniert vom Ersten - dafür, dass seither an dieser Stelle in großem Maßstab archäologisch gearbeitet werden konnte, so dass dieses Areal zu einem der besterforschten wurde. Der Dritte schließlich sorgt hoffentlich dafür, dass auch Jüngere sich wieder mit einem der wirkungsvollsten Texte der Menschheit und seinen so komplexen wie spannenden Hintergründen beschäftigen werden. "Troia. Wie es wirklich war" ist dafür der anregendste Begleiter.

Titelbild

Birgit Brandau / Hartmut Schickert / Peter Jablonka: Troia. Wie es wirklich aussah. 70 Fotos, 43 Rekonstruktionen, Karten.
Piper Verlag, München 2004.
176 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 349204610X

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