Eine rettende Zunge aus Bulgarien

Über Dimitré Dinevs Roman "Engelszungen"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den Geschichten zweier Familien erzählt dieser Roman die Geschichte Bulgariens im 20. Jahrhundert. Die Schicksale von drei Generationen Mladenovs und Apostolovs sind auf den Rahmen des Zusammentreffens der Protagonisten Iskren und Svetljo gewebt. Wie den Autor selbst hat es diese beiden jungen Männer kurz nach der Wende nach Wien verschlagen, wo sich die Einwanderer mehr schlecht als recht über Wasser halten. Nachdem Svetljo und Iskren festgestellt haben, dass sie beide aus der bulgarischen Provinzhauptstadt Plovdiv stammen, will man die Silvesternacht der Jahrtausendwende miteinander feiern; soweit soll es aber nicht kommen ...

Was der Leser den jungen Männern voraus hat, ist das Wissen, wie oft und auf welchen Umwegen sich ihre Lebensfäden von Geburt an freilich schon gekreuzt haben: Und so sorgt Dinev, ohne eine Spur auktorialer Besserwisserei, über die stattliche Etappe von 600 Seiten dafür, dass das ebenso leichtfüßige wie lebensweise Epos sein Publikum in Bann hält.

Dieses Verdienst nimmt nicht der Autor für sich in Anspruch: Es sind die regionalen Moiren - Großmütter, Zigeunerinnen, Wahrsager -, die die Fäden in der Hand halten und durch einen heidnischen Zungenzauber dafür sorgen, dass alles ins Lot des Schicksals kommt, das den Beteiligten Verzweiflung bereitet. Dabei geht es um die kleinen Nöte des Kinderkartenkindes ebenso wie um katastrophale Ehen, Mord und Mafia.

Der Autor des Romans hat auf dem Friedhof lesen gelernt - wie die Figur des Iskren, den seine Oma regelmäßig auf den Gottesacker mitnimmt, wenn sie dem toten Großvater das auf der Erde Vorgefallene berichtet. Diese lebenskundige Frau, eine langjährige Schänkenwirtin und Analphabetin, versteht den Lauf des Lebens. Zwar lassen sich die Protagonisten von Engeln und Zigeunerinnen wahrsagen, doch in Wahrheit hat der Autor das Lesen im Buch des Lebens bei den Toten gelernt.

Es ist die Unerschütterlichkeit des Netzwerks aller Lebensläufe, die "Engelszungen" erfrischend stimmig und trittsicher macht: Da gibt es kein Kokettieren oder Andeuten, kein wehleidiges Beklagen des Verflossenen oder nicht Wahrgenommenen. Und obwohl in den Geschichten beileibe nicht nur liebenswerte Figuren agieren, wird auch nicht zwischen Böse und Gut gewertet. Dinevs große Liebe zum Erzählen äußert sich vielmehr in der Heiterkeit, mit der sein erster langer Roman glänzt; eine Eigenschaft, die schon den mehrfach prämierten Erzählband "Die Inschrift" ausgezeichnet hat, mit einem kleinen Roman als Titelgeschichte.

Dinevs Humor erinnert an Hrabal; bei seiner liebevollen Betrachtung der Welt gibt es nichts Hintersinniges und Böswilliges. Doch liegt Bulgarien noch weiter im Südosten als Mitteleuropa und damit der realistischen Weltsicht der griechischen Mythen näher, deren Erben die Makedonier sind. Den greifbar nahen Schritt ins Groteske wie bei Emir Kusturicas verfilmten Balkan-Gemälden vollzieht Dinev jedoch nicht. Der Erzählfaden spinnt sich vielmehr in allen möglichen, oft sehr feinen Schichten der Geschichten fort, beispielsweise, wenn Gegenstände oder Aussprüche eines Protagonisten über Dritte den Weg zum anderen finden und sich so die Schicksale Iskrens und Svetljos kaum merklich vernetzen - wie man es aus den Filmen von Otar Iosseliani kennt.

Keine Frage, dass die Sprache, die aus einem solchen Verständnis der Welt zehrt, flüssig und leichthin daherkommt. Dabei ist die im Fall Dinevs eine fremde, nämlich statt Bulgarisch Deutsch. Die kleinen Unsicherheiten zu bereinigen, die sich dabei manchmal zwischen der Literatursprache Deutschlands und der Authentizität des österreichischen Kinder-Küche-und-Straßendeutsch ergeben, wäre Sache des Lektorats gewesen: Sollten doch "Marille" und "Pflaume" ebenso wenig in einem Satz stehen wie "Kinderverzah(r)er" und "Junge".

Von Libuse Monikova, Yoko Tawada und Ilia Trojanov wissen wir, dass es möglich ist, die Sprache des Gastlandes zu seiner eigenen zu machen. Auch Dimitré Dinev gelingt das. Mehr noch: Die Liebe des Erzählers zum gemeinsamen Zusammenhang des Lebens und dessen Erscheinungsformen teilt er mit seinem Landsmann Elias Canetti: Auch der hatte - mit Leib und Seele Liebender des Lebens - seine Zunge aus Bulgarien nach Österreich geschafft, um die Haut des Geschichtenerzählens, wie sie in der skeptischen Mitte Europas die längste Zeit schlaff durchhängt, verzerrt oder verzärtelt wird, kraft seines weiten Herzens zu retten.