"Schandfleck der ganzen bayrischen Armee"

Oskar Maria Grafs Antithese kontinuierlicher Isolation und Verzweiflung

Von Ulrich DittmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Dittmann

"Ich werde niemals einen Staat oder irgendein System mit der Waffe verteidigen, weil das für mich barbarisch ist. Wenn ich Sie umbringe, kann ich nicht mehr mit Ihnen reden. Ich bin seit dreißig Jahren Anhänger Tolstois und ungefähr so etwas wie ein religiöser Sozialist" - mit diesen Worten begründete Oskar Maria Graf 1958 seine Verweigerung des Kriegsdienstes vor der Einbürgerungsbehörde der USA, die ihm nach 15-jähriger Wartezeit beim Eid auf die Landesverfassung die Verpflichtung erließ, Amerika mit der Waffe zu verteidigen. Während etwa 250 zur Vereidigung Geladene kollektiv die übliche Formel sprachen, schwor er allein auf eine viel kürzere, aus der "alles, was Militär- und Kriegsdienst betraf, herausgelassen" war.

Graf datiert die Wurzeln seines konsequenten Pazifismus in die Entstehungszeit von "Wir sind Gefangene" (1927), dem laut Untertitel autobiografischen "Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt". Schon als Fünfundzwanzigjähriger hatte er fünf Jahre zuvor eine Beschreibung seiner Jugend und Soldatenzeit "Frühzeit" (1922) veröffentlicht, die erweitert als erster Teil in der späteren Autobiografie aufging und mit dem zweiten Teil "Schritt für Schritt" bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fortgeführt wurde. Auch an das Ende dieses so viel umfangreicheren und erfolgreicheren Lebensbuchs stellte Graf, in einzelnen Passagen ergänzt, den "Epilog" aus "Frühzeit", in dem er für sein so unorientiert verlaufenes Leben als motivierenden Fluchtpunkt die Auseinandersetzungen mit dem älteren Bruder Max formuliert hatte:

"Zehn Jahre war ich alt, als einer in mein Leben trat, erzogen von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, und meine Erziehung in die Hand nahm. Zehn Jahre, als einer zu befehlen begann, mich anschrie, prügelte und noch mehr prügelte. Zehn Jahre war ich alt, als ich anfing zu wissen, was Zwang ist, und anfing ihn zu hassen, sinnlos zu hassen."

Gleichzeitig mit dieser Konfrontation und der noch 'sinnlos' heftigen Reaktion auf den Gesinnungsmilitaristen lässt der rückblickende Erzähler sein autobiografisches Ich den kindlichen Glauben verlieren und einige Jahre später dann ein universales Angst- und Isolationsgefühl erfahren. "Winzig klein wurde mein Kreis und hieß nur noch: Ich. Ganz plump: Ich. -"

Damit begründet in dem erweiterten Teil vom "Epilog" der Erzähler des Buches "Wir sind Gefangene" sein Verhältnis zu den geschichtlichen Vorgängen: "Ideen und Ereignisse drangen heran. [...] Ich fand sie unterhaltlich und belächelte sie tief zu innerst ungläubig. [...] Der Krieg kam und war mir nichts als eine einzige Narretei".

Sein spontan und orientierungslos gelebtes Leben stand post fest unter einem frühen Ursprungserlebnis, er hatte - indem er unausgesprochen, aber deutlich genug seine Reaktionen auf Kriegs- und Nachkriegserleben daraus ableitete - eine individuelle Begründung für seine Biografie konstruiert, die sich zunächst wie die chronikartige Niederschrift seiner Erlebnisse als ein Kriegsreport aus der Perspektive 'von unten' liest und auch oft direkt als zeitgeschichtlicher Beleg zitiert wurde. Der "Epilog" jedoch eröffnet mehr die Frage nach der Begründung für Grafs Darstellung seines Antimilitarismus, als dass er sie erledigte.

Die entschieden antimilitärische Haltung findet sich so oft in seinem Werk artikuliert, dass eine eigens ihm gewidmete Beschäftigung überflüssig zu sein scheint. Kein Aufsatz widmet sich der Frage nach der Begründung seiner Reaktion auf den Krieg. Die Biografie, jegliche Aktion und Selbstdeutung scheinen schlüssig zusammenzustimmen, und man fürchtete wohl tautologische Zitatenreihungen - jedes Handbuch etikettiert Graf als Kriegsgegner! Die Frage nach dem Motiv für die Gestaltung des Antimilitarismus mag auch wegen des anscheinend naiv, z. T. in der Mundart erzählten Lebens überflüssig gewirkt haben.

Übersehen wurde dabei, dass der Autor sein Erlebnis des Ersten Weltkriegs unterschiedlich darstellt. Dass er z. B. in der figurenreichen Autobiografie seinen vorbildhaften Freund Schönleber aussparte, dem er erst in der 1929 erschienenen Kalendergeschichte "Der unentwegte Zivilist" ein Denkmal setzte. Man fragte wohl auch wegen des humoristischen Tones nicht ernsthaft nach, warum - anders als die frühen Autobiografien, die auf den ersten Seiten den Tod des Vaters erwähnen und ganz im Zeichen der brüderlichen Konfrontation stehen - "Das Leben meiner Mutter" (1940) dem Vater eine ganz wesentliche Orientierung als Kritiker des Militärs zuschreibt. Warum er, statt die kindliche Prägung anzuführen, bei der lebensentscheidenden späteren Begründung seines Pazifismus auf die Zeit zurückweist, in der er sich erst literarisch mit dem Kriegserlebnis auseinander setzte? Diesen Fragen nach der Gestaltung seines antimilitaristischen Werdegangs soll im Folgenden nachgegangen werden, nachdem der biografische Befund und dessen Verarbeitung in den Texten dargestellt wurden.

Graf im Krieg

Die familiäre Erfahrung in der Auseinandersetzung mit dem als völliger Wilhelminer aus seiner Dienstzeit heimkehrenden Bruder machte Graf aufnahmefähig für die im Tat-Kreis um Erich Mühsam diskutierten Ideen. Graf entzog sich zunächst dem Militärdienst. Seine im Frühjahr 1914 mit Georg Schrimpf unternommene Vagabondage ins Tessin half, die Eintragung in die "Stammrolle", die "nächstjährige Ausmusterung zum Militärdienst" zu vermeiden. Sie kam - das ist eine spätere Begründung - "für Anarchisten überhaupt nicht in Frage".

Wie im Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchiv einsehbar, erfolgte der Eintrag in die Stammrolle als "Trainreiter" und Grafs Vereidigung mit über hundert weiteren Rekruten bei der Train-Ersatz-Abteilung der achten Armee in München erst am 1. Dezember 1914. Dass er sich dabei freiwillig gestellt haben könnte, wie das in seiner Generation üblich war und durch ein Zitat aus der verkürzten Fassung von "Wir sind Gefangene" in einer jüngeren Dokumentensammlung zum Ersten Weltkrieg nahe gelegt wird, kann man schon aufgrund des Datums ausschließen. Seine Brüder und Berliner Freunde, allen voran Franz Jung, den er im Vergleich zur "Frühzeit"-Darstellung in "Wir sind Gefangene" andeutend entschuldigt, waren zu seinem Entsetzen schon eher eingerückt. Die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Dienstes, die Möglichkeit einer kostenlosen Rückkehr nach München und die Ratschläge, er könne nur mit eigener Initiative Schlimmeres vermeiden, motivierten seine Meldung zum Dienst. Seine im Brief an Richard Dehmel geäußerte Hoffnung, "bald ins Feuer" kommen zu können, hat Gerhard Bauer bereits als "opportunistischen Schachzug gegenüber dem als nationalistisch eingeschätzten Dichter" vieler kriegsbegeisterter Poeme interpretiert. Auch nach seiner Soldatenzeit wusste er die Begeisterung für das Heldenklischee schamlos, aber gewinnbringend auszunützen.

Nach zweimonatiger Ausbildung "mit Karabiner 98 und als Fahrer von Sattel und Bock" wurde Graf am 29. Februar 1915 mit einer neu zusammengestellten, mobilen "Eisenbahntruppe zur besonderen Verwendung Nr. 2" nach Insterburg in Ostpreußen versetzt. Als Aufgaben verzeichnet das Kriegstagebuch seiner Kompanie die Verlegung von Telefonkabeln und das Umnageln von Eisenbahnstrecken auf die deutsche Spurbreite. Der Frost behinderte diese Aufgaben, und Tauwettereinbrüche machten die Arbeit sinnlos. Bei diesen Arbeiten, an denen auch bis zu 3000 russische Gefangene beschäftigt waren, wirkte Graf nicht länger als 2 Monate mit. Am 5. April verlegte man ihn wegen Ruhr-Verdachts "wieder anher" nach München, wo er die Zeit zwischen 1. und 9. Mai im Lazarett verbrachte. Erneut an die östliche Front als Ordonnanz eines Stabsoffiziers der Eisenbahntruppen versetzt, erlebte er die Kämpfe nur aus der Distanz. Als "Etappenschweine" machten er und Freund Schönleber die Schlacht bei Kowno mit, in der Ernst Wurche, Walter Flex' in "Wanderer zwischen beiden Welten" gefeierter Kamerad, fiel. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass neben den späteren Idolen des deutschen Soldatentums der "Schandfleck der ganzen bayrischen Armee" und der "unentwegte Zivilist" Dienst taten. Für Wurches "tiefsten Wunsch", an einem Sturmangriff beteiligt zu sein, hätten sie kaum Verständnis aufgebracht. Dass Graf "das schockierende Erlebnis aller, die von den Fronten berichten konnten, [...] anscheinend nie gehabt" hat, wie Gerhard Bauer vermutet, bestätigt das Kriegstagebuch, auch wenn darin nie von Personen, sondern immer nur von Arbeitsvorgängen die Rede ist - so meldet es nach der Schlacht bei Kowno "eine Reihe sehr schöner Aufgaben für die Pionier- und Baukompagnien" bei der Wiederherstellung eines Tunnels und einer Brücke.

Mitte Oktober wurde seine Kompanie nach Lida, südlich Kowno, und am 2. Dezember neuerlich nach Norden ins Winterquartier nach Rakischki, in die Gegend westlich Dünaburg, verlegt. Hier steigerten sich Grafs frühere, unberechenbar-spontane Widersetzlichkeiten gegen die Vorgesetzten zur offenen und konsequenten Befehlsverweigerung: Während einer extremen Kälteperiode sollte er einem steifgefrorenen Pferdekadaver die Decke abziehen. Sein Ungehorsam und die Reaktionen der Vorgesetzten schaukelten sich so weit auf, dass Graf in ein Kriegslazarett der Etappeninspektion der achten Armee in Poinjewicz, noch in der Nähe der Front, eingewiesen wurde. Am 29. Januar 1916, dem Tag seines Ausscheidens aus dem aktiven Dienst, meldet das Tagebuch der Kompanie die Fertigstellung einer Eisenbahnausweiche und "Sonst nichts Neues". Aus dem Kriegslazarett, einem so genannten "Schleusenlazarett", in dem die Frontversager wieder kriegstauglich gemacht werden sollten, entließ man Graf am 22. Februar zunächst ins Vereinslazarett nach Görden in der Mark Brandenburg, und am 15. April überwies man ihn ins Reserve-Lazarett - ebenfalls eine Nervenheilanstalt - Haar bei München. Dass er bereits in Görden vom Vereinslazarett in die dortige Landesirrenanstalt verlegt wurde, verschweigt die Kriegsstammrolle wohl aus Disziplingründen: 1916 war das Jahr besonders vieler 'Kriegspsychosen', von denen man Ansteckungen anderer Soldaten befürchtete.

Endgültig schied Graf am 9. Dezember 1916 aus dem Militärdienst aus, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach seinem Dienstantritt und genau nach seinem Plan, nicht länger als zwei Jahre Soldat zu sein - so wie es ihm, als so genanntem 'Zweijährigen', das Wehrgesetz nach seiner Interpretation vorschrieb. Die Entlassungs-Diagnose im Hauptkrankenbuch aus Haar vom 4. Dezember, mit der er zu seiner Kompanie überwiesen wurde: "dienstunbrauchbar ohne Versorgung", zitiert die Kriegsstammrolle bei seiner Entlassung nach Haus, nach Berg bei Starnberg, Brigadebezirk Weilheim.

Daneben vermerkt die Stammrolle noch zur Führung "sehr gut", wie stereotyp bei allen anderen Soldaten der Einheit auch. Darüber hinaus enthält sie für Graf eine Reihe abweichender Einträge: Zwar verzichtete jeder Soldat schon beim Eintritt in die Kompanie auf Versorgungsansprüche; das "erhebt solche nicht" ist nur bei ihm mehrfach überklebt und durch ergänzende Vermerke über neuerliche Belehrungen und Verzichte hinsichtlich der öfter geänderten versorgungsrechtlichen Regelungen erweitert. Nur bei ihm hat es mehrere Anlässe gegeben, die damals brisante Frage nach den Renten für Kriegspsychotiker zu klären.

Damit steht am Schluss des einfachen Daten- und Faktengerüsts die Frage, die ins Zentrum der biografischen Betrachtung seiner Kriegszeit führt und - soweit möglich - subjektiv-literarisch wie auch objektiv-medizinisch zu verfolgen ist: Wie gelang es ihm, nach so kurzer Frist seinem Dienst in dem damals noch unangefochten geltenden Machtapparat entkommen? Wie weit verdankte er das bewusster Planung? Thomas Mann soll nach der Lektüre von "Frühzeit" bewundert haben, dass Graf "doch als einzelner der ganzen Militärmaschine [hat] widerstehen können". Aus dem in seinen frühen autobiografischen Büchern sehr objektiv geschilderten Verhalten, seinem Lachen, Hungern und Verstummen, die zur Einweisung geführt hatten, las der mit den "Bekenntnisse[n] des Hochstaplers Felix Krull" beschäftigte Autor jenes Moment Simulation, das Graf selber erst im "Leben meiner Mutter" deutlich formulierte: "'Wenn schon krepiert werden muß, dann nur durch mich selber!', dachte ich verbissen und verweigerte das Essen"; dieses Eingeständnis eines Simulationsplans verdeutlichte er in der "Neuausgabe 1959" gegenüber der Erstausgabe. Hatte er dort, nachdem die Familie ihre Vorbehalte gegen den angeblich Unzurechnungsfähigen aufgab, der Mutter "alles" erzählt, so gestand das autobiografische Ich in der späteren Fassung seiner Mutter, "daß ich nur simuliert hatte".

In der Einschätzung dieser Verhaltensweise gehen Grafs Biografen weit auseinander: Georg Bollenbeck meint, dass er "beim individuellen Widerstand [...] zäh und beherrscht" vorgegangen sei, "so verworren dies auch heute klingen mag"; die auf Befehlsverweigerung angedrohte Todesstrafe habe ihn, der nach Franz Jungs Vorbild den Idioten simulierte, nicht abschrecken können.

Gerhard Bauer formuliert vorsichtiger, wenn er Graf - im Gegensatz zu dem "schwierigeren, methodisch vorgehenden Jung", der "mühsam seinen 'Weg nach unten'" ging - den eigenen "Weg geradezu naturwüchsig, mit der Sicherheit eines Nachtwandlers" finden lässt. Die von Graf gepflegten bzw. erst jetzt ausgebildeten fixen Ideen hätten ihm den Anschein von Unzurechnungsfähigkeit gesichert.

Wilfried F. Schoeller nimmt an, dass "Graf an einer Kriegspsychose erkrankt war", und für ihn die "Konstellation mit dem älteren Bruder Max [...] durch den Krieg wieder aktiviert" worden sei, die während der Münchner Jahre nur "stillgestellt" war. Mit der Diagnose "Kriegspsychose", für die Graf außerdem eine unmittelbare Fronterfahrung als Voraussetzung fehlte, verwendet Schoeller einen mindestens ebenso fraglichen Begriff wie die von ihm kritisierten Ärzte, die "Hysterie" festgestellt hatten; und Schoellers Parallele zum familiären Erlebnis übergeht die Konfrontation Grafs mit den Anarchisten, die 1914 der allgemeinen Kriegseuphorie erlegen waren. Schoeller stützt seine Argumentation m. E. auch zu eindeutig auf den Krankenbericht und auf die zeitlich nähere Darstellung in "Frühzeit"/"Wir sind Gefangene" gegenüber "Leben meiner Mutter", d. h. er liest die Autobiografien zu sehr als zeitgeschichtliches Zeugnis. Er übersieht die bewussten Verzeichnungen der Fakten in diesen Büchern und hütet sich nicht, wovor schon Rolf Recknagel, der erste Graf-Biograf, warnte: "den Autor und seinen autobiographischen Helden zu verwechseln". Recknagel übernimmt zwar auch eine Zeitangabe, aber er unterstellt Graf einen bewussten "Privatkrieg", aus dem er zeitweise in einen "Traumzustand" verfallen sei.

Für meine Interpretation dieser Episode ist entscheidend, dass Graf weniger aus retrospektivem als mit einem - im Untertitel des Buchs betonten aktuellen - Interesse schrieb: Sein "Bekenntnis" gehört den zwanziger Jahren an, es baut nur auf dem Erleben des Kriegsjahrzehnts auf. Dabei verwechselte der Erzähler keineswegs unbewusst die Zeitangaben, wenn er verwirrenderweise auf den "Sommer" den "Frühling" folgen lässt und bei der allgemein sorgfältigen Überarbeitung von "Frühzeit" für "Wir sind Gefangene" beibehält. Dadurch verlängerte sich seine Klinikzeit, die er weit abweichend vom Krankenblatt datiert: In Görden, wohin er laut Stammrolle Ende Januar kam und bis Mitte April, also insgesamt etwa 10 bis 11 Wochen blieb, will er zunächst "etliche Wochen" gewesen sein und dann noch fünf Monate geschwiegen haben. Bei seinem Bericht über die Zeit in Haar lässt er mehr als 10 Wochen Urlaub unerwähnt, die das Krankenblatt ab Juni 1916 verzeichnet und die von jenen insgesamt 10 Monaten Aufenthalt in den Nervenkliniken abzuziehen sind, welche Graf für seinen autobiografischen Helden auf "eineinhalb Jahre Irrenhaus" streckt. Diese beeindrucken mehr als die tatsächliche Dauer, und ergriffene Interpreten zitieren sie denn auch als biografisches Faktum für den Autor mit einem nachdrücklichen Ausrufezeichen.

Ich halte Grafs tatsächliche Reaktion für eine gezielte und geschickt gespielte mentale Selbstverstümmelung. In Parallele zu den Soldaten, die, um nach Hause zu kommen, sich in Hand oder Fuß schossen, nutzte er - an seine früheren Aufsässigkeiten anknüpfend - die spürbare Unsicherheit der Ärzte gegenüber den sprunghaft zunehmenden Schockreaktionen der Frontsoldaten sowie die Furcht vor deren ansteckender Wirkung für ein weniger schmerzhaftes Krankheitsbild aus.

Dass er seine Klinikzeit verlängerte, dann aber nicht in Manier eines Schwejk über die Tricks zur Dienstvermeidung triumphierte, würde man falsch interpretieren, sähe man darin nur eine Stilisierung zum Märtyrer. Ein Ausblick auf die zeitgenössische psychiatrische Diskussion kann Grafs Simulation im Krieg und vor allem deren post-fest-verlängernde Darstellung nach dem Kriegsende erklären.

Der Krieg und die Nerven

Das Thema der Nerven stand am Anfang des Krieges und wirkte noch über sein Ende hinaus bis in die Strategie des Zweiten Weltkriegs hinein. Kaiserliche Losungen von 1910 und 1914, die den Nerven als letztlich kriegsentscheidendem Faktor galten, waren sowohl gegen die zeitgenössische Modekrankheit des Fin de Siècle, Neurasthenie, gerichtet, wie sie dem deutschen Nationalstereotyp der gegnerischen Engländer entsprachen, denen man ihre sportliche Haltung zum Kriege als falsche psychische Einstellung unterstellte. Anton Wildgans beschwor 1914 die zeitgenössischen Deutschen als "ein neu Geschlecht mit ungeahnten Nerven", das "nach ehernem Gesetze der Natur" den Feind zu Boden werfen muss.

Das 1922 erschienene, mehrbändige medizinische Standardwerk resümiert, dass es sich beim Weltkrieg um "ein Experiment größten Stils" gehandelt habe. Gegenüber den 316 bekannt gewordenen Fällen aus dem Krieg von 1870/71 seien im vergangenen "viele Tausende" betroffen gewesen, und "eine solche Fülle von männlicher Hysterie [sei] noch niemals" zu beobachten gewesen, vor allem habe es sich um "ganz anderes geartetes Material als in Friedenszeiten" gehandelt. Weil man die vielen reaktiven Nervenerkrankungen auf den Stellungskrieg zurückführte, suchte man ihn nach 1939 durch einen so genannten "mechanisierten Bewegungskrieg" zu vermeiden.

Für die Beiträger zu dem zitierten Standardwerk, die sich auch als Wissenschaftler mit ihren militärischen Titeln und Funktionen dekorieren ließen, galt als erklärtes Ziel ihrer Therapie, "der großen Zahl hysterischer Bilder" die "Flucht in die Gesundheit" erstrebenswerter erscheinen zu lassen als die "Flucht in die Krankheit". Zu diesem Zweck empfahl man Elektroschocks, Dauerbäder, Behandlung nach den Vorbild der Tierdressur, Beschämung entkleideter Patienten vor Publikum und immer wieder Arbeit, die vor allem in der Rüstungsindustrie abzuleisten sei.

Als "Modernisierung der Folter" bezeichnet eine medizingeschichtliche Untersuchung die Kuren, denen vor allem junge Kriegsfreiwillige aus der Mittel- und Oberschicht unterworfen waren. Nachdem die Materialschlachten den Idealismus ihrer Freiwilligkeit zerbrochen hatten und sie sich in immer größerer Zahl durch die als 'Fluchten' interpretierten "affektiven Vermeidungsreaktionen" zu retten versuchten, richteten die Mediziner Nervenabteilungen in den Lazaretten hinter der Front ein, um das "psychisch-infektiöse Material" der Heimat zu ersparen. Nicht die Kriegssituation erkannte man als Krankheitsursache, sondern die angeblich fanatische Disposition der Kranken, denen man ankreidete, dass sie eigene Überzeugungen wichtiger nahmen als "die Lebensnotwendigkeiten des eigenen Volkes". Man hielt auch nach 1918 unbeirrt an den Ideen von 1914 fest; Maßstab für die Orientierungen der Ärzte waren "die Verhältnisse, wie sie vor dem November 1918 in Deutschland lagen", und nicht die durch die Revolution geschaffene neue Situation.

Mit dieser Einstellung war Graf konfrontiert, als er seine Kriegserfahrungen auf die Darstellung seiner psychischen Reaktionen konzentrierte. In München war er besonders von der ungebrochen fortgesetzten Kriegspsychiatrie betroffen, hier wirkte als Ordinarius eine der Koryphäen des Faches: Emil Kraepelin. Dieser zählt zwar wie manche seiner damaligen militärischen und akademischen Kollegen noch heute zur Fachprominenz, und der Artikel über ihn in der "Neue[n] Deutsche[n] Biographie" betont seinen "humanen Umgang mit den Geisteskranken"; jedoch erlebte Ernst Toller diesen Mediziner direkt als verkörperte Quälerei, und Graf erlitt ihn indirekt durch Kraepelins Kur, mit Dauerbädern die Kranken gefügig zu machen.

Den erschreckenden Zusammenhang von Medizin und Kriegsverherrlichung demonstrieren "Psychiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte" des Münchner Ordinarius in den "Kriegshefte[n] der Süddeutschen Monatshefte" 1919, einer wichtigen konservativen Zeitschrift der Zeit: Kraepelin leugnete den Begriff der "Kriegspsychose" grundsätzlich. Wer den "Drang zur Selbstbehauptung", der "im einzelnen wie in den Völkern die ursprünglichste und mächtigste Triebfeder allen Handelns" ist, nicht teilte - wer 1914 nicht als "ein Zeichen für die Vollkraft unserer Volksseele" erlebte, galt für Kraepelin als 'weniger gefestigt, nervös, haltlos, geistig unterentwickelt, zu entfernt dem stählenden Einfluß des unmittelbaren Ringens' etc. Pazifisten waren damals - so Friedrich Fritz von Unruh rückblickend im Jahre 1932 - "'biologische Pestträger'".

Weitreichender betraf Graf der Affekt, der hinter Kraepelins zeitgeschichtlicher Diagnose stand. Diese hatte statt wissenschaftlicher unmittelbar politische Ziele: Die Revolutionäre von 1918 und die Münchner Räte-Bewegung verfielen einer biologistischen Abwertung. "Ich habe mich überzeugen können, daß eine Anzahl der führenden wie der untergeordneten Persönlichkeiten aus der jüngsten Volksbewegung, die ich untersuchen konnte [...], einer der hier geschilderten Gruppen angehören. In gewissem Zusammenhange damit steht auch die starke Beteiligung der jüdischen Rasse an jenen Umwälzungen: Die Häufigkeit psychopathischer Veranlagung bei ihnen könnte mit dazu beigetragen haben, wenn auch wohl hauptsächlich ihre Befähigung zu zersetzender Kritik, ihre sprachliche und schauspielerische Begabung, sowie ihre Zähigkeit und Strebsamkeit in Betracht kommen". Kraepelins abschließender Aufruf zur "Züchtung hervorragender Persönlichkeiten" durch Frühehe und gesteigerte Kinderfreudigkeit, sowie sein Appell zu mehr Nationalstolz der Deutschen demonstrieren die Beteiligung der Wissenschaft am damals herrschenden Gemisch aus Nationalismus, Antisemitismus und Inhumanität, das betriebsblind machte für die Konsequenz, die von Kriegsdienstverweigerung zur Revolutionsbeteiligung führt. Die rassistische Argumentation weist ebenso wie der Ort, an dem sie formuliert wurde, auf das Jahr 1933 voraus.

Graf selbst hat die Schilderung der Begegnung mit einem entsprechend verfahrenden Psychiater, den er durch seine Beschimpfung als "Zuhälter [...] Hure" so sehr aus der Fassung brachte, dass dieser ihn, wie geplant, überwies, in der späteren Fassung erweitert: Gegenüber "Frühzeit" steht in "Wir sind Gefangene" eine längere Tirade, die deutlich auf die Nachkriegserfahrungen mit Nervenärzten zurückgeht. Ihm mussten die Äußerungen von Kraepelin & Co. als Bedrohung seiner Freunde und der Patienten erscheinen, die er in den Kliniken hatte beobachten können. Sozialpolitischer Tenor von Kraepelins Aufsatz ist die Abwehr der Versorgungsansprüche von Kriegsneurotikern, die nach psychiatrischer Voraussage als Arbeitsscheue ins "Schmarotzertum, das durch wirtschaftliche Schwierigkeiten gezüchtete Schiebertum", abrutschen könnten.

Als Beitrag zu einer autoritäts- und wissenschaftsgläubig geführten Diskussion hätte Grafs Eingeständnis der Simulation oder auch nur ein auftrumpfender Hinweis auf sein termingerechtes Abbrechen der Militärzeit allen denen geschadet, die er als Patienten in Görden und Haar kennen gelernt hatte. Entsprechend seinen Erfahrungen intensivierte er die Erlebnisse mit der Psychiatrie und ließ in ihnen seine früheren ausführlich dargestellten Widersetzlichkeiten gipfeln. Die Schilderung seiner Klinikzeit sollte das Leiden vieler vergegenwärtigen, die der Krieg krank gemacht hatte, und keineswegs gegen deren berechtigte Versorgungsansprüche verwendet werden können.

Graf und seine Generation

Die Konzentration der Darstellung auf den mit den Nerven motivierten Abbruch seiner Kriegszeit hat im Kontext seiner Darstellung noch eine weitere Funktion. Das Ich erscheint isoliert und individuell betroffen: Grafs Mitsoldaten rücken immer wieder befremdet von ihm ab, sie werden von ihm in ihrem Gemeinschaftsgefühl gestört.

Wie die Akzentuierung der brüderlichen Auseinandersetzung in "Wir sind Gefangene" zeigt, kam es Graf in diesem Buch auf eine entschiedene Distanz zur eigenen Generation an. Er verstieß gegen das zeitbestimmende Denkkonzept, die Vereinnahmung unter die 'junge Generation' als dem biologischen Sammelbegriff der Ideologieproduzenten vor 1914.

Robert Wohl bezeichnet das Generationenkonzept, dem sich die deutsche Jugend 1914 wie schon 1813 unterwarf, als "biological determinism" und als "one of the most negative items of ill-assorted attitudes, prejudices and beliefs". Radikaler als Karl Mannheim, der die über 1918 hinaus geltende Aktualität bestätigt, indem er noch 1928 differenziert dieses Konzept diskutierte und von romantischen Spekulationen zu befreien versuchte, hatte sich Graf von ihm losgesagt - und zwar in beide Richtungen, in die der Kriegsbegeisterten wie auch in die ihrer Gegner. Für ihn galt, was Wohl rückblickend zusammenfasst: "Politics of generation was a politics of illusion". Sein individueller Glaubensverlust, die Absage an die "Religionsmanscherei von einem Gott", ordnete ihn schon früh den wenigen Künstlern zu, die für einen kritischen Historiker allein "die Torheit des alten Reiches mit seiner Kriegsverherrlichung" durchschaut hatten und enthüllten.

Graf fehlten die Voraussetzungen für eine mythisierende Sicht auf Welt und Geschichte, er sah den Krieg nicht als 'Gott', wie ihn Rilke, Heym u. a. beschworen. Eine Formel wie die Henry Barbusse zugeschriebene von dem 'zu tötenden Krieg' wird man bei ihm vergeblich suchen. Das routinierte Pathos vieler Anti-Militaristen war ihm in seiner unberechenbaren Spontaneität fremd. Mit seinen unmittelbaren Reaktionen, seinem Lachen, Verstummen und Hungern widerstand er dem "Geist von 1914", dem "dürftige[n] Gebräu der Ideen von 1914", die in der Familie der Bruder Max vertrat, der für ihn - wie er nach dessen Tod im Krieg formuliert - "etwas von dem Element [repräsentierte], das uns alle so unglücklich gemacht hat. Diejenigen, die so sind wie er, haben auch diesen sinnlosen Krieg über uns gebracht. Sie bringen immer Krieg und in jeder Form! Und sie glauben, es wäre Größe!"

Das Erlebnis des Krieges wie das der darauffolgenden Revolution - beide wurden aus entgegengesetzter Sicht als die großen Erfüllungen der Zeit illusioniert und beide enttäuschten ihre Anhänger - betrachtete er gleichermaßen respektlos. Ebenso wie seine Distanz zu ihren Ideen trennten ihn sein Wahrnehmungs- wie auch Darstellungsrealismus von einer Generation, der "nichts [...] schimpflicher als der 'Boden der Tatsachen'" erschien.

Schon dass er sein Ich ebenso vor wie im und nach dem Krieg reagieren lässt und diesen in einen für ihn sinnlos bleibenden Ablauf einordnet, verstößt gegen die allgemeinen Erwartungen und bezeugt seine Sonderstellung. Weil der Krieg in seinen Büchern nicht das Zentralereignis bildete, sondern als Symptom einer desorientierenden Zeit aufscheint, verkannte man oft den Kriegskritiker, der er war und auch gegen die Entwicklungen seiner Zeit blieb.

Graf behielt nicht nur seine in "Frühzeit" formulierte Desorientiertheit bei, die sich gegen die identitätsstiftende jugendliche Generationszugehörigkeit richtete; als "Anarchist" ordnete er sich erst später einer Gruppe zu. Er intensivierte sie in "Wir sind Gefangene" auch entgegen dem Wandel, den die von Bernd Ulrich untersuchten Kriegsdarstellungen der zwanziger Jahre durchlaufen und auf die als eine - nach der psychiatrischen Diskussion - zweite Folie seine Darstellung zu beziehen ist.

Seine erste Kriegsdarstellung gehörte zu den wenigen literarischen Reaktionen aus der "Perspektive 'von unten'",die in der "kurzen Spanne Zeit der Erkenntnis" zwischen 1918 und 1922 erschienen. Diese wurde von einer Phase des Verschweigens des Krieges abgelöst. Als man das Kriegsthema ab etwa 1927 wieder aufgriff, missbrauchte man diese Sicht ideologisch, indem man u. a. die "Erziehung zur kriegerischen Persönlichkeit" als Sinn der Materialschlachten erkennen wollte. Graf setzte die im Krieg praktizierte Opposition in seiner autobiografischen Darstellung fort: "scharfsichtig [...] verschmitzt, in verstellter Blödheit [ließ er] sich nichts vormachen", wie Thomas Mann anerkannte.

Sinngebungsversuche, die wie ein Leitmotiv die 1928 erschienenen "Kriegsbriefe gefallener Studenten" unter der Formel des NON IN VANUM durchziehen und die Opfer glorifizierten, wehrte Graf ab, indem er sein Überleben unter das Zeichen einer Unorientiertheit stellte, die implizit die Sinnlosigkeit der Kriegsmaschinerie entblößte. Dass man sein Buch plakativ politisch verurteilte und es als Teil der "roten Flut der Proletarierkriegsbücher" abqualifizierte, bestätigt die von ihm ausgelöste Verstörung, die gerade Thomas Mann so schätzte. Ebenso wenig wie im Krieg war Graf danach für seine Generation zu vereinnahmen.

Merkwürdig, wenn auch nachvollziehbar und die Akzentuierung sowohl der Nerventhematik als auch der Generationsdifferenz unterstützend, berührt in diesem Zusammenhang, dass er auf ein Erzählmotiv verzichtet, welches die Kriegsthematik im "Leben meiner Mutter" bestimmt: Die Geschichten des Vaters fehlen; wie oben erwähnt, lässt Graf ihn gleich am Beginn des Buches sterben. Dabei verdankt er - geht man von den späteren Aussagen aus - seine militärkritische Haltung und seine, weniger querulantische, aber ebenso hartnäckige Widerspenstigkeit vor allem seinem mit viel Liebe geschilderten väterlichen Vorbild: "Als das "Weltgeschehen [...] in unser Dorf" eingegriffen hatte und der "Kaiser Wilhelm II. [...] mehr und mehr in unser Gesichtsfeld" rückte, korrigierte der Vater die Auffassung des jungen Oskar, dem "Krieg und Heldentum [...] als etwas unwirklich Großes und Erhabenes" gegolten hatten. In einer im Werk Grafs mehrfach erzählten Episode verwirft der Vater die Darstellung der Geschichtsbücher und bringt die Anlässe der Kriege auf den Nenner, dass sie "bloß wegen dem lumpigen Holz" geführt würden, "es hat bloß immer immer einen anderen Namen". Mit seiner "blutsmäßigen Abneigung gegen jegliche uniformierte Wichtigtuerei" reduzierte er die anfängliche "Soldatenzucht und Uniformverehrung" seines intelligentesten Sohnes und wies ihn auf materielle Gegebenheiten hin: 'Holz' ist im Dialekt 'der Wald', ein langfristig nutzbarer Grundbesitz.

In "diesem Jahrzehnt" sich zu den Ansichten des Vaters zu 'bekennen', obwohl der als Bismarck-Verehrer in dauerndem Streit mit dem kaisertreuen ältesten Sohn lag, vermied Graf. Zwar hätte er damit seine anachronistische Distanz zur eigenen - exemplarisch bis zum 'Vatermord' den Konflikt mit den Eltern auslebenden - Generation nachdrücklich betont, aber einen anderen Motivzusammenhang eingeschränkt. Die frühen Biografien sparen das Motiv sicher nicht nur aus erzählerischer Ökonomie für spätere Texte auf: Eine materialistische Autorität wie der Vater passte nicht zur Intention seiner ersten Rechenschaft über das Kriegserlebnis, sie hätte seine Unorientiertheit eingeschränkt.

Ebenso wie den Vater spart "Wir sind Gefangene" auch "den guten Johann Otto Schönleber" aus, die Hauptfigur der von Grafs Fronterlebnissen ganz authentisch berichtenden Kalendergeschichte "Der unentwegte Zivilist" (1929). In seinem bescheidenen Hedonismus gilt der Wiener Fiaker und Zuhälter dem Ich-Erzähler als einer der "echten Helden", weil er "dieser ganzen Maschinerie ständig ein Schnippchen" schlug. Als ein "echter Mann des Volkes, ein unentwegter Zivilist, dem alle Maschinerie nichts anhaben kann", repräsentiert er eine gut begründete Orientierung, so dass Graf ihn seinen Lesern als Vorbild empfehlen kann.

Ich denke, dass nicht nur seine spannungslos-geradlinige Positivität eine ausführlichere Darstellung dieses Typs verhinderte. Ihre Einbeziehung hätte, wie auch die des Vaters, dem Ich-Erzähler ein Beispiel beschert, hätte ihm eine Identifizierung angeboten, wie sie Graf um des kritischen Potenzials seiner Desorientiertheit willen gerade vermeiden wollte. Dem vom Kriegsbeginn ausgelösten Gemeinschaftsgefühl, das auch wieder die unkritische zweite Phase der Weltkriegsliteratur nach 1927 bestimmte, stellte Graf eine Antithese kontinuierlicher Isolation und Verzweiflung entgegen, die erst in der Solidarität mit den besiegten Revolutionären zum "Wir" des Romantitels fand. Dass die Niederschlagung derjenigen, die 1918 den Krieg hatten beenden helfen, von den zum Rückzug gezwungenen, aber in den Freikorps und 'weißen Truppen' weiterkämpfenden deutschen Soldaten als Sieg gefeiert wurde, kann als Hauptmotiv für die von Graf opponierend gegen die militärische Kontinuität dargestellte Unorientiertheit angesehen werden. Der Hintergrund dafür soll mit einem kurzen Ausblick auf die Nachkriegs- und Entstehungszeit der Autobiografien und seiner weiteren Kriegsdarstellungen skizziert werden.

Nachkrieg

Die Ikone das soldatischen Profils mit Stahlhelm, stechendem Blick und energischem Kinn wird im neusachlichen Jahrzehnt verehrt und prägt die Bilder des mobilen Typus, der nicht unterliegen will - vom neusachlichen Dandy bis zum bolschewistischen Funktionär, vom Ingenieur bis zum veristischen Maler. Die Armee war für Millionen Menschen eine einheitliche Prägestätte des Verhaltens unter Todesgefahr gewesen.

Helmut Lethens Charakteristik der Zeit nach dem Krieg eignet sich, um Grafs nach 1918 fortgesetzte Sonderrolle zu profilieren und auch das internationale Interesse zu begründen, das "Wir sind Gefangene" fand. Graf hatte sich nicht nur nicht von den Todesgefahren prägen lassen, sondern für sein Kriegsbuch die "radikale Expression sowie alle Diskursideale der Entblößung, des Geständnisses und der Aufrichtigkeit" gewählt, die nach Lethen als inopportun galten - Graf formulierte weiterhin im Erzählgestus wie in der Werkaussage die radikale Gegenthese zur Zeit. Während andere - bis hin zu Thomas Mann am Ende des "Zauberberg" - die Faszination der Materialschlachten auskosteten, griff er nur einmal auf Klischees der Kriegsschilderung zurück, als in "Einer gegen alle" (1932) seine Hauptfigur eine typische Schützengrabenepisode träumt. Graf wich auch insofern vom Schema ab, als er - konträr zum zeitgenössischen Helden, der sich nach Karl Kraus dem "Zwang, den Tod zu erwarten", unterwirft - Weiterlebende wie in der autobiografischen Darstellung wählt: die "young radical war veterans", denen mit dem Krieg die Lebensbasis entzogen war und die er eben nicht nach der von Lethen anhand des herrschenden zeitgenössischen Materials konstruierten "Ikone" modelliert.

Anlässe für seine Autobiografie und auch für die Geschichten aus den 20er Jahren bilden die politischen, ökonomischen und psychologischen Probleme des Überlebens im Krieg und danach. Kompakt formuliert finden sie sich in "Triumph der Gerechten" (1929), einer Kalendergeschichte, die einen der wenigen historischen Stoffe in seinem Werk aufgreift, die bayrischen Bauernaufstände während des 30-jährigen Krieges. Statt der Anonymität der Materialschlachten thematisiert Graf überschaubare Grausamkeiten für eine begrenzte Reflexion über die Darstellung des Krieges:

"Nimm dem Soldaten die Waffe, und er ist kein Soldat mehr! Nimm dem Bauern seine Bleibe und er ist ein Stück Elend inmitten der verwirrenden Welt. Drum ist's leicht dahergeredet von den Chronisten, wenn sie über die Ebersberger sagen: 'Sie rebellierten und waren wider alle Ordnung.' Hatte man sie nicht aus aller Ordnung gerissen und gewaltsam ins kalte Nichts gestoßen? Warum beispielsweise gingen die Rechtsinnischen [= Bauern von rechts des Inn] wieder brav heim? Weil sie wenigstens noch ein daheim hatten und mocht's auch traurig darum bestellt sein. Und warum blieben die Ebersberger? Weil sie eben kein Daheim hatten. Auch alle Geschichte hat ihre zwei Seiten. Sela. -"

Die Verstörung des autobiografischen Ichs als Aufweis der Kehrseite des Kriegsgeschehens objektiviert Graf auch an zwei Figuren, die nicht die kritische Ausgangsposition ihres Autors besaßen bzw. denen die Kraft zur Distanz zum Kriege fehlte und die er am Überleben scheitern lässt: Der Freund August aus "Frühzeit"/"Wir sind Gefangene" und Georg Löffler aus "Einer gegen alle" haben spontan ihren Schützengraben verlassen und desertierten. Beide haben ihren Verstand oder die Nerven verloren. Während August die Militärknöpfe von den Uniformen der Toten in große Säcke sammelt und damit ins Gebirge zieht, reagiert der später erzählte Georg Löffler, der auf den Graf bekannten Kriegsschauplätzen seine Fronterfahrungen machte, radikaler. Nachdem er, um dem Krieg zu entrinnen, den Feldgendarm erschlug, bleibt er vom Frontgeschehen besessen. Zwar hätte er einen Bauernhof zu erben, doch er fährt ziellos in Deutschland umher und wiederholt mehrfach die Mordsituation, weil er "ohne Blut und Dreck und Schützengraben einfach nicht mehr weiterleben kann". Dass sich nach Löfflers Selbstmord in der Zelle "niemand einen einleuchtenden Vers" auf dessen 'Vermächtnis' - den Satz "'Krieg aus, Friede überdrüssig'" - zu machen vermag, enthält die Kritik des Erzählers an den Verhältnissen ein Jahrzehnt nach Kriegsende. Wer den Krieg wieder glorifizierte bzw. auch nur wie der Autor des großen Erfolgsromans, Erich M. Remarque, seinen Helden Paul Bäumer an der Front "beinahe zufrieden" sterben lassen konnte, dem musste das Verständnis für die Zerstörung dieser Graf-Figur fehlen. Remarque, der in der Vorbemerkung seines Buches "Im Westen nichts Neues" angekündigt hatte, "über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde - auch wenn sie seinen Granaten entkam", blieb die Gestaltung dieses Vorhabens schuldig.

Die vom Krieg stigmatisierten Überlebenden schilderte Graf. Auf dem Hintergrund von Paul Bäumers Tod ließen sich neue Kriege denken, mit Grafs verstörten 'Helden' auf keinen Fall.

Die vorgelegte Darstellung ging vor allem von Dokumenten und Werkbezügen aus, wie sie für Graf noch aufzuarbeiten sind. Auf dem Horizont seiner Tolstoi-Rezeption und seiner Nähe zu Landauer, Rilke u. a. könnten weitere Interpretationen des entschiedensten Gegners und konsequentesten Kritikers der Kriegspolitik ansetzen.

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