Angetreten um die Kulturwissenschaften zu manifestieren?

Über das neue "Handbuch der Kulturwissenschaft" von Friedrich Jaeger

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So sehr die Kulturwissenschaften heute als übergreifendes Betrachtungsparadigma einer globalisierten und gleichzeitig fragmentarisierten Welt gelten, so disparat sind auch die Definitionsversuche eben dieses Paradigmas. Verbindliche Auskünfte zum Thema Kulturwissenschaften, sofern es denn wissenschaftliche Verbindlichkeit gibt, konnte in den meisten Büchern immer erst nach umfassender Lektüre gefunden werden. Ein Handbuch, das diese Lücke schließt, war seit Jahren ein offensichtliches Desiderat der (interdisziplinären) Kulturwissenschaften. Friedrich Jäger und Burkhard Liebsch legen ein dreibändiges, im Stil der Handbücher des Metzler Verlages konzipiertes und ausgestattetes Handbuch vor.

Einleitend sind die Ausgangslage und das Selbstverständnis formuliert, das den Rahmen für die im Handbuch zu findenden Beiträge skizziert: "Die Kulturwissenschaften befinden sich momentan in einer ambivalenten Lage. Einerseits gewinnen sie zunehmendes Gewicht für die Prozesse der kulturellen Deutung und Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften, nicht zuletzt im Kontext der interkulturellen Verständigung in einer globalisierten Welt. Andererseits ist ihr fachliches, theoretisches und methodisches Selbstverständnis keineswegs hinreichend geklärt. Auch gibt es derzeit keinen Konsens in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie in der Pluralität teils traditioneller, teils neuer Fachwissenschaften betrieben werden sollen. Das vorliegende Handbuch plädiert für den zweiten Weg. Dazu sollen die trans- und interdisziplinären Fragestellungen, die sich bislang erst sehr vereinzelt bemerkbar machen, stärker vernetzt werden, um sie als kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven in den verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen."

Der konzeptionelle Ansatz des Handbuches ist wohl der einzig gangbare Weg bei der momentanen, von Disparität geprägten Situation der Kulturwissenschaften. Auch ist es wohl nur unter diesem Gesichtspunkt möglich, ein "Handbuch" zu schreiben, das letztlich für mehrere Fachgebiete gilt. Die Herausgeber haben die Inhalte des Handbuchs auf drei Bände verteilt. Die einzelnen Bände beschäftigen sich unter den Titeln "Grundlagen und Schlüsselbegriffe", "Paradigmen und Disziplinen" und "Themen und Tendenzen" mit den zentralen Fragestellungen der Kulturwissenschaften.

Der erste Band liefert, was der Titel verspricht: "Grundlagen und Schlüsselbegriffe". Unter den Stichworten "Erfahrung", "Sprache", "Handlung", "Geltung", "Identität" und "Geschichte" ermöglichen über dreißig Autoren interdisziplinäre Einblicke in eine wissenschaftliche Disziplin, die ihre Substanz vor allem aus der Integrierbarkeit der verschiedenen Einzelwissenschaften zieht und eben nicht unbedingt als separates "Spielgebiet" existieren muss. Genau diese Verknüpfungen sind in den einzelnen Beiträgen aufgenommen. Dadurch werden nicht nur die Verbindungen der Wissenschaftsdisziplinen deutlich, sondern auch die neuen Fragestellungen der Gegenwart an die Wissenschaften. Dies alles verweist darauf, welches Potenzial an Antworten in den Kulturwissenschaft verborgen liegt und wie sie durch eine intensivere Vernetzung von Teilbereichen der Einzelwissenschaften zu neuen Problemlösungen führen kann.

Der zweite Band "Paradigmen und Disziplinen" hat noch stärker als der erste Band die Vernetzung der Disziplinen im Auge und fokussiert die bevorzugten Paradigmen von "Weltdeutung": "Der zweite Band dieses Handbuchs der Kulturwissenschaften weist die Kulturwissenschaften als Instanzen der methodischen Erforschung und Reflexion derjenigen 'Kultur' aus, die im ersten Band entlang kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe abgesteckt worden ist."

Im dritten Band "Themen und Tendenzen" werden die momentan in den Kulturwissenschaften favorisierten Modelle zur Interpretation von Kultur, Gesellschaft und aller relevanten Themengebiete vorgestellt und diskutiert. Dass hier die eine oder andere Neuentdeckung nicht nur für den interessierten Laien zu machen ist und dass man spätestens mit diesem Buch einen erstklassigen Band in Händen hält, um sich als Leser auf den aktuellen Stand der Diskussion in den Kulturwissenschaften zu bringen, darauf soll hier explizit hingewiesen werden. Darüber hinaus liefert dieser dritte Band auch den Rahmen und das Material für eine erweiterte Diskussion über Kultur und Kulturbegriff - etwas, das für ein Handbuch keineswegs selbstverständlich ist. Und man findet hier das Material, das Hartmut Böhme in seinem für den zweiten Band geschriebenen Aufsatz "Die Kulturwissenschaften in der Kultur" beschreibt: "Methoden, Theorien und materialer Kenntnisstand der Kulturwissenschaften sind in den letzten Jahrzehnten derart komplex geworden, dass deren Rückkoppelung mit der allgemeinen Medienkultur zunehmend auf Übersetzungsprobleme stößt. Hinzu kommt, dass sie historisch viel zu oft auf Länderkulturen zugeschnittenen Kulturwissenschaften in einer globalisierten Welt gewissermaßen den Rahmen ihrer Anwendung verloren haben." Die Analyse dieser Problematik gehört dabei natürlich auch zu den Themen der drei Bände.

Das Handbuch wird in der sich schnell verändernden Szenerie der Kulturwissenschaft hoffentlich weitere Auflagen erleben. Es wirkt letztendlich auf kompetente und informative Art dem entgegen, was Hartmut Böhme über das problematische Verhältnis der Wissenschaften zu ihrem Gegenstand feststellt und was letztlich auch einer extrem ausdifferenzierten Kulturwissenschaft zum Problem werden kann: "Je analytischer und methodischer, theoretischer und reflektierter, quellenkritischer und differenzierter die Wissenschaften, umso toter ihr Gegenstand. Auch daran ist etwas wahr, auch wenn ungewiss ist, ob der Vorschlag von Nora, 'Gedächtnisorte' als Vermittlung zwischen den historischen Wissenschaften und der Öffentlichkeit einzurichten, dem Problem der relativen Kontaktlosigkeit zwischen beiden abhelfen kann." Aber was kann ein Handbuch mehr erreichen als aktuelle Diskussion und Tendenzen aufzunehmen und dabei gleichzeitig sich in diese Diskussion mit einer Vielzahl an Beiträgen, Modellen und Analysen einzubringen?

Titelbild

Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
538 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-10: 3476018814

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2. Paradigmen und Disziplinen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
694 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-10: 3476019586

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Titelbild

Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3. Themen und Tendenzen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2004.
551 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-10: 3476019594

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