Von welken und anderen Frauen

Ein Sammelband zum erzählerischen Werk Clara Viebigs

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Clara Viebig, heute weithin vergessene, doch - wie Metzlers "Deutsche Literaturgeschichte" informiert - um die Jahrhundertwende "eine der bekanntesten Schriftstellerinnen", wurde einst "vor allem für ihre Kunst, einfache Menschen zu charakterisieren, Landschaften zu schildern und Milieus zu erfassen" gewürdigt. Dass die dem Naturalismus verpflichtete Autorin auch heutzutage noch mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihr zuteil wird, wurde auf einem im Jahre 2002 anlässlich ihres 50. Todestages von der Clara-Viebig-Gesellschaft initiierten internationalen Kolloquium deutlich. Die damals gehaltenen Vorträge sind nun in einem von Volker Neuhaus und Michel Durand herausgegebenen Sammelband nachzulesen.

Zwar regen die meisten der Beiträge zu neue Sichtweisen auf Viebigs Œuvre an, doch gibt das knapp gehaltene Vorwort von Volker Neuhaus, der als wissenschaftlicher Beirat des Kolloquiums fungierte, eher durch seinen verwirrenden Gebrauch grammatikalisch maskuliner und femininer Formen zur Bezeichnung von Personengruppen zu denken. So etwa, wenn er die große Zahl der vortragenden "Kolleginnen und Kollegen" hervorhebt und anfügt, es seien "viele davon Ausländer" gewesen. Seine geschlechter- und sprachbewusste Differenzierung in Kolleginnen und Kollegen lässt vermuten, dass er das anschließende Substantiv "Ausländer" nicht als generische (Maskulinum-)Form benutzt und sich somit keine Ausländerinnen unter den Vortragenden befanden. Doch weit gefehlt! Nicht nur aus der deutschen Stadt Bonn war eine Referentin angereist sondern ebenso aus Metz, Scheffield und Poznan.

Merkwürdiger noch ist Neuhaus' interpretationsbedürftige These, dass "kaum ein Autor Provinz ohne jede Enge so sinnlich zu gestalten gewusst, kaum eine Autorin weibliche Selbstbestimmung bis in den sexuellen Bereich hinein so klar eingefordert" habe wie Clara Viebig. Das liest sich gerade so, als sei er der Auffassung, Autorinnen seien eher als Autoren willens und in der Lage, Provinz in ihren Werken "sinnlich zu gestalten", während überraschenderweise Autoren weibliche Selbstbestimmung ebenso sehr eingefordert hätten wie Viebig, Autorinnen jedoch in diesem Punkt hinter Clara Viebig meist zurückgeblieben seien. Oder sollte etwa der Begriff "Autoren" die Autorinnen inkludieren, während der Begriff "Autorinnen" die Autoren nicht mitmeint?

Mit Ausnahme des abschließenden Aufsatzes von Herman Gehlhausen zu Viebigs Kritik am Ersten Weltkrieg sind die Beiträge des Bandes auf die drei Rubriken "Clara Viebigs Stellung in der Literaturgeschichte", "Weiblichkeit bei Clara Viebig" und "Erzählte Provinz bei Clara Viebig" verteilt. In diesem dritten Abschnitt untersucht Maria-Regina Neft Viebigs Belletristik als "volkskundliche Quelle" und Jürgen Macha nähert sich aus der Perspektive des Sprachwissenschaftlers Viebigs Eifelerzählungen, in denen sie ihre Figuren oft im regionalen Dialekt sprechen lässt. Im zweite Teil meldet sich Volker Neuhaus noch einmal zu Wort und wirft einen Blick auf die Flaubert-Rezeption in Viebigs Roman "Absolvo te", während Hugo Aust Clara Viebigs historische Romane mit anderen Werken des Genres vergleicht. Einen der historischen Romane Viebigs - "Charlotte von Weiß" - unterzieht Helga Abret einer näheren Untersuchung. Sie widerspricht der Auffassung, dass dieser "von der Literaturwissenschaft vernachlässigte Roman" als Werk aus Viebigs letzter Schaffensperiode aus deren "eigentlichem Schaffensgebiet" falle und interpretiert ihn als "Geschichte einer Mörderin", mithin als "Verbrecherliteratur". Dabei zeigt sie überraschende Gemeinsamkeiten mit "postfeministischen Frauenkrimis" auf, betont jedoch, dass es neben den zahlreichen Parallelen auch an Unterschieden nicht mangelt.

Nicht den historischen, sondern Viebigs Zeitromanen gilt Simone Orzechowskis Interesse, deren Literarisierung von Krankheit und Gebrechen sie unter die Lupe nimmt. Mit Ausnahme des Romans "Die Passion", dessen Protagonistin an angeborener Syphilis leidet, stehen die von Viebig literarisierten Erkrankungen nicht im Mittelpunkt ihrer Werke. Orzechowski teilt sie in die vier "Kategorien" "Schwindsucht", "Bleichsucht", "Tuberkulose" und "Herzleiden" ein. Da Viebig das Krankheitsmotiv "literarisch wirksam" einsetze, seien die literarisierten Krankheiten "auch auf symbolischer Ebene zu interpretieren". Für Viebigs literarische Darstellung von Krankheit und Gebrechen sei insbesondere die interessanterweise geschlechterdifferent eingesetzt Pflanzenmetaphorik kennzeichnend. So werden gesunde Männer oft mit Bäumen verglichen, gesunde Frauen hingegen meist mit roten Äpfeln. Kranke Frauen werden ebenso wie schwächliche Kinder "mit dem Adjektiv 'welk' verbunden". Entsprechend blühen sie während ihrer Genesung auf. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass in Viebigs Romanen die Frauen - abgesehen vom "Typus der 'zarten Ehefrau aus gutem Hause'" stärker als die Männer sind, wobei der "kränkliche Mann" stets eine Frau zugesellt bekommt, "die ihn unterstützt und pflegt". Das in der Literatur bereits "verankerte" Krankheitsmotiv, so Orzechowskis Fazit, wurde von Viebig zwar nicht "revolutioniert", wohl aber "auf originelle Weise" behandelt.

An einem spezifischen Manko krankt Michel Durants ansonsten durchaus lesenswerter Beitrag zu den "Berliner Romanen" der oft fälschlicherweise zur bloßen Provinzdichterin degradierten Autorin. Zwar stellt er sie zahlreichen Berlin-Romanen ihrer ZeitgenossInnen gegenüber - und das ist es, was Durants Beitrag interessant macht -, doch geht er mit keinem Wort auf die Forschungsliteratur zu diesem Thema ein. So bleibt nicht nur Andrea Müllers These der "Übersexualisierung der Großstadt" bei Viebig erklärungsbedürftig.

Titelbild

Volker Neuhaus / Michel Durand (Hg.): Die Provinz des Weiblichen. Zum erzählerischen Werk von Clara Viebig. Terroirs au Féminin. La province et la femme dans les récits de Clara Viebig.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
307 Seiten, 52,40 EUR.
ISBN-10: 3906770176

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