Eine vollkommen undruckbare Szenenreihe

Gabriella Rovagnati gibt die Urfassung von Schnitzlers "Reigen" heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johlende, pfeifende, brüllende, ja prügelnde Zuschauer erwarten viele wohl noch am ehesten bei sportlichen Ereignissen, einem Fußballspiel vielleicht; oder im Bereich der Kultur allenfalls auf einem Punk-, Heavy Metall- oder Hip Hop-Konzert. Es mag manchen überraschen, dass so etwas auch in den heiligen Hallen der Hochkultur, wie etwa dem Wiener Burgtheater vorkommt. Doch gelegentlich geschieht es, und wohl kaum je war ein Theaterstück so sehr umstritten, Protesten, Störungen und juristischen Verfahren ausgesetzt wie Arthur Schnitzlers "Reigen" zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ende des 19. Jahrhunderts verfasst und 1903 erstmals als Druckwerk in einer öffentlichen Ausgabe zugänglich, wurde das Stück bereits im darauffolgenden Jahr verboten, und es sollte noch bis ins Jahr 1920 dauern, bis es seine Uraufführung in Berlin erlebte. Wenige Monate später wurde es auch in Wien, dem Ort der Handlung, aufgeführt und löste sogleich einen Skandal aus. Die folgenden Aufführungen waren von Störungen und Tumulten begleitet, die derart gewalttätig verliefen, dass weitere Aufführungen des Stückes verboten wurden. Nach der allerdings bald verfügten Aufhebung des Verbots untersagte Schnitzler weitere Aufführungen, so dass der "Reigen" erst im Jahre 1982 wieder auf eine Bühne gelangte.

Der Autor war sich der Skandalträchtigkeit seines Stückes bereits bei dessen Niederschrift durchaus bewusst; so schrieb er im Februar des Jahres 1897 seiner langjährigen Vertrauten Olga Waissnix, dass er eine "vollkommen undruckbar[e]" Szenenreihe geschrieben habe. Dennoch wagte er drei Jahre später einen Privatdruck in kleiner Auflage, den er an engere Freunde und Bekannte verschenkte. Zwar hatte Schnitzler alles Schlüpfrige oder gar pornographisch Anmutende strikt vermieden, doch schützte ihn das nicht vor groben Missverständnissen auch in diesem Freundeskreis. So bekannte etwa Rudolf Lothar, er habe die "intimen Reize" des Textes mit "innigem Behagen" gelesen und würde sich das Büchlein gerne "in zarte[r] Frauenhaut binden lassen".

Das bislang unbekannte Manuskript der Urfassung des Stückes, das an etlichen Stellen von der später gedruckten Fassung durch "Streichungen, Milderungen, Korrekturen und völlig neue Texte" abweicht und ursprünglich den Titel "Ein Liebesreigen" trug, hat die Literaturwissenschaftlerin Gabrielle Rovagnati unlängst in der Fondation Bodmer/Bibliotheca Bodmeriana (Cologny/Genève) entdeckt und mit einem kritischen Apparat herausgebracht. Neben dem Urtext enthält der Band eine Erweiterung zur vierten Szene sowie Vorstufen zur neunten und zehnten. Die von Schnitzler für den Druck vorgenommenen Streichungen sind nicht etwa in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Zensur, sondern in ästhetischen Überlegungen begründet. Betroffen sind insbesondere zwei Passagen, welche die organische Einheit des Stückes zerstört hätten. So fiel dem Federstrich des Autors in der vierten Szene ein Auftritt zweier Freunde des "jungen Herrn" zum Opfer, die gekommen waren, um ihn zu bitten, bei einem Duell zu sekundieren. Aus den Vorstufen zu den beiden letzten Szenen strich der Autor Judentum und Medizin betreffende Dialogpassagen. Wie Rovagnati mit guten Gründen bemerkt, hätten die gestrichenen Passagen "das Gleichgewicht des Werkes gestört" und "das Prinzip der Reduktion durchbrochen", auch wenn sie, wie die Ärztesatire, "durchaus bühnenwirksam hätten sein können".

In einem umfangreichen Vorwort interpretiert die Herausgeberin den "Liebesreigen" als eine obgleich satirisch und amüsant wirkende, so doch "verzweifelte Meditation über die Unmöglichkeit der Liebe", in der die Sexualität als "ewige Wiederkunft des Gleichen" die Rolle des Todes einnehme, der wie im Totentanz dem vergänglichen Leben Ewigkeit und dem Mannigfaltigen Uniformität verleihe. Das ist nicht unplausibel. Wenn sie jedoch meint, dass "in jeder Szene sofort nach der geschlechtlichen Vereinigung beiderseits ein dringendes Bedürfnis nach Loslösung" bestehe, da die Figuren in ihren jeweiligen "existentiellen Solipsismus" zurückdrängten, so stehen dem die Dirne (in der Szene mit dem Soldaten), das süße Mädel (in der Szene mit dem Gatten) und das Stubenmädchen (in ihren beiden Szenen) entgegen; kaum zufällig sämtlich Figuren weiblichen Geschlechts.

Doch wie dem auch sei, wichtiger ist, dass es sich bei der Handschrift des "Liebesreigens" zweifellos um eine echte Entdeckung handelt, von der Rovagnati zu Recht sagen kann, sie gewähre einen "unmittelbaren Blick in die Werkstatt des Dichters", mit dessen Hilfe sich Schnitzlers Arbeit an seinem "Sorgenkind" "bis ins Detail" nachvollziehen lasse.

Titelbild

Arthur Schnitzler: Ein Liebesreigen. Die Urfassung des "Reigen".
Herausgegeben von Gabriella Rovagnati.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
299 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100735617

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