Geschichten aus den Falten der Erinnerungen

Moderne koreanische Erzählungen im Spiegel der Zeit

Von Hong-Bae LimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hong-Bae Lim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bisher sind nur wenige Werke der koreanischen Literatur ins Deutsche übersetzt. Das literarische Leben in Korea ist aber sehr dynamisch. Die breite Leserschaft will in literarischen Werken ihre eigenen Lebens- bzw. Leidensgeschichten widergespiegelt sehen. Das bedeutet, dass der Erwartungshorizont der meisten Leser vor allem auf die gemeinsamen Zeiterfahrungen zurückzuführen ist: Korea-Krieg, Teilung des Landes, Militärdiktatur im Schatten des Kalten Krieges und der Modernisierungsschübe, ein weites Feld auf dem Weg zur Demokratisierung usw. Die Erzählungen, die für die Anthologie "Versammelte Lichter. Moderne koreanische Erzählungen. Band 2" ausgewählt wurden, weisen je nach Generation, der die Autoren zugehören, gleichfalls auf solche düsteren Zeiterfahrungen der Moderne in Korea hin.

"Nur deine und meine Zeit" (erschienen 1958) von Hwang Sunwon, der als repräsentativer Romancier der Kriegsgeneration gilt, konfrontiert uns unmittelbar mit der Kriegserfahrung. Drei Soldaten befinden sich in einer Grenzsituation. Der schwer verletzte Hauptmann wird von zwei Kameraden getragen. Sie wollen zu den eigenen Truppen gelangen, aber keiner weiß den Weg. Ihre Ausweglosigkeit steigert noch den blinden Drang zum Überleben, obwohl der Hauptmann zeitweise an Freitod denkt, um den beiden die Last zu erleichtern und sich selbst von den Schmerzen endgültig zu befreien. Der Oberleutnant verlässt heimlich die beiden, um allein zu überleben. Er wird jedoch letztlich tot aufgefunden, sein Leichnam von Krähen gefressen. Diese ominöse Szene ist ein Schreckbild der vom Krieg erzwungenen zahllosen Opferungen für nichts, die in den Phantasien des Hauptmanns mit einem massenhaften Todeszug von Ameisen gleichgesetzt werden. Der Hauptmann selber kann dem Tod nicht entgehen, wenn er auch dem Gefreiten den richtigen Weg zu einem Bauernhof weist. Am Ende scheint der Gefreite von dem sterbenden Hauptmann befreit zu sein, da er spürt, "wie der schwere Körper Chus [des Hauptmanns] von seinem Rücken glitt und dumpf auf dem Boden aufschlug." Das Überleben des Gefreiten lässt sich jedoch keineswegs als Belohnung für seine Menschlichkeit deuten, weil er seinerseits nur dem Befehl des Hauptmanns folgte, der sein eigenes Leben bedrohte. Die blinde Pflichterfüllung des Gefreiten ist also mit dem blinden Willen des Hauptmanns in demselben schlechten Zirkel verschlossen. Die tiefsinnige, humane Intention des Autors liegt nicht so sehr in dem scheinbaren Trost am Ende, sondern vielmehr im zähen Verweilen beim Negativen, der Leerstelle des Textes.

In "Der Hof meiner Kindheit" (erschienen 1980) von Oh Jung-Hee, die der Töchtergeneration Hwang Sunwons angehört, geht es um den traurigen Zerfall einer Flüchtlingsfamilie während des Krieges, die aus der Perspektive der jungen Tochter nacherzählt wird, indem sie zwischen die "Falten der fernen Erinnerungen" blickt. Der Vater ist als Soldat an der Front, die vaterlose Familie sucht Zuflucht in einem fremden Dorf, wo sie die harte Zeit durchlebt. Der sechzehnjährige Bruder liest schon drei Jahre lang dasselbe Englisch-Lehrbuch, da er sein Studium irgendwie fortsetzen will, obwohl ihm keine Chance dazu gegeben wird. Allmählich gerät er in eine maßlose Ausschweifung, und übernimmt dennoch "die Rolle des Familienoberhauptes", indem er die Mutter überwacht, die nachts in einem Gasthof arbeitet, um die Familie zu versorgen. Es entsteht das Gerücht, dass die Mutter zur "Hure geworden sei", und als Rache für die Schmach der Familie wendet der Bruder gegen die jüngeren Schwestern Gewalt an, die von seinem selbstquälerischen Masochismus kaum zu unterscheiden ist. Sein wütendes "Zersprengen des Spiegels", der jeden Abend das feine Gesicht der Mutter wiedergab und damit ein umgekehrtes Trugbild der symbolischen Ordnung vorstellte, verdeutlicht den endgültigen Verlust der winzigen Hoffnung, die Ruhe der Familie wiederzugewinnen. Der Leser spürt bereits, dass gerade die Töchter nach der Wiederkehr des Vaters ein noch härteres Los erwartet. Die junge Ich-Erzählerin kann deshalb den Ausbruch des Ekels nicht unterdrücken, obgleich ihr Körper gerade im Moment der Wiederbegegnung mit dem Vater heftig mit der verspäteten Trauerarbeit beginnt: "Stoßweise kam es mir die Kehle hoch. Ohne zu wissen warum, wurde ich unendlich traurig, und Tränen liefen mir über die Wangen." Und danach die letzten Zeilen der Erzählung: "Ein dünner Sonnenstrahl drang bis unten ins Dunkel. Vor meinen tränenverschwommenen Augen drehte sich alles. Irgendetwas in diesem Licht schrie und stieg aus der Tiefe empor." In den Herzen der unzähligen zerstörten Familien klingt jener Schrei aus der dunklen Tiefe lange nach. "Der Hof meiner Kindheit" ist fast dreißig Jahre nach dem Kriegsende erschienen und ermöglicht trotzdem auf so sensible Weise, diese Erinnerungsarbeit, die unsagbaren Leiden mitzufühlen.

Die Verspätung der Trauerarbeit anlässlich des Korea-Krieges deutet schon die nachhaltigen Auswirkungen des Krieges an. Die Trauer ohne Ende gilt insbesondere den nach Norden und Süden auseinander gerissenen Familien, von denen die meisten noch heute voneinander nichts hören können und dürfen, geschweige denn einander wiederbegegnen. Seit Jahren veranstalten die Regierungen von Nord- und Südkorea Wiederbegegnungen, aber nur eine kleine Zahl von Betroffenen kann an diesen Veranstaltungen teilnehmen. In Choe Yuns "Den Vater im Blick" (erschienen 1992) rückt diese Familienfrage in den Vordergrund. Vierzig Jahre, nachdem der Vater gegen Ende des Krieges "nach Norden verschwunden war", lädt der Sohn den Vater nach Paris ein, wo er als freiwilliger Emigrant lebt. Bei diesem ersten Treffen von Vater und Sohn - der Sohn wurde kurz nach dem Verschwinden des Vaters geboren - gerät der Sohn in Verwirrung und Unruhe. Der Sohn hat Grund genug, sogar eine Art Ressentiment gegen den Vater zu hegen, weil er als Sohn eines Überläufers in den Norden mehr als genug gelitten und sich deshalb entschlossen hat, "die Heimat zu verlassen und dieses Landstreicherleben zu führen." Von der Polizei überwacht, mussten die Familienangehörigen immer wieder vergebens versuchen, die "Gespenster unseres Vaters" abzuschütteln. Von solchen dunklen Erinnerungen überschwemmt, kann der Sohn sich selbst nicht beherrschen. Die Tatsache, dass der Vater vor zwanzig Jahren wieder aus Nordkorea geflohen war und seitdem in China "als ein namenloser Bauer" lebt, macht den Sohn noch zorniger, weil er sich im geheimen gewünscht hat, dass sein Vater, "wenn er schon alles verlassen hatte, zumindest einen bedeutenden Posten und Ruhm erworben hätte". Der Vater aber denkt ganz anders: "Der Mensch, der dein Vater ist, hat nun zwanzig Jahre als Bauer gelebt und ist zufrieden mit diesem Leben, in dem er nach vielen müßigen Irrtümern und Mühen angelangt ist. So einfach ist das. Und genau so wie ich bin, wollte ich mich euch zeigen." Damit öffnet der Vater das verschlossene Herz des Sohnes. Vorbedingung für die Versöhnung zwischen Vater und Sohn wie zwischen Norden und Süden sei es, gemeinsam den Kampf um Ideologien und Anerkennung zu überwinden, denn dadurch erst könne der Grundstein für eine Wiedervereinigung gelegt werden. Über einen langen Umweg in die finstere Vergangenheit weist die Autorin den Weg in die heitere Zukunft.

Zwei Erzählungen - Song Yongs "Jahreszeit" (erschienen 1973) und Lim Chol-Woos "Unfruchtbare Zeiten" (erschienen 1987) - behandeln die Gewalt der Militärdiktatur in Südkorea. In "Jahreszeit" wird ein Gymnasiallehrer von zwei Militärpolizisten verhaftet und ins Gefängnis abgeführt, weil er vor fünf Jahren als Offizier desertierte. Diese Deserteur-Geschichte ist eine Abbreviatur des alltäglichen Überwachungs- und Mobilisierungssystems der Militärdiktatur in den siebziger Jahren. In "Unfruchtbare Zeiten" geht es um den Massenmord in Kwangju im Jahre 1980. Damals wurden hunderte von Bürgern, die für die Demokratie kämpften, vom Militär ermordet. In dieser Erzählung werden Traumata und Schuldgefühle der Überlebenden thematisiert. In einem verwüsteten Dorf sind eines Tages hunderte von Kindern verschollen, die niemand suchen will und darf, obgleich jeder unter dem Alptraum leidet. Seitdem kann kein Ehepaar mehr Kinder gebären. Die Unfruchtbarkeit hängt mit der Verdrängung des bewussten Gedächtnisses zusammen: "Das Dorf sank in einen todesähnlichen Sumpf des Vergessens und lag nur noch in hilflosen Zuckungen." Hinter dieser allegorischen Beschreibung lässt sich die leise Stimme des Autors unschwer erraten: Die verschollene Hoffnung einzuholen ist erst dann möglich, wenn die Überlebenden die nackte Wahrheit betrachten und bekämpfen können. Gegen Ende der achtziger Jahre und während der neunziger Jahre hat das koreanische Volk sich endlich die Demokratie erkämpft. Sie hat in Korea einen viel höheren Tribut gefordert, als es hier erzählt wird.

In der modernen Geschichte Koreas lassen sich die neunziger Jahre als eine Übergangszeit bezeichnen: Demokratisierung, Umbruch im System des Kalten Krieges, ein weiterer Schritt in Richtung auf eine Wiedervereinigung, Aufstieg in den Hochkapitalismus und die Herausforderung der Globalisierung - das alles hat einen tiefgründigen Atmosphärenwechsel des Lebensgefühls im bürgerlichen Alltag mit sich gebracht. Angesichts solcher Veränderungen empfinden viele Menschen eine gewisse Desorientierung, und nicht wenige Autoren fragen sich nach dem Grund des Schreibens. Die alte Frage kehrt also wieder: Wozu Schreiben heute? Drei Erzählungen - Yi Chungjuns "Narben" (erschienen 1992), Sin Kyongsuks "Versammelte Lichter" (erschienen 1993), Jo Kyong Rans "Mein purpurnes Sofa" (erschienen 1998) - kreisen um dieselbe Frage. In "Narben" erzählt der Großvater seinem Enkel verschiedene glückliche oder unglückliche Geschichten, die in den Narben seines Körpers verborgen sind. Die Narben, in denen seine Lebensgeschichten gespeichert sind, bilden also eine unerschöpfliche Quelle des Schreibens. Damit beschreibt der Autor das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit. In "Versammelte Lichter" gibt eine Figur das Glaubensbekenntnis einer Schriftstellerin ab: "Ich glaube nicht, dass meine Schriftstellerei irgend etwas verändern kann. Ich kann mich selbst aber ertragen". Diese Äußerung dürfte auch für die Autorin gelten, da die Erzählerin formuliert, "dass ich innerhalb dieses Rahmens ohne starre Festlegung das Leben der Menschen, wie es mich hin und wieder berührt, so darstellen will, dass es trotz alltäglicher Äußerlichkeiten von innen strahlt." So gewinnt die Erzählung, die Literatur, die Lebenskraft, die das Leben und das Schreiben zugleich ernährt. Um ein Stichwort von Goethe zu variieren: Mit jedem Wort eröffnet sich ein neues Organ im Menschen. "Mein purpurnes Sofa" behandelt die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation inmitten einer hochkapitalistischen Anonymgesellschaft. Im Labyrinth der Großstadt schreibt die Ich-Erzählerin einen unendlichen Brief an einen Unbekannten, der wieder an anonyme Unbekannte Briefe schreiben soll. Die unendliche Kette des Briefeschreibens gleicht gewissermaßen jedem literarischen Text, der nur aufgrund des Dialogs zwischen Autor und Leser sinnvoll existieren kann.

Abschließend möchte ich noch einen Schlangenfuß - "Schlangenfuß" bedeutet im koreanischen Jargon "unbedeutende Bemerkung" - hinzufügen: Die Kurzgeschichte "Der gewitzte Dieb" von Cho Sehui, der in dieser Rezension kein Wort gewidmet wurde, hat m. E. in diesem Band einen falschen Ort gefunden. Es ist unverständlich, warum für diese Anthologie ausgerechnet diese Kurzgeschichte unter so vielen ausgezeichneten Erzählungen des Autors ausgewählt wurde. Außer diesem kleinen editorischen Makel ist die Übersetzung im Ganzen sehr gelungen. Hoffentlich können die deutschen Leser anhand dieser Anthologie eine schöne Aussicht in eine bisher unbekannte ferne Landschaft bekommen.

Titelbild

A. K. Haftmann (Hg.): Versammelte Lichter. Moderne koreanischen Erzählungen. Band 2.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Chong Heyong u. a.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2002.
203 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-10: 3934872344

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