Zuspitzung des Toleranzgedankens

Zu Karl-Josef Kuschels Analyse von Lessings "Nathan der Weise"

Von Kristine HannakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristine Hannak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr des 275. Geburtstags von Gotthold Ephraim Lessing und des 225. Jahrestags von Lessings "Nathan der Weise" erscheint das Drama aktueller denn je. Scheinbar ständig widerlegt von den desillusionierenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts, angefangen von Auschwitz bis zur These vom Kampf der Kulturen, überlebt Lessings "Nathan" selbst seine literarischen Demontagen wie Taboris "Nathans Tod" (1991) oder müde Abgesänge auf den 'naiven' Glauben an die Aufklärbarkeit des Menschen. Sollte am Ende doch Goethes Wunsch nicht ganz ungehört verhallt sein, das im "Nathan" von Lessing "ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl möge der Nation heilig und wert bleiben"? Das neue Buch von Karl-Josef Kuschel bejaht dies in entschiedenster Weise.

Kuschels ";Jud, Christ und Muselmann vereinigt'? Lessings 'Nathan der Weise'" greift Lessings dramatisches Gedicht bewusst vor den gegenwärtigen Konflikten zwischen der jüdischen, der christlichen und der islamischen Welt als einziges und einzigartiges literarisches Dokument für das Konflikt- und Versöhnungspotenzial zwischen diesen drei Welten auf. Er macht darauf aufmerksam, dass deutsche Literatur bis ins 20. Jahrhundert hinein entweder die Beziehungen zwischen Juden und Christen oder zwischen Orient und Okzident thematisiert und dass damit außer Lessings "Nathan" kein anderes Werk "trialogisch" strukturiert ist. Unerreicht und aktuell sei auch die Vision eines friedlichen Miteinanders der drei Religionen in gegenseitigem Respekt und Toleranz. Nicht trotz, sondern gerade wegen der gegenwärtigen religiös motivierten Spannungen, so Kuschel, bleibt Lessings Parabel ein weltweit rezipiertes und nie überholtes Modell.

Gotthold Ephraim Lessing war Schriftsteller und nannte sich doch einen "Liebhaber der Theologie" - Karl-Josef Kuschel ist (hauptberuflich) Theologe und doch ein Liebhaber der Literatur. So steht sein jüngstes Buch in einer langen Reihe an Publikationen zum Miteinander von Theologie und (Welt-)Literatur sowie zum interreligiösen Dialog. ",Jud, Christ und Muselmann vereinigt'? Lessings 'Nathan der Weise'" erwächst dabei direkt aus dem Vorgängerband "Vom Streit zum Wettstreit der Religionen: Lessing und die Herausforderung des Islam" (1998). Das dortige Kapitel zum "Nathan" wird in überarbeiteter Form noch einmal vorgelegt, dabei aber durch Kapitel zur aktuellsten "Nathan"-Rezeption auf dem Theater und in der Gesellschaft sowie einen ausführlicheren Anhang ergänzt, in dem sich nicht nur ein umfangreicheres Literaturverzeichnis, sondern auch eine intensiver dokumentierte Auseinandersetzung mit den Stimmen aus der Lessing-Forschung finden.

Neu gegenüber dem Vorgängerband ist vor allem das Eingangskapitel, das den Klassiker "Nathan" in den unmittelbaren politischen und wissenschaftlichen Gegenwartsdiskursen perspektiviert und lustvoll provozierend die Frage aufwirft, ob Nathan nun "widerlegt oder widerständig" sei. Überraschend und erhellend ist der Überblick zur "Nathan"-Rezeption in Deutschland und in der Dritten Welt. In Deutschland stand das Stück im 20. Jahrhundert unter dem Schatten des Holocaust, womit seine Aussage als "Optimismus des 18. Jahrhunderts" belächelt wurde, sein Anspruch als widerlegt und das Stück als nicht mehr aufführbar galt. Noch anhand jüngster Inszenierungsbeispiele zeigt Kuschel auf, wie die häufige Interpretation, religiöser Fanatismus sei die Quelle der Weltkonflikte, die analytische Komplexität von Lessings Position verfehlt und wie die verflachende Missinterpretation vor allem von Lessings muslimischen Figuren die alte, christliche Verachtungsgeschichte gegenüber anderen Religionen fortschreibt. Die entscheidende Wende in der Wahrnehmung des "Nathan" sieht er in den Anschlägen vom 11. September. Innerhalb kürzester Zeit kletterten die Inszenierungszahlen in die Höhe, und dies nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Beispiele aus Pakistan, Indonesien und Äthiopien, aber auch ein deutsches Schulprojekt mit jüdischen und arabischen Schülern legen beredte Zeugnisse von der Aktualität und damit der Zeitlosigkeit des "Nathan" ab.

Der Hauptteil des Buches widmet sich den biografischen Hintergründen und literarischen Motiven auf dem langen Weg zum "Nathan", einer detaillierten Analyse der Figuren und der Ringparabel sowie einem abschließenden Brückenschlag von der Toleranzbotschaft zur muslimischen Theologie. Forschungsleitende These Kuschels ist dabei die Annahme, Lessings "Nathan" sei ein "pro-muslimisches Stück", und Lessings Intention in der Figurendarstellung sei eine "strategische Aufwertung des Islam". Ja, die Originalität des Stückes liege nicht nur in der kalkulierten Aufwertung des Juden als edlem Helden, sondern vor allem in der strategischen Aufwertung von Muslimen und damit eines islamischen Humanismus als religiöser Grundhaltung.

Das Phänomen der "strategischen Aufwertung" definiert Kuschel dabei als intentionales Positivbild in bewusst kalkulierter Auswahl und damit als das Gegenteil von sowohl vordergründiger Identifikation als auch von naiver Idealisierung aus geschichtlichem Unwissen oder sachlicher Inkompetenz. Vielmehr gelte es, zum Verständnis jenes Phänomens den dezidierten Negativ-Kontext zu berücksichtigen, in den Judentum und Islam von einem "christlichen Pöbel" durch Stereotypisierung, Verleumdung und Vorurteile gestellt würden. In diesem Kontext versucht schon der junge Lessing, bei verachteten Außenseitern - man denke an sein Jugendstück "Die Juden"! - durch bewusstes Hervorheben der positiven Aspekte Stereotypen zu durchbrechen, Vorurteile zu konterkarieren und damit für Komplexität im Denken und Gerechtigkeit im Urteil auch gegenüber Menschen anderer Religionen zu streiten.

Inwieweit Lessings Portrait der drei Religionen religionsgeschichtlich herausragend ist, zeigt eine sehr aufschlussreiche Kontextualisierung des "Nathan" in der Genese einer europäischen Orientalistik und früheren literarischen Jerusalemtexten vor Lessing von Tasso, von Cronegk und Voltaire. Ebenso werden frühere Versionen der Ringparabel vorgestellt, wobei mögliche Quellen in allen drei Kulturkreisen aufgespürt werden. Dies verdeutlicht gerade heutigen, mit multikulturellen Vorstellungen vertrauten Lesern, in welch hohem Grad das Feld für theologische Aussagen auch im literarischen Gewand vermint war und mit welcher Selbstverständlichkeit der Exklusivitätsanspruch des Christentums auch noch Ende des 18. Jahrhunderts behauptet sowie andere Religionen als Zerrbilder ihrer selbst gezeichnet wurden.

Kuschels Interpretationen der Figuren und der Ringparabel kreisen schließlich um einen Punkt, der den Ausgleich zwischen so genanntem theologischem Exklusivitätsdenken und humanistischem Indifferentismus sucht. Nachdrücklich insistiert seine Interpretation auf der Notwendigkeit der Religionen, die weder in ihrem Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Religionen verabsolutiert, noch zugunsten reiner Menschlichkeit überwunden werden sollen. Vielmehr gelte es, in allem Respekt gegenüber gewachsenen religiösen Bindungen und Traditionen das wahrhaft Menschliche in allen Religionen freizulegen und die gottentsprechende Liebe in ihnen allen zu suchen. Im Bild der Ringparabel sieht Kuschel dieses Moment in der Wende vom rechthaberischen Streit zum liebenden Wettstreit der Religionen um das Gute begründet. Die Unfähigkeit des Vaters, sich für einen Lieblingssohn zu entscheiden, ist somit gerade kein Zeichen der Schwäche, sondern eines der Stärke, da der Vater damit das Element des Wettbewerbs um das Gute zwischen den Brüdern verankerte. Diese Haltung wird nun in einem letzten Kapitel dezidiert nicht nur als aufgeklärt-abendländisches Projekt bezeichnet, sondern gerade auch als Kernaussage muslimischer Religiosität belegt. Und so bleibt nach der Analyse des "Nathan" im Ausblick auf die heutige Welt die skeptische Hoffnung, dass Nathans Religiosität eine nie veraltende Basis der Verständigung der drei abrahamitischen Religionen sein könne.

Mit diesem Buch hat Karl-Josef Kuschel einen anregenden und leicht lesbaren Beitrag zu gleich mehreren gesellschaftlichen Diskussionen geschrieben, bei denen Kommentare der geisteswissenschaftlichen Akademia willkommen sein sollten. Interessant dürfte Kuschels Buch deshalb auch nicht nur für germanistische und theologische Wissenschaftler, sondern gerade auch für literarisch und (religions-)pädagogisch Interessierte sein. Die Stärke des Buches liegt dabei weniger in der Neuheit seiner Einsichten, da man vieles schon nicht zuletzt im eigenen Vorgängerband gelesen hat. Ebenso ist in der theologischen Interpretation der Ringparabel die Nähe zur Position von Hans Küngs Projekt Weltethos unübersehbar. Aspekte, die in den germanistischen Diskussionen um Lessing immer wieder auftauchen, werden tendenziell zurückgestellt, so zum Beispiel die Frage nach Lessings Überlegungen zur natürlichen Religion. Wurde Lessing doch von seinen Gegnern während des dem "Nathan" vorausgehenden Fragmentenstreits immerhin verdächtigt, ein "Naturalist" zu sein, also genau die konfessionellen Grenzen "zugunsten reiner Menschlichkeit" zu überschreiten, die hier als gewahrt betrachtet werden. Nichtsdestoweniger wird die Argumentation in reflektierter Auseinandersetzung und respektvoller Abgrenzung zu bekannten germanistischen Positionen entfaltet.

Doch mögen dies Fragen für weitere Spezialabhandlungen sein, die mit einem anderen Anspruch auftreten und sich an kleinere Expertenrunden richten. Kuschel wendet sich mit seiner bewusst aktualisierenden Interpretation an ein breites Publikum und führt in seiner starken Gewichtung islamischer Aspekte die von ihm postulierte "strategische Aufwertung" höchst effektiv praktisch vor. Damit liegt die Stärke seines Buches auch und vor allem in der gegenwartsbezogenen Aussage zum Status des Religiösen und zum Wert eines Klassikers. Hier ist Kuschels Buch eine kompakte, intelligente und gut lesbare Hinführung an Lessings Drama, die auch für Nicht-Theologen und Nicht-Germanisten die jüdische, christliche und islamische Motivgeschichte gewinnbringend aufarbeitet. Ebenso ist Kuschels Zuspitzung des Toleranzgedankens auf die religiöse Weltsituation vor dem Hintergrund der heutigen abschätzigen Einordnung des "Nathan" als überlebtem "aufklärerischem Optimismus" eine Rettung des Werks ganz im Lessing'schen Sinne.

Sicher werden auch jetzt die wissenschaftlichen Diskussionen um Lessings Religiosität oder um Chancen und Grenzen der Toleranzidee weder abschließend beantwortet noch verstummen. Sicher werden Theologen und Germanisten weiterhin verschiedene Nuancen in Lessings Werk betonen. Doch gerade in Zeiten des ständig wachsenden Rechtfertigungsdrucks auf die Geisteswissenschaften lenkt Kuschels Buch die Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Projekt: auf die Vermittlung des Ernsts und der Frische eines Klassikers, der am 225. Jahrestag seines Erscheinens seine bleibende und sich immer wieder erneuernde Aktualität nicht besser als mit einem Blick in die unmittelbare Gegenwart beweisen könnte.

Titelbild

Karl-Josef Kuschel: "Jud, Christ und Muselmann vereinigt"? Lessings Nathan der Weise.
Patmos Verlag, Paderborn 2004.
228 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3491724783

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