Über Probleme, die auch unsere sind

Erzählerinnen aus Korea

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Geschäft läuft schlecht. Immer weniger Kunden nehmen den Service in Anspruch, den die junge Frau anbietet: per Telefon oder mail an Geburts- und Gedenktage von Familie und Freunden erinnert zu werden. Und das nicht, weil persönliche Zuwendung sich ausbreitet, sondern weil größere Firmen, die sich zusätzlich um Blumen oder Geschenke kümmern, den Markt erobern. Das Kellerzimmer, in dem die Heldin haust, ist dunkel und feucht; trotzdem ein idealer Aufenthaltsort für sie, denn dort beachtet niemand ihre auffällige Zahnlücke.

Eine deprimierende Lektüre also? Überhaupt nicht. Die lakonische Beobachtungsgabe, mit der Yun Songhi ihre Ich-Erzählerin ausstattet, die kleinen Rebellionen der Heldin lassen die Erzählung fast heiter wirken. In kurzen, prägnanten Sätzen ist eine Welt umrissen, in der ohne große Beschädigungen immerhin zu überleben möglich scheint.

Yun, Jahrgang 1973, ist die jüngste der Autorinnen, die sich in der von Heidi Kang und Ahn Sohyun übersetzten Sammlung von "modernen Erzählungen koreanischer Frauen" findet. Die älteste Autorin ist 1959 geboren. Ist unmodern, wer die Fünfundvierzig überschritt? Der polemischen Frage entgegen ist die Einschränkung wohlbegründet. Während in Deutschland die Erfindung immer neuer Generationen mittlerweile ermüdet, kann in Korea, das in den vergangenen vierzig Jahren eine Industrialisierung im Zeitraffer und, nach heftigen Kämpfen, den Übergang von einer Militärdiktatur zur bürgerlichen Demokratie erlebt hat, ein geringer Altersunterschied eine radikal andere soziale Erfahrung bedeuten. Die älteren der Autorinnen in diesem Band haben als Studentinnen noch die durchaus gefahrvollen Demonstrationen gegen die Generale erlebt, konnten sich freilich in einer rasch an Reichtum gewinnenden Gesellschaft einrichten; für viele der jüngeren gehören Entfremdung und Zerfall traditioneller Ordnungen, wie sie die heutige städtische Kultur prägen, schon selbstverständlich zum Lebensumfeld.

Literatur für Ostasien-Interessenten also? Nein, weil sich im Koreanischen die europäische Moderne spiegelt, die sonst als selbstverständlich erscheint. In Deutschland hat man sich an Verluste wie Gewinne der Individualisierung gewöhnt. Die östliche Perspektive ruft die Kostenseite der Rechnung ins Bewusstsein zurück. Dass es sich um Erzählungen von Frauen handelt, ist dabei zweitrangig. Ein gemeinsamer weiblicher Blick ergibt sich, zum Glück, nicht. Wie die Geschlechterbeziehungen generell von Unverständnis und zuweilen von Gewalt geprägt sind, notieren männliche Autoren in Korea auch, und ohne starke Abweichungen. Im Unterschied zur politisch-kämpferischen Literatur der vorhergehenden Generation gibt es eine Tendenz zur Subjektivierung. Dass sechs der acht Erzählungen aus der Ich-Perspektive erzählt sind und eine siebte konsequent personal gestaltet ist, scheint nicht zufällig.

Auch zum Glück für den deutschen Leser haben Ahn und Kang eine Auswahl getroffen, die eine Vielfalt von Sichtweisen bietet. Denkbar verschiedene Ansätze sind vertreten. Damit bieten die Herausgeberinnen eine umfassende Orientierung in der koreanischen Gegenwartsliteratur. Nachteil ist, dass auch schwächere Erzählungen sich im Band finden. In der Titelerzählung Jon Kyongnims etwa wird das "ganz einfache gepunktete Kleid", das die Hauptfigur zur Hochzeit des eigentlich geliebten Vetters tragen muss, etwas aufdringlich zum Symbol für die oberflächlichen sexuellen Beziehungen in den folgenden Jahren. Die Schlusssätze, mit denen sich die mittlerweile etablierte Erzählerin vom Kleid verabschiedet, prügeln dem Leser dann ein, was er doch sowieso verstanden haben sollte. Kong Sonoks "Die allein stehende Mutter" schildert in traditionell realistischer Darstellung präzise Probleme und Scheitern einer vom Alkohol bedrohten Städterin, die nach der Trennung von ihrem Mann auf dem billigeren Land nicht mit den Regeln des noch traditionellen Dorfes zurechtkommt. Indessen beschädigen thesenhafte Erklärungen den literarischen Wert. Hier zeigen sich Grenzen der Übertragbarkeit: Was in Korea, wo das Patriarchat noch offener agiert, Leserinnen nötigen Mut macht, wirkt angesichts verdeckterer Unterdrückungsmechanismen in Europa plakativ.

Kann frau zurück? Lebenskraft aus der Tradition schöpfen? In Kim Kyong-Hes "Das kostbare Erbstück" erhält die weibliche Hauptfigur die kostbaren Grabbeilagen, die ihr Vater sich gewünscht hätte, zu spät. Der Vater ist eingeäschert, ein Grab gibt es nicht. Sinnlosigkeit? Immerhin reflektiert die Ich-Erzählerin, ohne Eltern und ohne Freund, ihre Lage, gewinnt ein neues Verhältnis zu ihrem Vater und zum Überkommenen. Das ist stimmig und zwingt zur Frage nach den Erfolgsaussichten einer solchen Strategie, die angesichts rapider Modernisierung gering zu veranschlagen sind. Auch in Deutschland hilft das wenig, zumal Übersetzungen, dienen sie auch der Kulturvermittlung, doch stets dazu da sind, das Leben und nicht nur das Wissen des Lesers zu bereichern. Ist Kim indessen scheiternde Ideologin? Doch wohl nicht, indem sie durch das "zu spät", das die Erzählung durchzieht, ihre eigene Lösung als Lösung dementiert. Ihre Tradition ist Erinnerung, repräsentiert Praxis, die versäumt wurde.

Perspektiven? Zwei Autorinnen wählen männliche Protagonisten, um ihre Sicht des Geschlechterverhältnisses zu veranschaulichen. In Ha Songnans "Schimmelblumen" durchwühlt ein Mann, dessen Geliebte einen in seinen Augen unwürdigen Anderen geheiratet hat, die Müllbeutel aller Parteien seines anonymen Wohnblocks, um etwas über seine Nachbarin zu erfahren. Letztlich gewinnt er nichts, hilflos, wie auch der Protagonist in Un Hikyongs "Die Schachteln meiner Frau". Un zeichnet die Entfremdung in einer Ehe konsequent aus der Perspektive des Mannes nach, der weder sich selbst noch seine Frau versteht. Dabei ist er keineswegs brutal, nur lässt ihm eben sein Arbeitsalltag wenig Zeit. Konventionelle Wahrnehmungsmuster versperren darum den Zugang zu seiner zunehmend verrückten Frau, wobei offen bleibt, ob und wie ihr zu helfen gewesen wäre. Gerade indem das männliche Ich nicht als bösartig erscheint, indem der Erzähler lediglich beschränkt den Konventionen folgt, stellt sich das Scheitern dieser Ehe als Konsequenz der geltenden Moral dar, und nicht als ihr Gegenstück. Den Wahnsinn, der dann für die Frau Befreiung sein mag, erwähnt das Erzähler-Ich nur andeutungsweise; Zeichen dafür, wie rigide die Wahrnehmungsmuster noch sind, und Zeichen einer unüberbrückbaren Distanz zur Frau, die sich verweigert. In solcher Widersprüchlichkeit zeigt sich Un als Autorin, von der man gerne mehr lesen würde.

Möglich ist das für Jo Kyung Ran, von der mittlerweile unter dem Titel "Wie kommt der Elefant in mein Schlafzimmer?" ein Erzählungsband auf Deutsch vorliegt.Wie alle Figuren in diesem Band besitzt auch Jos Protagonistin, aus deren Perspektive erzählt wird, keine herausgehobene soziale Position. Ihr Mann hat sie verlassen, und sie verdient mehr schlecht als recht den Lebensunterhalt als Besitzerin eines Brillengeschäfts. Zwei Sonntage im Monat sind frei; ansonsten nimmt sie die Welt durchs Ladenfenster wahr. Männer mit ihren sexuellen Ansprüchen erscheinen nur als Bedrohung. Einer onaniert gegen das Fenster, der benachbarte Augenarzt verspricht Überweisungen, freilich nur gegen körperliche Verfügbarkeit. Die älteste und lebenslustigste Kundin stirbt; Anlass nicht zu weiterer Depression, sondern zu einem befreienden Opfer, das, wenn es auch die patriarchale Herrschaft nicht zersprengt, doch Kraft zum Überleben verspricht.

Setzt Jo derart noch Hoffnung gegen die sozialen Beschränkungen, die ihr der Stoff doch nahelegt, so verfährt Bae Suh-Ah in ihrer Erzählung "Ein Rudel schwarzer Wölfe" konsequenter. Ihre Erzählerin ist wirklich emanzipiert, von traditioneller Bindung wie von menschlichen Bezügen; wobei es das Heute kennzeichnet, dass Befreiung nicht ohne A-Sozialität darstellbar ist. Sie schleppt ihn, den als Geliebten zu bezeichnen allzu herzlich klänge, auf verschiedene Ausflüge mit; so auch in die Hafenstadt, in der vermutlich ihr Bruder verschwand. Der Bruder arbeitete, irgendwie, vielleicht im örtlichen Zoo, um der Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Möglicherweise ist er jener Arbeiter, der zu Tode kam, von den Wölfen zerrissen, die die Zoobesucher ohnehin kaum interessierten. Konsequente Nachforschung, Klarheit, vermeidet die Erzählerin, wie sie überhaupt gerne im Ungefähren bleibt. Dem entspricht eine assoziative Erzählweise, die hier ihre genaue Funktion hat: die notwendigen Lebenslügen einer Generation, die die Kosten des Überlebens so genau gar nicht wissen will und sich dabei abgebrüht vorkommt, nicht zu zerstören, sie dabei aber auch als Leerstellen zu kennzeichnen. Unter den drei wohl vernachlässigenswerten Erzählungen von Jon, Kong und Kim und den wertvollen Erzählungen von Un, Ha, Jo und Yun findet sich hier ein herausragendes Werk.

Die Erzählungen wirken korrekt übersetzt; manche Sätze erfreuen hingegen leider nicht, wie gleich auf der ersten Seite: "Trotz der Bemühung um Schlichtheit der unerfahrenen Schneiderin hatte ihr Werk etwas Gewagtes." Vermutlich soll das Werk schlicht sein, nicht die Schneiderin - vom Nominalstil abgesehen. Ein solch krasser Fehlgriff bleibt zum Glück Ausnahme, doch herrscht, von unterschiedlicher Satzlänge abgesehen, ein Einheitsstil vor, der fragen lässt, ob das spezifische Koreanisch der immerhin acht Autorinnen sensibel erfasst wurde; im sprachlichen Detail jedenfalls scheint das Ästhetische nachrangig behandelt worden zu sein. Vielleicht ist hier das Potenzial der Originale nicht ausgeschöpft. Ein Nachwort und biographische Angaben zu den Autorinnen bieten wiederum nützliche Informationen. Ein paar wichtige, für das Verständnis der Konflikte notwendige Hinweise hätte man sich zusätzlich gewünscht: etwa zur Titelerzählung Jons, dass die Erzählerin nach koreanischem Recht den Vetter gar nicht hätte heiraten können und eine solche Verbindung als Inzest gewertet würde. Auch ohne solche Kenntnisse eröffnen sich freilich dem Leser über Handlung und Inhalt Welten, die weit über das Interesse am Exotischen hinaus verschiedene und kraftvolle Wahrnehmungen der Moderne ermöglichen. Nicht um wohlwollende Interkulturalität geht es hier, sondern die Probleme, die die acht Autorinnen behandeln, sind zugleich unsere eigenen.

Titelbild

Sohyun Ahn / Heidi Kang (Hg.): Ein ganz einfaches gepunktetes Kleid. Moderne Erzählungen koreanischer Frauen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Heidi Kang und Sohyun Ahn.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2004.
188 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3934872573

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