"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich mich wiederhole"

Der Erzähler Yi Munyol und seine Romanformen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yi Munyol, geboren 1948, ist einer der bekanntesten Erzähler Südkoreas. Seine Werke, die in Korea hohe Auflagen erreichen und mehrfach verfilmt wurden, beschäftigen sich häufig mit politischer Macht und Machtmissbrauch, aber auch mit den Aufgaben von Kunst und Künstlern. Sein Roman "Der entstellte Held", der vor einigen Jahren vom Pendragon Verlag auf Deutsch publiziert wurde und jetzt auch in einer Taschenbuchausgabe vorliegt, wird in diesem Schwerpunkt im Essay von Ludger Lütkehaus nachgezeichnet; der gerade erschienene Roman "Jugendjahre" ist von Jo Joo-Ok rezensiert, die auch das folgende Gespräch zwischen Yi Munyol und Kai Köhler vermittelt hat und übersetzte.

Köhler: Wir haben hier die Druckfahnen Ihres Romans "Jugendjahre", der in Kürze in deutscher Übersetzung erscheinen wird. Seit langem wird unter Übersetzern diskutiert, wie strikt man beim Original bleiben soll, welche Rücksichten auf die Leseerwartungen des Zielpublikums angemessen sind, wenn der Text noch seine poetische Wirkung entfalten soll. Wie wünschen Sie sich die Übertragungen Ihrer Bücher?

Yi: Bücher werden für Leser gemacht, und den Lesern soll man entgegenkommen. Wichtig ist mir in jedem Fall, dass ein Übersetzer ins Deutsche Deutsch auch als Muttersprache hat.

Köhler: Koreanische Leser sind recht tolerant, was Wiederholungen angeht, wo deutsche Leser schon denken: "Bitte nicht noch einmal!" Man müsste manchmal kappen, kürzen, um den Eindruck unkontrollierter Rede zu vermeiden.

Yi: Kürzungen gehen zu weit. Eher müsste man solche Stellen interpretieren, umformulieren, um sie lesbar zu machen. Für solche Bemühungen sehe ich in Europa eine große Bereitschaft. Bis 1998 hatte ich einen europäischen Agenten, dann bin ich zu einem Amerikaner gewechselt. Die Amerikaner greifen viel mehr in den Text ein, das ist ein großer Unterschied. Sicher betrifft das nicht nur mich, sondern auch andere Autoren. Von Kunderas "Unerträglicher Leichtigkeit des Seins" zum Beispiel ist erst eine gekürzte Fassung erschienen, und erst, nachdem er sich einen Namen gemacht hat, der ganze Text.

Köhler: Haben Sie Einfluss darauf nehmen können, was von Ihnen in die verschiedenen Sprachen übersetzt wurde, oder war das eine Entscheidung von Übersetzern oder Verlagen?

Yi: Das war unterschiedlich. Manchmal konnte ich die Bücher nennen, die mir wichtig waren, auch entgegen der Verkaufserwartungen. In Frankreich war das zum Beispiel möglich, bei meinem Verlag Actes du Sud.

Köhler: Im Deutschen sind nun bald zwei Romane von Ihnen greifbar, "Der entstellte Held" und "Jugendjahre". Der Band, in dem Ihre Erzählung "Gumsijo", "Der goldene Vogel", enthalten ist, ist vergriffen. Deshalb möchte ich vor allem über die beiden Romane sprechen.

Yi: Es tut mir sehr Leid, dass gerade in Deutschland so wenig von mir vorliegt, und seit langem hoffe ich, dass sich das ändert. In Frankreich sind acht meiner Bücher erscheinen, in Spanien fünf, in Italien vier, auch in Griechenland oder den Niederlanden gibt es Übersetzungen, nur in Deutschland gibt es fast nichts. Ich weiß nicht, warum die Deutschen sich nicht für mich interessiert haben. Zufall, Schicksal? Dabei fühle ich mich eher deutsch, mein Temperament ist eher deutsch.

Köhler: Dann muss ich fragen, was das deutsche Temperament ist!

Yi: Für mich gehören die Deutschen zu den Nordeuropäern, an Ideen orientiert, tiefsinnig und schwermütig, wie Thomas Mann.

Köhler: "Der entstellte Held" war das erste koreanische Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe, und "Jugendjahre" habe ich jetzt, viele Jahre später, gelesen. Ich war sehr überrascht und hätte niemals geglaubt, dass es sich um Bücher eines Autors handelt, die Schreibweise ist sehr, sehr unterschiedlich.

Yi: Eine solche Reaktion ist nicht selten. Vor zwanzig Jahren sind zwei meiner Werke für den Dong-In-Literaturpreis in der Auswahl gewesen. Man wusste nicht, dass beide von mir waren, das wird nicht aufgedeckt, bis der Preis vergeben wird. Es handelte sich um den ersten Teil der "Jugendjahre", der damals noch eine selbstständige Erzählung war, und "Gumsijo". Die Leute waren dann sehr überrascht, dass ich beides geschrieben habe.

Köhler: Die Teile von "Jugendjahre" sind unabhängig voneinander entstanden? Ich habe nun die drei Teile als ein Ganzes gelesen, und ich habe mich gefragt, ob die Hauptfigur eine allmähliche Entwicklung durchmacht, oder ob erst ganz am Ende ein Entwicklungssprung stattfindet. Mir kam die Hauptfigur in den ersten Teilen eher statisch vor; beim dritten Teil gibt es vielleicht Entwicklungsstufen, oder Durchbruchserlebnisse, etwa das Erlebnis der Schönheit bei der winterlichen Bergwanderung.

Yi: Der statische Eindruck, den die beiden ersten Geschichten hervorrufen, kommt wahrscheinlich daher, dass sie jeweils an einen Ort gebunden sind, während der Held im letzten Teil wandert. Ein Interpret hat die Einheit der drei Erzählungen darin gesehen, dass sie eine Art Heimkehr darstellen. Darin sind Statik und Bewegung aufgehoben. Damit bin ich einverstanden

Köhler: Heimkehr wohin?

Yi: Oberflächlich gesehen, vom Ort her, ist es eine Heimkehr nach Seoul. Aber gemeint ist eine Heimkehr in den Alltag, zum normalen, realen Leben.

Köhler: Hat dabei die Schicht des Autobiografischen eine große Bedeutung?

Yi: Unter allen meinen Büchern ist "Jugendjahre" das autobiografischste, besonders gilt das für den ersten und den letzten Teil. Als ich 19 Jahre alt war, hat es an einem Tag angefangen zu schneien. Da bekam ich das Gefühl, ich müsste zum Meer gehen. Dazu hatte ich das Taebek-Gebirge zu überqueren, und der Schnee nahm immer mehr zu, kein Weg war mehr zu erkennen, und trotzdem wurde meine Lust, hinüberzuwandern, immer größer. Als ich die Ostküste, das Meer erreicht hatte, waren meine Nase und meine Füße erfroren. Auch der erste Teil ist sehr autobiografisch. Damals waren andere tief in der Vorbereitung für die Universitätsprüfung, nach einem Jahr bin ich aus der Schule weggelaufen. Auch eine Mittelschule habe ich nie besucht, die familiären Verhältnisse waren nicht gut, niemand hat mich kontrolliert.

Köhler: Man kann ja den Roman zeitlich situieren - im zweiten Teil ist von der ersten Mondlandung die Rede -, aber obwohl man dann ausrechnen kann, wann Anfang und Ende spielen, wirken sie relativ zeitlos. Spielt denn der historische Kontext eine Rolle?

Yi: Es gibt noch mehr historische Verweise, so im ersten Teil den Mann, dessen Sohn nach Vietnam geschickt wurde; Korea hat sich ja mit vielen Soldaten am Vietnam-Krieg beteiligt. Das verstehen die Leser hier durchaus.

Köhler: Was das Romanmodell angeht, denkt man als deutscher Leser natürlich an die Tradition des Bildungsromans. Gibt es auch spezifisch koreanische Linien, die für den deutschen Leser nicht zu erkennen sind?

Yi: Wörtlich wird "Bildung" in "Bildungsroman" im Koreanischen als Erwachsen-Werden übersetzt. Wir haben keine solche Tradition, es gibt keine namhaften Romane im Genre des klassischen Bildungsromans. Ich würde auch "Jugendjahre" vom Bildungsroman absetzen. Es geht mir nicht darum, alles in meinen Roman einzubeziehen, eine Totalität wiederzugeben. Es gibt einfach drei Querschnitte. Eine koreanische Tradition, die mir wichtig ist, wenn auch weniger für "Jugendjahre", ist etwas, was ich giosul nenne. Gio steht für Lehren, sul für Erzählen, Beschreiben. Es hat zu tun damit, eine Meinung zu vermitteln, aber weniger streng als der Essay. Ich weiß, dass die Europäer diese Form nicht mögen, aber ab und zu verwende ich sie. Es könnte zu sehr wie ein Dozieren wirken. Mein Werk "Seontaek", "Die Wahl", folgt diesem Modell, und in abgeschwächter Weise auch "Der Poet", das im Deutschen in Vorbereitung ist. "Der Poet" hat weniger Romanstruktur, eher spreche ich direkt aus, was ich sagen will. Der Held selbst spricht nicht, sondern der Erzähler spricht. Aber das ist nicht für mich charakteristisch, es gehört zur Tradition, die ich hin und wieder aufgreife. Es gibt in meiner Heimat ein Erzählmodell, eine Art indirekte Erzählweise, die man traditionell nennen könnte. Hier berichtet der Erzähler von einem vorbildlichen Menschen, einem Helden - und ganz am Ende verrät er, dass dieser vortreffliche Mensch ihn selber als vortrefflichen Menschen gelobt hat. Oder eine andere alte Möglichkeit: In einem zehnbändigen Roman über eine Räuberbande tritt der Held in einem Band überhaupt nicht auf. Nur die großartigen Taten seiner Leute werden geschildert. Ganz am Ende erst gehen seine Leute zu ihm und verbeugen sich vor ihm, so erscheint er besonders groß. Alles, was die anderen getan haben, gehört dann zu ihm.

Köhler: Vermutlich würde man in Deutschland erwarten, dass Größe und Bedeutung in Handlung umgesetzt werden; der Held muss sich also tätig bewähren, ähnlich wie man bei einem Roman erwartet, dass die Hauptthesen in Handlung veranschaulicht werden. Das könnte ein Rezeptionshindernis sogar für "Jugendjahre" in Deutschland sein, wo der Erzähler etliches an Lehren formuliert. Aber diese Nachteile gelten für Europa. Welche Vorteile hat es denn, diese Erzählform zu wählen?

Yi: Der Vorteil für den Schriftsteller ist, dass er direkt sprechen kann, er kann direkt lebendiges Gefühl vermitteln, er kann dann direkt Leidenschaft und Leben geben.

Köhler: Ganz anders kommt mir dann "Der entstellte Held" vor, die Geschichte eines Kampf gegen einen Schüler, der mit Erpressung und Bestechung seine Klasse kontrolliert. War das ein Neuanfang in Ihrem Schreiben, oder gibt es in den sieben Jahren, die zwischen den beiden Werken liegen, Entwicklungsstufen?

Yi: Ich würde das nicht als Veränderung sehen. Es gibt verschiedene Schreibweisen, zwischen denen ich hin- und herwechsle, aber eine Entwicklung ist das nicht. "Jugendjahre" ist autobiografisch, "Der entstellte Held" eine Fabel. Das ist der Unterschied. Anlass des Romans war ein Tag im Jahr 1986, als Chun Doo Hwan, der Präsident der damaligen Militärregierung, ein Gesetz erzwang, dass ihm eine weitere Amtszeit erlaubt hätte. Das hat zu seinem Sturz geführt. Die Koreaner wollten endlich in die Demokratie - ein historisches Ereignis. Jede Figur symbolisiert eine der damaligen Mächte: der erste Lehrer die USA, der Anführer der Klasse die Militärregierung, die Hauptfigur und die Helfer sind Intellektuelle. Wie die koreanischen Regierungen und die der USA eng zusammenspielten, so arbeiten auch der erste Lehrer und der Klassensprecher zusammen. Der zweite, rechthaberische Lehrer steht für eine versteifte Ideologie. Die Befreiung kommt nicht von unten, sondern wird von oben erzwungen.

Köhler: Es gibt also zwei historische Schichten in dem Roman, das Nachwort in der deutschen Fassung verweist auf die Demonstrationen, die 1960 zum Sturz von Rhee Syngman geführt haben ...

Yi: Nein, gar nicht, das ist Erfindung. Es geht in dem Buch um die 80er Jahre.

Köhler: Wobei das Buch ohne diesen Bezugspunkt funktioniert, man kann es ja parabelhaft für ähnliche Konstellationen lesen. Sind eigentlich die Machthaber in dem Buch durchgehend negativ? Der Klassentyrann hat ja auch eine gewisse Vitalität, er kommt nicht völlig unsympathisch daher.

Yi: Eine primitive Macht. Für die Anarchisten ist jede Macht negativ, aber ich bin kein Anarchist. Er ist jedenfalls die einzige Macht, die es in dem Buch gibt, und diese Macht ist nicht auf richtige Weise gewonnen.

Köhler: Verzeihen denn koreanische Leser ganz unterschiedlich geschriebene Bücher? Deutsche Autoren, Grass oder Walser, haben auch darum Erfolg, weil sie die Erwartungshaltung ihrer Leser recht zuverlässig befriedigen.

Yi: Manchmal hatte ich den Eindruck, dass das bei den Literaturkritikern eher nachteilig wirkt, und sie reagieren misstrauisch auf zu viele Wandlungen. Aber die Reaktion der normalen Leser ist positiv. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich mich wiederhole, und darum werden so viele von meinen Büchern gekauft.

Köhler: Welche Formen der Kommunikation sind denn für Sie wichtig? Korrespondieren Sie mit Ihren Lesern, kommen Sie mit ihnen auf Lesungen zusammen?

Yi: Diese Chance gibt es selten. Seit den 80er Jahren gibt es in Seoul, in Pusan oder Kwangju große Buchhandlungen, die Lesungen organisieren. Es gibt aber keine langen Lesetouren.

Köhler: Wie wirkt sich die Konkurrenz zu neuen Medien in Korea für Bücher aus?

Yi: Am Anfang ging ich davon aus, dass Internet oder CD-Rom Bücher verdrängen, ähnlich wie nach Gutenberg Handschriften von Druckwerken verdrängt wurden. Aber mit der Zeit hat sich das nicht ergeben. Elektronische Texte werden eine bestimmte Funktion erfüllen, sie werden aber nicht die Stelle von Büchern einnehmen. So arbeite ich jetzt mit verschiedenen Medien - zur Zeit schreibe ich einen Roman, der nach und nach im Internet veröffentlicht wird.

Titelbild

Munyol Yi: Der entstellte Held. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hiyoul Kim und Heidi Kang.
Pendragon Verlag, Bielefeld 1999.
126 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3929096730

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Titelbild

Munyol Yi: Der entstellte Held. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hiyoul Kim und Heidi Kang.
Unionsverlag, Zürich 2004.
124 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3293202918

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Titelbild

Munyol Yi: Jugendjahre. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Christina Youn-Arnoldi und Cornelia Roth.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2004.
213 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3934872743

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