Schaumdeutung

Metapherndelirien und höchste Komplexität: Peter Sloterdijk schließt seine "Sphären"-Trilogie ab

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Blasen" war 1998 der erste Band der "Sphären"-Trilogie Peter Sloterdijks überschrieben. Was der Titel nicht von vornherein vermuten ließ: Es sollte, wie seit Fichte und Hegel obligatorisch für die Philosophie, um die "allgemeinste Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" gehen. Doch man fand, wie stets bei Sloterdijk, auch reichlich anderes, beispielsweise eine "negative Gynäkologie", die den "Austausch zwischen Fötus und Plazenta" nicht verschmähte, aber sowohl der Versuchung, die "Vulva initiatisch als Tor zur Innenwelt zu passieren", als auch der Verführung zu "pornographischen Vulvogrammen" widerstand. Umso entschiedener wurde in "vorgeburtlicher Nibelungentreue" der Kampf gegen den "plazentalen Nihilismus" geführt, nicht ohne den Beistand der Engel als "Seelenraumteiler" und mit dem schönen Resultat einer "Omphalodizee" im Rahmen einer "Hermeneutik des Nabels".

Nicht ganz so subtil, eher deftig schilderte der 1999 erschienene Band II, "Globen", unter anderem die "Merdokratie" - auf Plattdeutsch: die Herrschaft der Scheiße - mit ihrem "latrinozentrischen Daseinsstil" im Unterschied zum "fäkofugalen" der "Atmopolitiker" und "Miasmologen". Auf der vollen Höhe der Theorie jetzt aber wieder Band III, "Schäume", mit einer neunfältigen "Topologie", bestehend aus "Chiro-, Phono-, Utero-, Thermo-, Eroto-, Ergo-, Aletho-, Thanato- und Nomotop", ungeachtet der beherzigenswerten Regel, dass die "autokongratulatorische Lebensform am Onanieüberdruß ihre Grenze" findet.

Der Sloterdijk-erfahrene Leser nickt anerkennend: Auf Fremdwörterexzesse und Metapherndelirien als die herausragenden Merkmale eines Denk- und Sprachstils, der mit dem Autismus einer Privatsprache zwischen Mystik und Potpourri alles mit allem verbindet und selbst schlichteren Themen höchste Komplexitätsgrade abgewinnt, ist hier Verlass. "Das Streben nach Erleuchtung bringt naturgemäß die völlige Verdunkelung." Die Blasen platzen, die Globen rotieren, und die Schäume schäumen so, dass der Philosoph als Schaumdeuter gefordert ist. Das Werk leistet Erklecklichstes an unfreiwilliger Komik. Schwierig - zu schwierig - ist es, keine Satire zu schreiben.

Leicht - zu leicht - ist es allerdings, nur eine Satire zu schreiben. Zwei Gründe, ein erfreulicher und ein unerfreulicher, verbieten das. Der erfreuliche: Dieses zweieinhalbtausendseitige Monsterwerk, dessen Füllhorn-Ökonomie Prologe zu ganzen Büchern, Exkurse zu Großessays anschwellen lässt, beeindruckt durch einen überbordenden Reichtum an Beobachtungen, Einfällen, Intuitionen, weitestreichenden Entwürfen, dazu an Lesefrüchten einer fabelhaften rezeptiven Intelligenz und, wie schon in der "Kritik der zynischen Vernunft", die Sloterdijk 1983 bekannt gemacht hat, durch eine Vielzahl von Illustrationen, die dem "Theoriespiel" eine visuelle Plausibilität verleihen.

Kein anderer deutscher Findekünstler, ausgenommen vielleicht Klaus Theweleit, kann Bilderbücher machen wie Sloterdijk. Am besten ist diese "Kritik der runden Vernunft", halleluja!, wenn sie ihre Neigung zur Chaostheorie zügelt und, "sphärologisch" gesagt, "am Ball" bleibt.

Sloterdijks Vorliebe für den hohen Ton, der sich durchweg im Pluralis Majestatis äußert, und die von Selbstironie freie herrische Geste, die auch durch einen romantisch-ironischen Epilog nicht balanciert wird, muss man trotzdem noch nicht mögen. Der Leser bekommt genügend Gelegenheit, ambivalente Reaktionen zu entwickeln, auf das heftigste am unerfreulichen Schluss: Das Werk, das sichtlich als philosophisches Opus magnum angelegt ist, endet im krudesten Sinn politisch, mit einem 200-seitigen Kapitel, das "ideologisch" zu nennen allzu freundlich wäre. Scheint es zunächst so, als miede Sloterdijk heikle Debatten, wie sie sich 1999, zwischen dem zweiten und dem dritten Band der "Sphären", an seinen "Regeln für den Menschenpark", seinem "Zarathustra-Projekt" (Thomas Assheuer) entzündet haben, so konvertiert er hier vollends vom Kritiker zum Propagandisten der zynischen Vernunft.

Philosophisch intendiert ist eine "große Erzählung" der Menschheitsgeschichte, die in die "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" mündet, allerdings nicht im Sinn einer diskursiven Disziplin, die im Konfliktfall der Präzision vor der Intuition den Vorzug gäbe und aus ihrem 2500-jährigen Training in Skepsis Bescheidenheit gelernt hätte. Die "Globalisierung" liefert das Stichwort, aber ausgerechnet bei dem Metaphoriker Sloterdijk in ihrer eigentlichsten Bedeutung, die den verblassten "Kugel"-Sinn von sphaira aktualisiert: Was heißt es menschheitsgeschichtlich, was zeitgenössisch, in "Sphären", "innenhaften, erschlossenen, geteilten Rundwelten" zu sein?

Damit geht eine Anthropologie des Menschen als des Räume bildenden Wesens einher, des menschlichen Lebens als "Formsache", vom Uterus, der als Rilke'scher Weltinnenraum alles einschließen kann, bis zum Kosmos, der dank der Rotverschiebung vom Urvertrauen zum endlos weiter explodierenden Urknall keiner mehr ist. Die von Sloterdijk aus der Taufe gehobene "Sphärologie" meint eine philosophisch, psychologisch, biologisch, klimatologisch, vor allem immunologisch versierte Lehre von den "beseelten Räumen", die sich an der "Kardinaldifferenz zwischen Innen und Außen" orientiert: ein ergiebiger Ansatz.

Nach Oswald Spengler eine neue Morphologie, doch ohne Spenglers Hang zum Untergang. Man kann und soll das Ganze aber auch als Anschlussprojekt zu Heideggers "Sein und Zeit" lesen: das "ungeschriebene Über-Buch der abendländischen Philosophie, das ,Sein und Raum' hätte heißen müssen". Das Verhältnis der raum- zu den geschichtsphilosophischen Modellen bleibt freilich unterbestimmt. Ob die Zeit-Raum-Verschiebung überhaupt plausibel ist, steht dahin. Zu viele andere Tendenzen der Gegenwart - die Diktatur der Geschwindigkeit, die Überführung von allem Sein und Haben in zeitlich limitierten "Access", von den quanten- und astrophysikalischen Kontinuen zu schweigen - stehen dem entgegen.

"Wo sind wir, wenn wir in der Welt sind?", so die neue, Heidegger fortführende Frage - "Wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren sind?", spitzt Sloterdijk zu. Doch wo sind wir, wenn wir in Sloterdijks Welt sind?

Der "Mikrosphärologie" der "Blasen" zufolge in den Lebens-Räumen des In- und Mitseins, die sich gegen ihr Außen abgrenzen und erhalten, in "starken Beziehungen", "Zweieinigkeiten", "dyadischen Intimitäten", von der embryonalen, aber plazentabegleiteten "Klausur in der Mutter" über die Intimsphäre zwischen den Gesichtern der Liebenden, psychotherapeutische Hypno-Verhältnisse und die musikalische "Sonosphäre" bis zu diversen religiösen Seelenraumteilungen. Das Kuriose verbindet sich hier mit dem glänzend Beobachteten und ergiebig Spekulierten. Die leitende Absicht dieses Teils: Die Wiedergewinnung eines von der neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Philosophie verleugneten präsubjektiven und präobjektiven Kontinuums von Beziehungen ist indes nicht neu, hier nur so reich instrumentiert wie selten.

Die "Makrosphärologie" der "Globen" erschließt aus der Geschichte der sphärenerweiternden Globalisierung, aus den Raumbildern von Pantheon-Kuppeln und päpstlichen Tiaren, von Stadtmauern und Reich- und Weltgrenzen, von Reichsäpfeln und Globen, von philosophischen Seinskugeln und dem kugeligen göttlichen All-Einen, das in der gottesmörderischen Moderne explodiert, was es heißt, Bewohner einer Kugel zu sein - oder aber sich nach der neuzeitlichen Dezentrierung und Entgrenzung in einem infiniten Raum zu finden, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgendwo ist, in einer firmamentlosen Leere, die nur ein eisiges Schweigen füllt: Verlust der Mitte und der Peripherie.

Wie stimulierend und originell Sloterdijk sein kann, zeigt hier etwa seine Neuinterpretation eines der scheinbar ausgelaugtesten Texte der Philosophie, von Nietzsches "Der tolle Mensch".

Die "plurale Sphärologie" der "Schäume" schließlich versucht eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem Gesichtspunkt, dass das Leben sich nun in "Raum-Vielheiten" von "lose aneinanderrührenden lebensweltlichen Zellen" entfaltet, deren schaumartige Kombination ebenso beweglich wie fragil ist. Die Beispiele reichen von der Parzellenbewirtschaftung über "gestapelte" Apartment-Architekturen, klimatisierte Treibhäuser und Mobile-Home-Siedlungen bis zu astronautischen Raumkapseln.

Auf das kosmologische Urtrauma der Moderne, das Zerbrechen der geschlossenen Welt und die Dezentrierung im ungeheuren Weltaußenraum, antworten die Schäume mit neuen polyzentrischen Innenraumbildungen; auf das immunologische Urtrauma wiederum, die Gefährdung dessen, was bis dahin selbstverständliche Lebensbedingung war - Um-Welt, Atmosphäre, Luft, Klima -, mit einer kompensatorischen "Umweltumkehrung": Das bisher Umgebende muss nun zur "umgebenen Umgebung", das bisher Latente explizit, das bisher Naturale in "biosphärischen" Treibhäusern artifiziell gemacht werden. Das ist nach Karl Jaspers Sloterdijks Aktualisierung der Wissenschaft vom Umgreifenden. Beeindruckend besonders der Aufriss des 20. Jahrhunderts vom Generalangriff der militanten Moderne auf die Atmosphäre im Giftgaskrieg.

Doch dann, im monströsen Schlussteil, kommt es knüppeldick. Hier soll es um die Entdeckung der "Levitation", der unendlichen Leichtigkeit des Seins in den Schäume-Räumen der Moderne gehen. Tatsächlich wird eine affirmative Farce daraus, die bestens für die Interessenvertretung von modernisierten Stahl-Clubs taugt.

Nachdem Sloterdijk schon den Begriff der "Gesellschaft" verabschiedet hat, um ihn in Anführungszeichen oder in seinen sozialen Bindestrich-Versionen unverdrossen weiterzuverwenden, rechnet er entschlossen mit seinen alten Freunden von der Kritischen Theorie ab. Philosophie als Distanzwissenschaft wird verabschiedet, damit sie zum neuen Lehrstück vom Einverständnis, zur "kuratorischen Praxis" werde.

Gar nicht kuratorisch aber ist der Umgang mit der Gegenseite. Sloterdijks Positivismus, wortwörtlich zu verstehen als positive thinking, entpuppt sich als denunziatorisch: Das Miesmachertum "habitueller Kritizisten" lässt "auf eine behinderte Intelligenz schließen, die ihrer zweitklassigen Regungen nicht Herr geworden ist". Sie frönen dem "Hämeluxus und Herabsetzungsluxus" und kennen nur eine Wissenschaft: die "Viktimologie", die Beileidswissenschaft von den Verlierern und Opfern, zu denen sie selbst freilich nicht zählen. Denn ausgerechnet der verhöhnte Wohlstand "belohnt seine Kritiker", generös, wie nur er ist, "und seine Verächter stattet er mit Stipendien aus". Undankbarerweise sind sie die Agenten der "Neidkultur": so der jüngste philosophische Beitrag zum Mannesmann-Prozess.

Wo die "Gesellschaft" aber nur noch in Anführungszeichen existiert, gibt es keine "Realität" mehr, sondern nur noch Konstruktionen. Gesellschaftstheorie wird als "Schaumdeutung" neu formuliert. Wenn es darum ginge, den Konstruktivismus zu parodieren, hätte Sloterdijk darin Beträchtliches geleistet.

Dank solcher "Schaumdeutung" befinden wir uns weiterhin auf dem Boden der affluent society, der überfließendsten der Gesellschaften, als habe Sloterdijk in den letzten Jahren, eingetaucht in seine "Blasen" und "Schäume", keine Zeit gefunden, sich umzusehen. Wo die "miserabilistische Internationale" nach wie vor oder schon wieder Elend sieht, im Weltmaßstab gar zunehmende Verelendung und selbst in den kapitalistischen Paradiesen die Krise, feiert er ungerührt die reichste aller Welten.

Die "Armutsontologie" wird zur Reichtumsontologie umgeschrieben. Not ist eine "Not-Lüge", bestenfalls "exotisch". Ansonsten herrscht wie bei Heidegger die "Not der Notlosigkeit". "Verwöhnung" ist das neue Zauberwort, das von Gerechtigkeit nichts mehr wissen will. Geschichte, "alle Geschichte", absurderweise einmal mit "gesellschaftlichen", gar mit Klassenkämpfen in Verbindung gebracht, ist "die Geschichte von Kämpfen zwischen Verwöhnungsgruppen".

Dieser strenge Bescheid, der nicht zur Verwöhnung passen will, gilt für so unterschiedliche Gruppen wie die Mütter, die Parasiten des Sozialstaats und Drittweltbewohner. Was die Mutter für das "Uterotop" an Verwöhnungsleistungen erbringt, leistet der Luxusstaat als "Allomutter". Die Mütter, "die Karyatiden im Gebälk der Zivilisation", wissen aber, anders als andere Verwöhnungsgruppen, "dass es ein Privileg ist, sich anstrengen zu dürfen". "Wäre es nicht indezent, könnte man sagen, ein Erfolgsgeheimnis der guten Mutter bestehe darin, die Muttermaschine in ihr unbehindert arbeiten zu lassen ... Die Mutterperson ist dann ein levitierter Überbau über dem Muttertier, das sie selbst ist."

Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und andere Sozialstaatsgewinnler wissen: "Staatsknete ist die Mutter der Coolness." - "Die Arbeitsämter könnten längst Arbeitsvortäuschungsämter heißen." Und: "Kranksein ist die geläufigste Interpretation der Freizeitchance geworden." - "Therapieluxus, Vorsorgeluxus, Versicherungsluxus und Unzufriedenheitsluxus" gehen aber undankbarerweise Hand in Hand.

So steht es in den inklusiven Räumen. Wie aber draußen vor der Tür? "Die Gleichung von Menschenrechten und Komfortrechten" ist in Kraft gesetzt. "Für die Menschenrechte anderer einzutreten hat zur Folge, ihnen den Eintritt in den effektiven Verwöhnungsraum bahnen wollen - und das heißt sie als Rivalen begrüßen ... Hierzu bildet die juristische Verteidigung von Verfolgten einen wichtigen ersten Schritt." Die "sog. Entwicklungspolitik" hat indes eine "selbstsabotierende Struktur". "Die Endlichkeit der Freiheit" zeigt sich darin, "dass auch der Großzügige sich früher oder später gegen den Expansionismus der fremden Freiheit", wie ihn etwa "Immigrantenströme" betreiben, "zur Wehr setzen muss".

Versteht man nun, warum Sloterdijks "Sphärologie" so viel Gewicht auf die Immunologie, die Ex- und die Inklusionsverhältnisse, auf "Selbstschließung und selektive Teilhabeverweigerung" legt? In der Tat könnte man in der Forcierung der Immunitätsmotive den Debattennachfolger der "Regeln für den Menschenpark" entdecken. Einstweilen verwöhnt Sloterdijk seine Leser mit der Synthese von Schaumdeutung und Stammtisch.

Titelbild

Peter Sloterdijk: Sphären III. Schäume.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
916 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3518414666

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