Exil-Schrift einer Sammlerin

Else Lasker-Schülers "Hebräerland" in der kritischen Ausgabe der Werke und Briefe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren häufen sich die Arbeiten, in denen der Frage nachgegangen wird, mit welchen argumentativen Verfahren in den Schreibakten jüdischer Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts der irreduzibel interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert, ausgemessen und interpretiert wird. An deren Lebens-Texturen kann sichtbar gemacht werden, dass und wie deutschsprachige jüdische Autorinnen sich im Schreibraum der deutsch-jüdischen Interkulturalität positioniert, wie sie in ihren literarischen wie autobiographischen Texten den Diskurs über den kulturellen Schreibort der deutschsprachigen Juden formiert und an ihm teilgenommen haben. Anliegen dieser Arbeiten ist es, Text- und Lebensbeschreibung, soweit irgend möglich, in ihrer wechselseitigen Erhellung vorzuführen. So gesehen bilden Text und Kontext letztlich eine Einheit und verkörpern zusammen die jeweilige Autorin, die in diesem interkulturellen Feld weniger deshalb erscheint, weil sie jüdischer Herkunft ist oder weil sie jüdische Stoffe thematisiert, sondern um zu fragen, wie sie mit ihrem Schreiben auf je eigene und unterschiedliche Weise an der jüdischen Selbstbestimmung der Moderne partizipiert hat. Dabei erweist sich die jüdische Moderne immer schon als eine Vielfalt verschiedener Formen der Transformation und Transgression von jüdischen Traditionen, von Tradition überhaupt.

Die Lebens-Texturen deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen wie Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs, Esther Dischereit und Barbara Honigmann, um nur einige zu nennen, hypostasieren keine gesonderte Geschichte, sondern bilden gleichsam ein Mosaik aus Porträts, die am Leitfaden von Lebensläufen und literarischen wie autobiographischen Texten die mehr oder weniger expliziten Formationen und Perzeptionen des vielstimmigen Diskurses über das Judentum sichtbar machen. Deutsch-jüdische Literatur ist in dem hier präsentierten Sinne, wie Andreas Kilcher jüngst treffend bemerkt hat, eine historisch und politisch-geographisch "exterritorialisierte Literatur", eine Literatur zwischen Ereignissen, Nationen und Kulturen. Deshalb sollte statt begrifflicher Totalisierung der deutsch-jüdischen Literatur gerade umgekehrt deren irreduzible Polyphonie sichtbar gemacht, statt historiographischer Linearisierung Momentaufnahmen gegeben, statt geographisch-nationalliterarischer Territorialisierung die Atomisierung und "Exilierung" in je aktuelle Schreiborte vor Augen geführt werden. In den reichhaltigen Publikationen über Exilliteratur tauchen jüdische Autorinnen und ihre Texten jedoch selten auf, sie werden gewissermaßen ein zweites Mal exiliert - aus der Erinnerung, aus der Sprache. Exil - als gelebte und erlittene Realität ebenso wie als Metapher - kann daher als Lese- und Interpretationshilfe für die Werke deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen dienen. Heimatlosigkeit, Gewalt, Verfolgung und Angst, Armut, Entfremdung und Verlust der Sprache sind die Facetten des Exils.

Spuren des Exils erscheinen in dieser Konzentration vielleicht zum ersten Mal in den Texten Else Lasker-Schülers und gleichsam wie auf einer doppelten Matrix: einmal als textuelle Erfahrung in der Lyrik, dann in der Prosa und anschließend als reale Tatsachen in ihrem Leben, als ob eine Wucherung die schützende Hautschicht durchbrochen hätte. Die daraus resultierende sichtbare Unsichtbarkeit schlägt sich in den Texten Lasker-Schülers insofern nieder, als darin für Repräsentationen des weiblichen jüdischen Körpers ein Oszillieren zwischen An- und Abwesenheit, Sicht- und Unsichtbarkeit, Auslöschung und Verkörperung charakteristisch ist, wobei sich jüdische Autorinnen generell noch mehr als jüdische Autoren mit einer komplexer strukturierten Unsichtbarkeit und Unsichtbarmachung in ihrem Schreiben konfrontiert sehen. In vielen Texten deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen wird der eigene Körper zum Schmerzkörper, der Spuren aufzeigt. Über den Körper wird die Anteilnahme an einem Kollektivgedächtnis und dessen Diskursen erhofft. Der Körper wird zum Eintragenden (zum Schrift-Produzenten) und zugleich zum Träger von Geschichte. Geschichte materialisiert sich am weiblichen Körper, und weiblicher Körper und Geschichte werden wiederum durch eine gewollte Schmerzerfahrung fühlbar gemacht.

In exakt diese Richtung geht Marina Krugs grammatologische und rhetorische Analyse der Gedichte "Esther" sowie "David und Jonathan" aus Lasker-Schülers Zyklus "Hebräische Balladen". Die Verfasserin unternimmt den Versuch, im Prozess einer Selbstanalyse des Lesens den Gegensatz von poetischer Sprache und wissenschaftlichem Diskurs zu dekonstruieren. Es gelingt Krug anschaulich zu machen, dass der intertextuelle Verweisungszusammenhang, der sich in Lasker-Schülers Texten über Schrift-Spuren herstellt, auf der Ebene kultureller und religiöser Traditionen sowie jüdischer Texttraditionen realisiert wird. Dabei nimmt die Lektüre der Gedichte Bezug auf semiotische, semiologische, philosophische, linguistische, psychologische, psychoanalytische, anthropologische und literaturwissenschaftliche Positionen. Im Prozess der Lektüre wird die Figur als "eine aus Verbal-Körpern der phonetischen Schrift bestehende signifikante Spur" herausgearbeitet und darüber hinaus freigelegt, wie "diese Verbal-Körper eine intertextuelle Vernetzung zwischen den Signifikanten der Bibel und den Signifikanten der Gedichte sowie zwischen Signifikanten beider Gedichte" tragen. Die im Rahmen der Studie untersuchten Gedichte "David und Jonathan" und "Esther" werden als Dialoge überkreuzender Schreibweisen - neben der Schreibweise Lasker-Schülers findet auch die Schreibweise der Adressaten (von Briefen) und des Kontextes Beachtung - dekonstruktiv gelesen: "Die grammatische Struktur der poetischen Texte stellt sich dynamisch in Beziehung zu den narrativen Strukturen des biblischen 'Buches Esther' und der 'Bücher Samuel' her. Das poetische Wort wird zu dem Punkt, an dem Textebenen überlappen".

"Ich habe mir nie ein System gemacht, wie es kluge Frauen tun, nie eine Weltanschauung befestigt, wie es noch klügere Männer tun, nicht eine Arche habe ich mir gezimmert. Ich bin ungebunden, überall liegt ein Wort von mir, von überall kam ein Wort von mir [...]". Else Lasker-Schüler entwirft hier ein Bild von der weit gestreuten Wirkung ihrer poetischen Sprache - ähnlich wie Gottes Worte überall gesprochen und von überall den Menschen zugesprochen werden, wie Gottes Blick überall ausgestreut wird: Das Sammeln ihrer Figuren, der Dichter als Sammler, ist nicht nur den Texten Lasker-Schülers, sondern auch der eigenen Lebenstextur eingeschrieben. In diesem Sinne fasste sie ihren Lebenslauf für eine Lyrikanthologie kurz und prägnant zusammen: "Ich bin in Ägypten (Theben) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande und seitdem vegetiere ich". Flucht und Verkleidung, exotisches Rollenspiel und poetische Legendenbildung bestimmen Lasker-Schülers Vorstellung von einer antibürgerlichen Literatur, die die Grenzen von Dichtung und Leben sprengen sollte. Die Herkunft aus jüdisch-bildungsbürgerlichem, stark akkulturiertem Milieu und wohl noch mehr die erste, 1894 geschlossene Ehe mit dem ganz der aufklärerischen Akkulturationsidee verpflichteten Arzt Berthold Lasker gaben eine für den oberen Mittelstand unter den deutschen Juden typische Biographie vor. Bemerkenswert ist jedoch, dass Lasker-Schüler zunächst aus dem bürgerlichen und später auch aus dem jüdischen Selbstverständnis dieser Gruppe ausbrach. Dieser Ausbruch in beide Richtungen wurde wesentlich dadurch gefördert, dass sie mit ihrem Mann nach Berlin gezogen war, wo sie zunächst Anschluss an die literarische und künstlerische Boheme fand und 1903, noch im Jahr ihrer Scheidung, den viel jüngeren Musiker und Dichter Georg Lewin heiratete.

Obwohl eine Annäherung Lasker-Schülers an zionistisches Denken erst für die 30er Jahre zu konstatieren ist, so hatte der erste Kontakt mit dem Zionismus in Berlin erheblichen Einfluss auf ihr weiteres Leben und Schreiben. Einerseits entstanden Bekanntschaften mit Persönlichkeiten wie Hugo Bergmann, Martin Buber oder Shmuel Josef Agnon, die in den letzten Lebensjahren des Exils wieder bedeutungsvoll werden sollten, andererseits wurde Lasker-Schüler hier ihres Judentums auch als einer Zugehörigkeit zu einem Volk bewusst, während es innerhalb des Akkulturationsdiskurses üblich war, das Judentum strikt als Religionszugehörigkeit zu definieren. Gut zu erkennen ist Else Lasker-Schülers Aufgreifen dessen, was Buber als "jüdische Renaissance" bzw. "Kulturzionismus" beschreibt, an den Gedichtsammlungen dieser Zeit, vor allem an dem Zyklus "Hebräische Balladen" (1913). Der verbreiteten optimistischen Metapher des jüdischen Bürgertums von der deutsch-jüdischen Symbiose begegnet Lasker-Schüler mit dem radikal anderen Konzept einer "semitischen" Durchdringung des Deutschen. Obwohl sie noch im Erscheinungsjahr des Dramas "Arthur Aronymus" (1932) mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet wurde, musste die geplante Uraufführung am Darmstädter Theater infolge der nationalsozialistischen Umtriebe bereits abgesagt werden. Nachdem Lasker-Schüler in Berlin auf offener Straße misshandelt worden war, verließ sie Deutschland fluchtartig in Richtung Schweiz, wo sie von der Sozialhilfe der israelitischen Gemeinde und wiederholten Zuwendungen von Schweizer Juden lebte. Während dieser Zeit reiste sie dreimal nach Palästina.

Das entscheidende literarische Ereignis dieser Reisen war "Das Hebräerland", ein Text, dessen Vielschichtigkeit an Schilderung, Introspektion, politischen und kulturellen Betrachtungen noch längst nicht hinreichend erfasst ist und der wohl nicht ganz zu Unrecht als das erzählerische Hauptwerk Lasker-Schülers gilt. Im Frühjahr 1934 reiste sie von Zürich aus über Genua und Alexandria zum ersten Mal nach Palästina, wo sie Anfang April eintraf und bis Ende Mai blieb. Auffällig ist, dass Lasker-Schüler auch in Palästina ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen besaß und mit etlichen der dortigen Intellektuellen, Künstlern wie Publizisten, Kontakt pflegte. Die gleichwohl evidente Spannung zwischen dem Exil-Ort Zürich und dem U-Topos Jerusalem prägt dieses poetische Reisebild, in dem sich die Dichterin mit sensibler Eigenwilligkeit der Vielschichtigkeit des "Landes Israel", seiner Geschichte, seinen Topographien, Religionen, Kulturen und Menschen nähert. Unmittelbar nach der Rückkehr in die Schweiz dürfte Lasker-Schüler sich entschieden haben, die während ihres Aufenthaltes gewonnenen Eindrücke literarisch zu gestalten. Erst drei Jahre später jedoch erschien "Das Hebräerland" in Zürich bei Emil Oprecht mit einem Frontispiz und acht Zeichnungen Lasker-Schülers. Die im Nachlass erhaltenen Typoskripte und Druckfahnen dokumentieren detailliert die Entstehungsgeschichte des Textes. Zu keinem anderen Werk der Dichterin sind Materialien in einem vergleichbaren Umfang erhalten.

Aus diesem Grund haben sich die Herausgeber der kritischen Ausgabe der Werke entschieden, von der Chronologie der Prosaveröffentlichungen abzusehen und den Text in einem eigenen Band der Ausgabe erscheinen zu lassen - eine gut nachvollziehbare und glückliche Lösung, bietet die von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky hervorragend edierte und kommentierte Ausgabe doch neben dem Text, den Zeichnungen, den Sacherläuterungen und einem hilfreichen Glossar, in dem Begriffe, Namen und Wendungen verzeichnet und erläutert sind, die von der Dichterin häufig verwendet werden, auch die hier erstmalig aus dem Nachlass veröffentlichten sechzehn Entwürfe zum "Hebräerland", die - wie kein anderes Werk der deutsch-jüdischen Dichterin - Einblicke in ihre Text-Werkstatt gestatten. "Das Hebräerland", soviel wird in jedem Fall erkennbar, dürfte wesentlich in einem nicht-linearen Schreibprozess entstanden sein, dem inhaltlich eine nicht-chronologische Schilderung der Palästinareise Else Lasker-Schülers entspricht, da der Text zunächst mit einer 'beliebig' anmutenden Momentaufnahme einsetzt und erst nach etwa einem Drittel mit der Schilderung der Reise von der Schweiz nach Palästina beginnt. Auch hier fasziniert vor allem der Umstand, dass Else Lasker-Schüler den Vorgang ihrer literarischen Produktion und ihrer Exil-Erfahrung vor allem im Bild des Sammelns reflektiert, das etwa zeitgleich - ebenfalls als autopoetisches Bild - auch von Walter Benjamin verwendet wird. Benjamins "Passagenwerk" etwa ist Sammlung in höchstem Maße: die Welt als Dar- und Ausstellung, als enzyklopädisch-barocke Ausbreitung von Zitaten und Exzerpten, Zetteltraum und Totenbeschwörung, wie unter Glas: von noch nicht absehbarem Einfluss auf die literarische Moderne. Ein Hauch dieser Modernität inmitten der Tradition umweht auch "Das Hebräerland" von Else Lasker-Schüler.

Titelbild

Marina Krug: Die Figur als signifikante Spur. Eine dekonstruktive Lektüre zu den Gedichten "Esther" sowie "David und Jonathan" aus dem Zyklus "Hebräische Balladen" von Else Lasker-Schüler.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
275 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3631370652

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Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 5. Prosa. Das Hebräerland.
Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky.
Jüdischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
580 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3633541756

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