Kaff - auch Klein-Wensen

Walter Kempowski kommt seiner Chronistenpflicht nach

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Heile Welt" -dieser Titel klingt nach nervtötender Langeweile: Denn was "heil" ist, läuft Gefahr, uninteressant zu wirken: niemand schreibt und vor allem niemand liest gerne über etwas, was vollkommen in Ordnung ist. Und so vermutet man, daß hinter dem scheinbar langweiligen Titel etwas Hintergründiges steckt: daß vielleicht eine vordergründig "Heile Welt" demontiert wird. Und tatsächlich: das trifft den Kern der Sache.

Kempowskis Roman spielt Anfang der Sechziger Jahre in einer Kleinstadt in Niedersachsen. Der junge Lehrer Matthias Jänicke, Jänicke mit ck, tritt nach mehreren mißglückten Berufsstarts eine Dorflehrerstelle im Provinznest Klein-Wensen an - er träumt von "freischaffendem Lernen in offener Behaustheit". Als Jänicke im Dorf zuerst den Pfarrer und dann den Schulrat besucht, erfährt er so einiges über seinen Vorgänger, der in Klein-Wensen Maßstäbe gesetzt haben soll: "Räken, dat ist wichtig, all dat annere is doch blot Speelkram". Wenn er darüber hinaus einmal Respekt und Ordnung wieder herstellen müsse, habe er von der Gemeinde keine Schwierigkeiten zu erwarten, wird Jänicke belehrt.

Und so beginnt der Neuling sein Leben in der festgefügten Ordnung und Hierarchie der Dorfgemeinschaft. Schon bald wird er zum Sonderling, der scheinbar nutzlose Antiquitäten sammelt und mit den Dorfbewohnern nicht sehr gut zurechtkommt. Jeder im Dorf redet mit jedem über jeden; nur der junge Lehrer wird die Geschichte seiner Vergangenheit, über die er so gerne sprechen würde, nirgends los. Auf der weißen Weste der Vergangenheit werden nach und nach dunkle Flecken sichtbar: einerseits bei Jänicke selbst, dessen Mutter ihn ohne Abschied gehenließ und dem ein glückliches Zusammenleben mit seiner Freundin ebenfalls nicht möglich zu sein scheint; auf der anderen Seite wird die Vergangenheit des Dorfes und seiner Bewohner aufgerollt. Es stellt sich zusehends heraus, daß die Dörfer im Krieg mit den Nazis kollaborierten. Jänicke entdeckt Stück für Stück, was sich hinter der glatten Fassade der "Heilen Welt" versteckt - so erfüllt sich das unterschwellige Versprechen des Buchtitels.

Der Chronist Kempowski erzählt weitgehend reflexionsfrei: er baut darauf, daß sich beim Leser durch das oft unverknüpfte Nebeneinanderstellen verschiedener Episoden ein Gesamtbild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit jener Zeit ergibt.

Der Autor weiß mit seiner detailgetreuen, mitunter minutiösen Schilderung der Situationen und Sachverhalte zu begeistern - an diesen Stellen entrollt sich für den Leser ein farbenfroher Teppich einer niederdeutschen Dorfgemeinschaft der frühen sechziger Jahre. Die Sprache und vor allem ihr Tonfall tun ihr Übriges zu dieser Wirkung. "Heile Welt" steht hier in der besten Tradition Kempowskischer Chronisten-Romane, die eine Plastizität erreichen, die einzigartig ist. Auf der anderen Seite jedoch ist es aber gerade diese Detailverliebtheit, dieses Auswalzen selbst nichtiger Einzelheiten, die Spannung fast überhaupt nicht aufkommen lassen, sie oft noch im Ansatz erdrücken. Kempowskis "Heile Welt" ist ein anstrengendes Buch.

Titelbild

Walter Kempowski: Heile Welt.
Knaus Verlag, München 1998.
479 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3813500519
ISBN-13: 9783813500516

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