Don Juan als Frauenretter

Zu Peter Handkes neuem Roman "Don Juan (von ihm selbst erzählt)"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen. In mir hat er den eines schönen Tages gefunden. Seine Geschichte erzählte er mir nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person. So kommt sie mir jetzt jedenfalls in den Sinn." So beginnt Peter Handkes Reformulierung der Don Giovanni-Tradition, die er in seinem neuen Roman "Don Juan (von ihm selbst erzählt) durchführt. Handke löst mit diesem märchenhaften Anfang wie aus Tausendundeiner Nacht schon zu Beginn alle klaren Bezugspunkte auf, indem er den Erzählstrom auf zweifache Weise bricht. Erlebnisse werden als Erinnerungen in der dritten Person präsentiert, die wiederum den Leser indirekt als Schilderungen aus dem Gedächtnis des Erzählers erreichen. Die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung verschwimmt.

Der Ich-Erzähler, der sich über mangelnde Besuche der Nachbarschaft beklagt, scheint sehnsüchtig auf einen Gast gewartet zu haben. Das erklärt, weshalb er Don Juan sofort erkennt und Vertrauen zu ihm entwickelt: "Ich wusste, auch ohne dass er sich vorzustellen brauchte - wozu er ohnehin nicht imstand gewesen wäre, sein Atem ein einziges, sonderbares Singen -: Ich hatte Don Juan vor mir; und nicht 'einen' Don Juan, sondern, ihn, Don Juan." Dieses intuitive Erkennen geht einher mit einem störungsfreien Verstehen: "Ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache mich Don Juan an jenem Maiennachmittag [...] ansprach. Wie auch immer: Ich verstand ihn, so oder so." Im Ich-Erzähler hat Don Juan den geeigneten Zuhörer gefunden. Dieser lebt nämlich schon lange Jahre zurückgezogen in einem ehemaligen Gasthof in der Nähe des verfallenen Klosters Port-Royal-des-Champs. Das Haus ist umgeben von einem großen, verwilderten Garten und einer hohen Mauer, welche die nötige Stille und den hinreichenden Schutz gewähren, um ungestört erzählen zu können. Bevor der sich auf der Flucht befindende Don Juan in diese Ruhe einbricht, wird die Haltung des Ich-Erzählers detailliert entfaltet. Der Erzähler verbringt seine Zeit mit zwei Tätigkeiten, die bei Peter Greenaway einander diametral gegenüberstanden, er ist Koch und Leser, - dem leiblichen Wohl entspricht also das des Geistes. Jedoch macht sich in seinem Leben eine zunehmende Passivität breit, die ihn vom ausgefeilten Kochen längst weggeführt hat. Handke beschreibt den Ich-Erzähler als eine asketische Rückzugsfigur, die den Kontakt zu den Nachbarn, Ausflüge in die Umgebung sowie die Pflege des Hauses und des Gartens längst aufgegeben hat. Don Juan dringt in die Welt des Erzählers gerade zu dem Zeitpunkt ein, als dieser den Entschluss fällt, auch seine letzte Beschäftigung aufzugeben: das Lesen. "Wilder noch war mein Morgengedanke: 'Genug vom Lesen!' Dabei war ich mein Lebtag lang ein Leser gewesen. Koch und Leser. Was für ein Koch. Was für ein Leser."

Die Ankunft Don Juans befreit den Erzähler aus dieser Lethargie und lässt ihn mit der Zeit sein früheres Leben in Vergessenheit geraten. "Don Juans Kommen an jenem Maiennachmittag ersetzte mir mein Lesen. Es war mehr als ein bloßer Ersatz." Don Juan selbst, wie er sich laut Beschreibung des Ich-Erzählers zeigt, ist eine schillernde und in sich ambivalente Figur, die auf den ersten Blick mit den Vorstellungen, die man sich gemeinhin von Don Juan als Verführer des weiblichen Geschlechts macht, wenig gemein hat. Und doch trägt er gewisse übermenschliche Züge. Der Erzähler, der sich nach langer Zeit wieder einmal dazu entschließt, zu kochen, um den hungrigen Ankömmling kulinarisch zu versorgen, wird von Don Juan mit Zutaten beschenkt, die dieser während der hastigen Flucht ganz nebenbei aufgelesen hat: "Don Juan war fluchtgewohnt und fluchtgeübt. Im Fliehen fand er sein Element oder in eines seiner Elemente. [...] In Furcht und Schrecken sah er besser, klarer, räumlicher. Das räumliche Sehen, kam es nicht davon, dass er sich im Davonrennen immer wieder um sich selber drehte und mittendrin auch rückwärts lief? Und er hatte dabei sogar wie in Muße seine Fundsachen kochfertig gemacht - sie zurechtgeschält, gewaschen, geputzt. Sein Flüchten diente Don Juan zu einer Art Zeitgewinn." Dem Leser vermag sich das Bild Don Juans nicht zu einem kohärenten Eindruck zusammenzusetzen: Ähnlich wie in den Erzählungen Kafkas wird eine Figur geschildert, die im Laufe der Darstellung immer mehr inkongruente Züge erhält. Auch hier wird zuerst à la Odradek ein Don Juan auf der Flucht geschildert, der sich mit letzter Kraft und völlig außer Atem über die Mauer auf das Sicherheit gewährende Gartengelände rettet. Die Erschöpfung resultiert aus einer kilometerlangen Querfeldeinjagd, wobei Don Juan von einem Pärchen auf einem Motorrad, das er bei einem Stelldichein gestört hatte, äußerst hartnäckig verfolgt wurde. Dann wird der Leser mit den unglaublichen Tatsachen konfrontiert, dass Don Juan nebenbei auf der Flucht streckenweise rückwärts gelaufen ist, sich im Lauf um sich selbst gedreht hat, ganz seltene Pilze und andere Kochzutaten gesammelt und zu allem Erstaunen diese auch schon gewaschen und geschält hat. Dies alles als Beleg für einen Zeitgewinn, wobei insbesondere Don Juans Verhältnis zur Zeit noch weiterer Erläuterungen bedarf.

Denn Don Juan vermittelt den Eindruck einer Mischung aus Unruhe und Gelassenheit, wobei seine Unruhe zu Anfang und zu Ende des Romans den Rahmen bildet für eine lange Zeit der tiefen Ruhe, die es ihm gewährt, seine Erlebnisse der letzten Woche zu erzählen. Diese heitere Ruhe setzt auch sofort ein, sobald sich Don Juan nach seiner Flucht im Garten des Erzählers niedergelassen hat. Auf geradezu urtümliche Weise äußert sich seine Friedfertigkeit in dem Zutrauen, das die Tiere ihm erweisen: "Keinmal hatte diese fremde Katze bei ihrem täglichen Vorbeischauen, wie ich es mit der Zeit doch fast bitter erwartete und einfordern wollte, mich gehörig begrüßt. Ich war für sie nicht vorhanden. An Don Juan dagegen rieb sie sich jetzt und drängte sich ihm fortwährend zwischen die Beine, von vorn, von hinten, undsoweiter. Ebenso umflatterten den Neuankömmling da unversehens Heerscharen verschiedenartiger und -farbiger Schmetterlinge, ein einziges, miniaturhaftes Fähnchen-, Wimpel- und Standartenschwenken; und nicht wenige der Falter hockten auch still auf ihm, auf den Handknöcheln vor allem, auf den Brauen, auf den Ohrmuscheln, nippend - [...]. Und die Bisamratte, die in dem planvoll verrottenden Gartengerümpel hauste, kein scheueres Wesen ist mir je begegnet, sah ich mit sorglos hängenden Barthaaren augenblicks an seinen Zehen schnuppern." Handke schildert hier einen paradiesischen Zustand, in dem der Mensch und die Tiere einander noch vertraut sind. Don Juan umgibt eine geradezu 'franziskanische' Aura. Diese eigentümlichen Ruhe findet ihren symbolischen Ausdruck in den schwebenden Pappelsamenflocken, die zugleich träge und leicht durch die Mailuft schweben: "Der sporadische Blütenregen kreuzte sich mit den beständigen, tagelang, die ganze Woche lang nicht nur hier durch den Garten und die Port-Royal-Überreste, sondern das gesamte verzweigte Bachtälersystem der westlichen Ile de France fast dahinvagabundierenden Pappelsamenflocken. Alles Schwere, Lastende, Steinige, Festverfugte, ins Erdreich Gerammte schienen diese luftigen und lichtdurchschienenen Flugscharen zu lockern und für den Moment ihres Vorbeistreifens gewichtlos oder zumindest weniger gewichtig zu machen."

Diese Atmosphäre bildet den Hintergrund, vor dem Don Juan anfängt, von seinen Erlebnissen mit den Frauen zu erzählen. Jeden Tag der vergangenen Woche war er in einem anderen Land, nun berichtet er von den Geschehnissen genau in diesem Rhythmus mit der Verzögerung von genau einer Woche Abstand: "Nicht die Geschichte seines ganzen Lebens tischte er mir auf, auch nicht die etwa des vergangenen Jahres, sondern einzig die der jüngstvergangenen sieben Tage, und an den folgenden Tagen so Tag für Tag. An diesem Montag zum Beispiel rückte ihm der Montag gerade vor einer Woche in das Gedächtnis, und zwar so unvergleichlich scharf und dabei so selbstverständlich und sachte, wie das bei dem vergangenen Dienstag oder, sagen wir, dem Montag vor einem Monat kaum je der Fall sein konnte, und so weiter im Zurückdenken. 'Am Montag vor einer Woche' - und schon kamen die Bilder daher, die Bilder des ganzen Tages, ungerufen - erwachten die Bilder des Tags vor gerade sieben Tagen, zeigten sich, wie sie sich vor einer Woche nicht gezeigt hatten, nahmen ihren Platz ein, reihten sich aneinander, still, ohne das Tamtam der eigens ausholenden, sonor werdenden Erinnerung, und wenn in einem Rhythmus, dann in dem eines solch stillen Aufeinanderfolgens ohne ein Ineinandergreifen, Kleines und Großes gleichwertig, nichts Großes mehr, aber auch nichts mehr Kleines." Man kann sagen, dass Don Juan das als Negativ gespeicherte Erinnerungsmaterial mit einwöchiger Verzögerung belichtet, so dass es von ihm selbst genauso unmittelbar erlebt wird wie von seinem Zuhörer. Seine Geschichten über die Begegnungen mit den Frauen in den unterschiedlichsten Weltgegenden (Georgien, Syrien, Niederlande u. a.) scheinen erst im Erzählen Wirklichkeit zu gewinnen: "Indem bei Don Juan die sieben Stationen seiner Woche zu Wort kamen, realisierte, und praktizierte, er sie." Der Leser gewinnt den Eindruck, dass die Schilderung des Erlebten als ein Prozess der Selbstvergewisserung verstanden werden kann: "Während dieser sieben Tage, die Don Juan in meinem Garten saß und erzählte, mir und zugleich auch sich selber, fragte er mich keinmal, wer ich sei, woher ich käme, wie es um mich stehe." Im weiteren Verlauf erfährt man, dass es sich bei diesem Erzählen um eine Art psychologischer "Trauerarbeit" handelt. Don Juan ist über den Verlust seines Kindes in tiefe Trauer versunken. Diese Untröstlichkeit treibt ihn zum ewigen Aufbruch von einem Ort zum nächsten, ohne dass ein konkretes Ziel seine Reisen lenken würde: "Nichts als seine Trauer und Untröstlichkeit trieben ihn. Das Trauern durch die Welt tragen und es auf sie, die Welt, übertragen. Don Juan lebte seiner Trauer, als einer Kraft. Sie war mehr als er und überstieg ihn. Von ihr gleichsam - und nicht bloß gleichsam - gewappnet, wusste er sich zwar keineswegs unsterblich, aber unverwundbar. Die Trauer war etwas, das ihn unbändig machte, und im Gegenzug (oder eher Zug um Zug) vollkommen durchlässig und aufnahmefähig für was auch geschah, und zugleich bei Bedarf unsichtbar. Seine Trauer diente ihm als seine Wegzehrung. Sie nährte ihn in jeder Hinsicht." Neben dieser Getriebenheit verursacht die Traurigkeit, die seinen gesamten Habitus durchzieht, gleichsam die Attraktivität, die Don Juan auf Frauen ausübt. Denn dieser Trauer wohnt eine seltsame Kraft inne, die Don Juan trägt, zugleich aber auch bewirkt, dass Don Juan eine Energie ausstrahlt, die sich in seinem Blick und Wesen zeigt, und auf Frauen unwiderstehlich wirkt.

Im Weiteren werden Don Juans Etappen der letzten Woche erzählt, wobei er auf seinen Reisen durch verschiedene Länder immer auf einheimische Frauen stößt, mit denen er auf subtile Weise Affären anfängt. Auch im Verhältnis zu den Frauen scheint Don Juan ein Getriebener zu sein. Schicksalhaft ist er in jener Woche in eine "Frauenzeit" verstrickt, die bewirkt, dass er überall, wo er hinkommt, auf außergewöhnliche Frauen stößt, denen er sich verpflichtet weiß: "Die Entscheidung war jedoch sofort gefallen. Es gab kein Zurück mehr. Ein Ausweichen kam für Don Juan nicht in Frage, er hatte sich der fremden Frau da zu stellen, es war seine Pflicht. [...] Die Tatsache Frau würde wieder, wie früher in einer längst ungültigen Vergangenheit, die tausend täglichen Winzigkeiten, die umso herzhafteren, verdrängen und ihnen keinen Lebensraum mehr lassen. Die Frau als Fluch? als Dürrefluch?" Die Kraft, die Don Juan und die Frauen zusammenführt, ist aber nicht der Charme des unverbesserlichen Verführers, sondern eine elementarere, "prästabilierte Harmonie", welche die jeweilige Frau und ihn in eine Gleichzeitigkeit versetzt, die sie ihrem Umfeld enthebt: "Was aber am unmittelbarsten wirkte, während der ganzen Woche, das war Don Juans sofort erkennbare Gleichzeitigkeit mit ihr, der anderen, die sich so auf den ersten Blick nicht mehr als die andere erlebte, gleichwie auch ihn, den fremden Mann, nicht mehr als den anderen. Wenn die Frau einer Sache vertraute, so dieser Gleichzeitigkeit. Es war darauf Verlass: im Verlauf der weiteren Begebenheiten würden sie zwei beständig simultan sein oder handeln. Ihre Gebärden und Wendungen wären ebenso die seinigen. Sie und er hätten einen vollkommen übereinstimmenden Zeitsinn. In Don Juan - käme ihr ein Name in den Sinn, dann keinesfalls dieser - traf die Frau auf ihren Zeitgenossen."

Handke führt eine Dekonstruktion der Don Giovanni-Figur durch. Anstelle des ewigen Frauenhelden wird ein Don Juan präsentiert, der nicht aus Abenteuerlust im herkömmlichen Sinne, sondern aus Trauer getrieben wird. Zugleich handelt es sich bei ihm nicht um einen Verführer, sondern es ergreift eine Macht von ihm Besitz, der weder er, noch die Frauen sich entziehen können: "Don Juan war kein Verführer. Er hatte noch nie eine Frau verführt. Zwar waren ihm welche begegnet, die ihm das dann nachgesagt hatten. Aber diese Frauen wussten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand, und hatten damit eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Und umgekehrt war Don Juan auch noch keinmal von einer Frau verführt worden. [...] Er hatte eine Macht. Nur war seine Macht eine andere." Don Juan verfügt über eine abstraktere Macht, die sich in seinem gesamten Habitus zur Geltung bringt. Sie führt zu einem blinden Einverständnis zwischen ihm und den Frauen. Was aber genau zwischen Don Juan und seinen Partnerinnen vorgeht, das bleibt unerwähnt. Der Erzähler macht von Anfang an deutlich, dass es nicht um die Schilderung frivoler Affären geht: "Und seine Geschichte erzählte sich ohne irgendwelche pikanten Einzelheiten. Diese wurden nicht etwa vermieden, sondern waren schon von Anfang an aus seinem Blick. Es verstand sich von selbst, dass von ihnen keine Rede sein könnte. 'Pikante Einzelheiten' waren nicht zu erzählen. Ja, es gab sie gar nicht." Don Juan gebärdet sich nicht als hedonistischer Casanova, sondern er verfolgt eine ernsthaftere Mission: Er versucht die Frauen zu retten: "Don Juan, betrachteten, ja, betrachteten jene Frauen als ihren Herrn, den alleinigen, auf immer (ohne 'Gebieter'). Und als einen solchen beanspruchten sie ihn, fast ('fast') als eine Art Retter. Retter wovor? Einfach Retter. Retten wovor? Einfach retten. Oder einfach: sie, die Frauen, wegbringen, von hier, hier und hier." Wie sich schon in seinem außergewöhnlich friedvoll-vertraulichen Verhältnis zu den scheuesten Tieren ankündigte, kommt Don Juan eine messianische Kraft zu, die er zur Rettung der Frauen verwenden muss. Sein Diener, der sich ihm von seiner ersten Etappe an anschließt, verfolgt auf unbewusste Weise einen ähnlichen Plan, indem er von den hässlichsten Frauen der jeweiligen Stadt auf magisch-erotische Weise angezogen wird. Dieses seltsame Gespann, ein wenig wie Don Quixote und sein Gefährte, reist innerhalb der letzten Woche von Land zu Land, um seine Mission zu erfüllen. Nachdem Don Juan nun mit einwöchiger Verzögerung seine Erzählung über die Erlebnisse mit den Frauen aus aller Welt abgeschlossen hat, überkommt ihn wieder eine seltsame Unruhe, die sich in einem Zählzwang ausdrückt. Es zerfällt Don Juan die Zeit in Bruchstücke, und so überfällt ihn eine "Zeitnot", die ihn aus dem Tritt bringt.

"Die sieben Tage im Garten vorbei - und allmählich verlor sich der Eindruck. Don Juan erschien zunehmend ungeschickt. Er griff daneben, ließ fallen, bekam zwei linke Hände. Dazu schaute er ständig auf die Uhr, fügte jeder kleinen Begebenheit das Datum des Tages hinzu. [...] Statt des Zusammenhangs, der das Zeitgefühl ausmachte, nur noch Einzelheiten, nein, Vereinzelungen. Statt langsam erschien er mir klobig und schwerfällig, eben ungeschickt, oder er beeilte sich, ebenso ungeschickt. Don Juan war in seine Art Zeitnot geraten. Und jeden Augenblick fragte er mich nach der Uhrzeit." Don Juan ist ein Wesen, das ganz aus seiner Zeit heraus lebt. Die "Frauenzeit" und auch noch die Woche im Anschluss, als er seine Erlebnisse erzählte, wird von dieser Übereinstimmung zwischen Don Juan und seinem Zeitgefühl getragen. Jetzt zerfällt aber dieses blinde Vertrauen in die Eigenzeit zu Augenblicken, die Don Juans Bewegungen und Taten zersetzen und dadurch ebenfalls sein Verhältnis zur Welt zerbrechen lassen. Erst zum Schluss des Romans hat man als Leser den Eindruck, dass Don Juan sein "Taktgefühl" zurückgewinnt. Die Frauen, die Don Juan innerhalb der Woche getroffen hat, haben ihn aufgespürt und umringen nun das Gasthaus. Mit dem Bekenntnis "Es ist Zeit!" tritt Don Juan aus dem Schutz der umfriedenden Mauer hinaus zu den Frauen: "Was weiter geschah, lässt sich nicht zuende erzählen, weder von Don Juan selbst noch von mir, noch von sonst wem. Don Juan Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans."

Peter Handke schreibt sich in die Don Juan-Tradition ein, um in subtiler Weise den Mythos "Don Juan" als Frauenheld und Casanova zu konterkarieren. Auf kleinstem Raum gelingt es ihm, die diversen Motive und Bilder, die generell mit Don Juan in Verbindung gebracht werden, durch andere zu ersetzen, die er auf immer abstraktere Prinzipien zurückführt, bis am Schluss der Eindruck entsteht, es handele sich bei Don Juan um ein Zeitwesen, eine Monade im Leibniz'schen Sinn, die entweder mit ihrem Umfeld harmoniert oder aber aus dem Takt gerät und sich dementsprechend plump und taktlos verhält. Damit entwickelt Handke ein neues Bild von Don Juan, das er als das des wahren Don Juan gegen seine Vorgänger verteidigt: "Während der sieben Tage bei mir im Garten waren noch und noch andere Don Juans aufgetreten, im Nachtprogramm des Fernsehens, in der Oper, im Theater, und ebenso in der sogenannten primären Realität, in Fleisch und Blut. Doch durch das, was mein Don Juan mir von sich selber erzählte, habe ich erfahren: Das waren allesamt die falschen Don Juans - auch der von Molière; auch der von Mozart."

Titelbild

Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst).
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
160 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518416367

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