Minuswind im Land

Ein ironischer Abgesang von Frank Willmann über Wachsen und Werden der DDR

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Erinnerung keinen Absolutheitsanspruch haben kann, dass sie trügerisch ist oder zumindest eine geringe Halbwertzeit hat, zeigen nicht zuletzt die Diskussionen um die Bewertung der DDR, die anlässlich des imaginären fünfzigsten Jahrestages ihrer Staatsgründung wieder auflebten. Zwischen den Akzentuierern einer "Babyjahrprogressivität" einerseits und denen der Repressionsdiktatur andererseits öffnen sich die seit Grass topischen 'weiten Felder'. Es gab, so der sozialwissenschaftliche Konsens, eben nicht eine DDR, sondern bis zu sechzehn Millionen "Ostdeutschlands".

Eines davon hat Frank Willmann zu umreißen versucht. Der Berliner Autor, via Weimar durch die ostdeutsche Sozialisation gegangen, konterkariert den "ddrschmerz/ der dichter & hühner/ gackern lässt". Der ostdeutsche Staat wird in der Lyrik Willmanns zum Panoptikum, die hehre Chronologie der Geschichte flockt aus zu Müllerschen "Inseln der Unordnung".

Ein Nachruf mit Trauerflor ist das nicht. Eher ein Abgesang mit mal hämischer, mal mitleidiger, mal aber auch post-traumatischer Akzentuierung. Dabei macht der Untertitel "einhundert semester abgang" klar, dass nach der Gründung der DDR zum Regen die Traufe kam. Das sozialistische Ideal wurde bald mit dem Bade ausgeschüttet. "der besondere weg landete/ im müll", heißt es gleich zu Beginn, und dem Autor bleibt nur, in dem übrig gebliebenen Haufen des bloß Faktischen nach Verwertbarem zu suchen.

Willmann versteckt keine didaktischen Rezeptionsanweisungen und staffiert die Verse auch nicht mit geschichtsdeutendem Intellektualismus aus. Die hundert Strophen Abgang sind zumeist exzellente Farcen - sarkastische Cluster, in denen sich Staatspolitik mit den Subroutinen des Alltags in rasanter Weise vermischen.

Im lakonischen Ton presst Willmann Geschichte in einen Katalog lyrischer Sequenzen, die auf bestimmte Ereignisse, Umbrüche, Erwartungen oder Utopien verweisen. Manchmal recht weitläufig, manchmal im Detail nicht ganz plausibel, erscheint auf einmal eine ganze, 40 Jahre dauernde Tragödie in nur zwei Zeilen: "leider gabs ... opfer beim opferabschaffen/ platzten nähte hielten dämme nicht".

Die Texte chargieren zwischen Monologen über einem zerschredderten Geschichtsbuch und zynischen Zwiegesprächen mit den Betroffenen aus SBZ und Nachfolgestaat. Auf dem ironisch arrangierten Trümmerhaufen des realsozialistischen Koordinatensystems ersteht grotesk gefügte Lyrik, die den ostdeutschen Zukunftsversuch in allen Aspekten beleuchtet: "wachsen & werden" ist der Versuch einer Kulturanthropologie mittels intelligenter "Verwurstung" gesellschaftlicher und politischer Eckdaten. Inmitten von Stalineskem, von Bitterfelder Wegen und volkseigenen Nutten auf der Leipziger Messe ist noch Raum für Schuhkrisen oder eine Ode an die Massenpraline "Schlagersüßtafel".

Frank Willmann formt Sprache zur Harlekinade und hintersinnigen Suada. Die Gedichte haben einen subtilen, fesselnden Rhythmus und sind frei von privaten Befindlichkeiten und Nostalgiemomenten. Erinnerung ist hier keine selbstverliebte Gedenktafel, sondern dezidierte Dekonstruktion von Mythen. "wachsen & werden" ist ein konzentriertes Sudelbuch, das den Sozialismus dieses Jahrhunderts in vier Worte zu fassen vermag: "oktober gab oktober nahm".

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Frank Willmann: Wachsen und Werden. Einhundert Semester Abgang. Mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer und Zeichnungen von Lutz Heyler.
Ventil Verlag, Mainz 1999.
120 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3930559617

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