Kein Weg nach vorne, keiner zurück

Erzählungen von Lim Chul Woo

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tagsüber sieht er Hände, seit Jahren schon, Hände mit Geld; weißlich und dünnfingrig, rauh und derb, Hände wie Krebsscheren. Immer häufiger ist er unaufmerksam, dann gehören zu den Händen Münder, die sich beschweren, über falsches Wechselgeld oder eine falsche Bahnfahrkarte. Wahrscheinlich beobachtet ihn schon der Abteilungsleiter. Abends, auf dem Weg in sein armseliges Zimmer, begegnet ihm regelmäßig ein Hund, bis er auch dieses Treffen als lästig empfindet und eine andere Straße wählt. Die Nachricht, dass eine Überschwemmung das Grab seines Vaters zerstört hat, weckt die Erinnerung an eine freudlose Kindheit, an damals, als er in der Familie seines Onkels gerade eben geduldet wurde. In sein Dorf möchte er nicht zurückkehren, von der Vergangenheit bleibt nur ein schlechtes Gewissen. An diesem Abend nimmt er den Hund mit zu sich nach Hause.

Ein anderer lebt seit mehr als einem Jahrzehnt in der Großstadt Seoul, mit seiner Frau und seiner Mutter. Seitdem die Mutter den Verstand verloren hat, besitzt auch er keinen Halt mehr, ist schon wieder lange Zeit arbeitslos – und die Ersparnisse sind aufgebraucht. Die Mutter hat nur einen Gedanken: nach Godumae zu fahren, in jenes kleine Dorf, in dem sie als Witwe unter ärmlichsten Bedingungen zwei Söhne aufgezogen hat. Eines Tages gibt der Sohn ihrem Drängen nach, obwohl er weiß, dass der Vater, der angeblich in Godumae wartet, schon lange tot ist. Die nächtliche Zugfahrt mit der Mutter wird zum Anlass für Gedanken an die Vergangenheit und führt ins Nichts: Hochhausblocks haben die Stelle der Hütten eingenommen, der Friedhof und sogar der Name der Ortschaft sind verschwunden. „Wo liegt Godumae?“, fragt diese Erzählung schon im Titel. Als er für einen Moment abgelenkt ist, macht sich die Mutter allein auf den Weg, und ohne jeden Anhaltspunkt sucht er sie in einer silberfarbenen Schneelandschaft.

Als der letzte Abendbus ausfällt, sind vier Personen gezwungen, ein kleines Dorf zu Fuß zu erreichen: eine Missionarin, die dort vor Jahren eine Kirche eingerichtet hat und allmählich erkennen muss, wie fruchtlos ihre Bemühungen blieben; eine junge Frau, die nur für wenige Monate im Café des Dorfs aushelfen wollte und nun länger bleibt, weil sie Schulden einzutreiben hat; ein Betrunkener, der das Grundstück seiner im Elend gestorbenen Schwester zu Geld machen will; schließlich will sich ein Ehemann an seiner Frau rächen, die sein Geld verloren hat. Ein offenes Ende dieser „Heimkehr im Mondlicht“ auch hier; doch lässt dies hier immerhin die Möglichkeit, dass die unfreiwillig gemeinsamen Wanderer voneinander gelernt haben, dass Entwicklung möglich ist.

Lim Chul Woo, 1954 auf einer Insel im Südwesten Koreas geboren, lebt heute in Seoul, hat also biographisch die Entwicklung mitvollzogen, die die jüngere Geschichte Südkoreas prägt: den fast einzigartig schnellen Übergang vom Agrarland zur modernen Stadt. Liest man Lims Erzählungen, so erscheint dieser Weg als einer vom Unglück ins Unglück – und der Rückweg ist versperrt. So trist die moderne Arbeitsgesellschaft ist, das Dorfleben war keine Idylle. Hunger, Betrug und Heuchelei zeichneten auch die Vergangenheit aus. Nicht erst in den eilig hochgezogenen Wohnblocks der neuen Städte hausen zerstörte Familien oder vereinzelte Menschen, schon auf dem Dorf ist kaum eine Familie intakt. Meist fehlen die Väter oder sind schwach und trunksüchtig. Um so wichtiger wird die zentrale Stellung der Mutter, die ihrerseits die Entfaltung der Söhne verhindert.

Dabei sind Lims Texte keinesfalls triste Sozialreportagen. Einen naseweisen Erzähler, der dem Leser den Kummer der Welt erklärt, hat er nicht nötig. Mit knappen, einprägsamen Sätzen weiß Lim Szenen lebendig zu skizzieren. Um so wirksamer sind dann die Bilder, die die Übersetzer Jung Young-Sun und Herbert Jaumann dankenswerterweise nur behutsam deutscher Metaphorik angenähert haben; gerade im rational nicht Auflösbaren, logisch nicht Stimmigen ist hier ein Moment der Anschaulichkeit bewahrt, das der weithin eigentlich kargen Sprache etwas Schillerndes erhält. Die von Jung und Jaumann aus verschiedenen Erzählungsbänden aus den achtziger Jahren zusammengestellten vier Texte sind stringent gebaut, kaum je erlahmt die Spannung, obwohl sie als handlungsreich gerade nicht zu beschreiben sind. Stets entwickelt Lim den Fortgang seiner Erzählungen aus den Gedankengängen der Figuren, die wiederum stets konsequent mit den äußeren Details verbunden sind.

Dass die Figuren nicht Sprachrohre des Autors sind, wird besonders in der Erzählung „Das rote Zimmer“ (1988) deutlich, die den Band eröffnet und etwa die Hälfte der Seiten einnimmt. Alle Motive sind hier nicht nur versammelt, sondern radikalisiert. Im „roten Zimmer“ wird gefoltert; damals ein mutiger Einspruch gegen die südkoreanische Militärdiktatur der achtziger Jahre, heute für den europäischen Leser ein instruktiver Unterricht über eine Extremsituation. Für den Aufbau des Bandes ist die Anordnung ungünstig, insofern nach diesem zugespitzten Text die anderen Erzählungen leicht als Nachträge unterschätzt werden. Es war keine gute Idee, den Leser mit dem vorsichtigen Optimismus der „Heimkehr im Mondlicht“ zu entlassen. Daher empfiehlt es sich, die Lektüre mit der gewichtigsten Erzählung zu beschließen, in der Lim abwechselnd die Perspektive von zwei Personen einnimmt.

Der Lehrer Oh, unzufrieden mit seinem eintönigen Leben, ist eigentlich an Politik wenig interessiert. Auf die Bitte eines Freundes hin hat er einmal einen Mann für einige Tage in seiner Wohnung aufgenommen. So gerät er ins Visier des Geheimdienstes, wird auf der Straße verhaftet, weil er unter Vedacht steht, einer sozialistischen Verschwörung anzugehören. Sein Gegner ist der Polizist Choi, dessen Familienleben eher noch trister ist und der als Kind durch ein Massaker im Koreakrieg traumatisiert wurde. Seither hasst er die „Roten“ und agiert im „roten Zimmer“, einem Folterraum, der tatsächlich mit blutroter Farbe angestrichen ist. Die Farbe Rot, ein Leitmotiv der äußerst ökonomisch strukturierten und dadurch um so beklemmenderen Erzählung, ist politisch nicht eindeutig zuzuordnen und sorgt so für nachhaltige Irritation.

Es irritiert auch, dass sich mit Gefoltertem und Folterer nicht Mensch und Unmensch gegenüberstehen. Lim verfällt keiner Anthropologie der Gewalt und stellt klar das Verbrechen als Verbrechen dar. Unterhalb dieser dezidierten Wertung aber erscheint das Verhör als Auseinandersetzung zweier mittelmäßiger Existenzen. Lim, als hätte er Jean Amérys Erwägungen über die Folter gelesen, dämonisiert nicht und heroisiert nicht. Oh widersteht nur ein wenig länger als der Durchschnitt der Opfer; das ist seine Tapferkeit. Am Ende verspürt er Hass; so gewinnt er eine politische Haltung und gerät fast – fast! – schon auf die Ebene seiner Peiniger. Der Widerspruch ist einer der Sache, nicht der Haltung, und wird auch nicht aufgelöst, kaum nur erklärt.

Dem Folterer bleibt am Ende wenig mehr als ein Gefühl der Leere, was ihn jedoch nicht daran hindern wird, weiter zu quälen. Den Auftrag seines Vaters, die „Roten“ auszurotten, durchschaut er als Fiktion; ein Nachteil von Lims Entschluss, Erkenntnis durch die Gedanken seiner Figuren zu vermitteln. Dadurch gerät er an dieser einen Stelle in Gefahr, den Figuren ein Wissen zuzuschreiben, das ihre realen Vorbilder derart klar kaum haben dürften. Jedenfalls bleiben Choi nur ideologische Krücken. So führt er sich als der wirkliche Demokrat auf – denn vor der Folter seien alle Opfer gleich. Als scharfer Antikommunist ein anerkanntes Mitglied seiner christlichen Gemeinde imaginiert Choi auch eine göttliche Legitimation seines Tuns.

Die Arbeit aber ist trivialer. Weite Strecken der Erzählung sind dem Alltagsgeschwätz der Peiniger gewidmet, das Oh mit anhören muss. Radio und Fernsehen übertönen im geheimen Folterquartier die Schreie, wodurch Lim nebenbei die gesellschaftliche Funktion der Kulturindustrie herausstellt. Chois Pathos erscheint so auch als Rettungsversuch vor der Erkenntnis der eigenen Kläglichkeit und ist derart demontiert.

Mit Lim Chul Woo ist ein herausragender Erzähler zu entdecken, von dem man mehr auf Deutsch lesen möchte. Ein Vorwort des Autors, ein nützliches Nachwort der Übersetzer sowie Erläuterungen schwer übertragbarer Begriffe ergänzen den Band.

Titelbild

Chul Woo Lim: Das rote Zimmer. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Young-Sun Jung und Herbert Jaumann.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2003.
205 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3934872468
ISBN-13: 9783934872462

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