Mit Traditionsgepäck die Zukunft bestehen

Manfred Fuhrmann plädiert für Bildung im europäischen Kulturraum

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1814 kam den Lesern der in Leipzig erscheinenden "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" der "merkwürdige Brief" eines jungen Mannes unter die Augen, dessen "schöne Seele" und "herrliche Bildung" unbedingt mitteilenswert seien. "Nicht verhehlen kann ich", so der Kapellmeister Johannes Kreisler in seinen einleitenden Worten, "daß der seltene, junge Mann seiner Geburt und ursprünglichen Profession nach eigentlich - ein Affe ist, der im Hause des Kommerzienrats R. sprechen, lesen, schreiben, musizieren u. s. w. lernte; kurz, es in der Kultur so weit brachte, daß er seiner Kunst und Wissenschaft, so wie der Anmut seiner Sitten wegen, sich eine Menge Freunde erwarb, und in allen geistreichen Zirkeln gern gesehen wird."

Erst durch die Wiederveröffentlichung der Erzählung im vierten und letzten Band seiner Sammlung "Fantasiestücke in Callot's Manier" offenbarte E. T. A. Hoffmann den Lesern seine Autorschaft, und noch heute zeugt diese in nur zwei Tagen niedergeschriebene Bildungsgroteske vom "herrlichen Ingenio" ihres Autors, der Milo, den äffischen Helden, "in alle Tiefen der Wissenschaft und Kunst hineinführt" und ihn zum Virtuosen des "Fortepianospiels" heranbildet: Dank seiner "länglichen Finger" und seiner "enormen Fertigkeit", dieselben "zu bewegen und zu rühren", könne Milo mühelos "drei, vier Oktaven herauf und herabspringe[n], wie ehemals von einem Baum zum andern".

Betrachtet man die heutige Bildungsmisere, so gewinnt man bisweilen den Eindruck, daß wir uns auf dem entgegengesetzten Pfad befinden, in Richtung des "ehemaligen rohen Zustandes", wie es bei E. T. A. Hoffmann heißt, als noch "Sittenlosigkeit und Barbarei" herrschten und wir "noch in den weiten, unkultivierten Wäldern auf den Bäumen" hockten.

Vor fünf Jahren untersuchte Manfred Fuhrmann, der Konstanzer Emeritus für Latinistik, den europäischen Bildungskanon, an dem sich die bürgerliche Welt von der Aufklärung bis zur Zeit der Weltkriege orientiert hat. Er ging dabei von der These aus, dass die Neuzeit für die "hinlänglich scharf begrenzte Schicht" des Bürgertums einen verbindlichen Kanon der Bildung "gekannt und anerkannt" habe, von dessen "unangefochtener Geltung" man nicht mehr ausgehen könne. Nur ein halbes Dezennium später, in der erweiterten Neuausgabe seines Buches "Der europäische Bildungskanon", zieht Fuhrmann eine noch deutlichere Bilanz: "Inzwischen ist deutlich geworden, daß die bürgerliche Bildung in der Öffentlichkeit keine Achtung mehr genießt. [...] Man ist kein düsterer Untergangsprophet, wenn man das Ende der bürgerlichen Bildung kommen sieht; man registriert eine Tatsache, wenn man erklärt, ihr Ende sei schon da."

Das Ende der Bildung kam mit dem Ende des Bürgertums. Zwar erlebte das zarte Pflänzchen Kultur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch eine "Scheinblüte", insofern man sich nach der Katastrophe des 'Dritten Reiches' um eine Rückbesinnung auf humanistische Werte und Ideale bemühte, doch richtete sich die "Wohlstandsmentalität" der Bundesbürger bald auf andere Ziele und Interessen - und in der DDR hatte ein an der Antike geschultes Bildungsideal ohnehin keinen gesellschaftlichen Ort. Auf der Basis von Gerhard Schulzes Kultursoziologie ("Die Erlebnisgesellschaft", 1992) rekonstruiert Fuhrmann das Lebensmuster der Hochkultur, in dem man noch die Bestandteile der bürgerlichen Bildung, die selbst "den Untergang des humanistischen Gymnasiums zu überdauern vermochten": die geistigen Genüsse, die in "charakteristischer Weise" - wie aufmerksames Betrachten, kontemplatives Verhalten, konzentriertes Zuhören - aufgenommen werden. In der "Erlebnisgesellschaft" freilich hat auch dieser Modus hochkultureller Milieustiftung an Distinktion und Bindungskraft verloren. Das "Niveaumilieu", bislang Hort bürgerlicher Institutionen wie Konzert und Theater, Volkshochschule und Museum, Feuilleton und Bildungsfernsehen, hat die sozialen und kulturellen Voraussetzungen seiner Existenz verloren, weil das "verstehende Genießen", das mehr erfaßt als "die Oberfläche", im "Erlebnisrepertoire des heutigen Freizeitbetriebes" nicht mehr vorgesehen ist.

Das Kontinuum der europäischen Bildung beruhte auf der gemeinsamen sprachlichen Grundlage des Lateinischen, auf dem christlichen Glauben und auf dem "durch die humanistische Gelehrsamkeit vermittelten Wissen". Keine der drei Säulen ist heute noch tragfähig genug, um kulturelle Sinnstiftung zu ermöglichen, Normen und Werte zu vermitteln oder bleibende Orientierungsmarken zu setzen - "der Vielfalt heutiger Bildungsmöglichkeiten fehlt das einigende Band". Die Schule hat daraus ihre Lehren gezogen und ihren Bildungsauftrag zurückgegeben - sie vermittelt nurmehr Fertigkeiten und Basiskompetenzen zu "reine[n] Verwertungsgesichtspunkte[n]", wie der vormalige niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel formulierte, dabei aber vorgab, es nicht so zu meinen: "Bildung hatte nie einen Eigenwert, sondern immer eine dienende Funktion gegenüber der Gesellschaft".

Am Beispiel des "PISA-Schocks" von 2001 demonstriert Fuhrmann, dass beim PISA-Test die Lesekompetenz der Schüler nur mit Hilfe von Trivial- und Gebrauchstexten gemessen wurde, Literatur dagegen blieb außen vor blieb. Das scheinbare Gegenbeispiel, eine Szene aus Anouilhs Komödie "Leocadia", wird auch nur zu "praktischen Zwecken" gelesen: Die Schüler "sollen erschließen, wo der Regisseur die an dem Geschehen beteiligten Figuren aufgestellt hat". Das Lesen wird demnach auf seine "Hilfsfunktion" beim Erwerb von Kenntnissen in anderen Bereichen reduziert - Bereichen wie Industrie und Technik, Naturwissenschaften und Wirtschaftsleben. Der PISA-Test verzichtet im Übrigen ganz auf Religion und Philosophie, auf Geschichte und Kunst und damit auf "nahezu alle Bereiche der in Jahrtausenden gewachsenen europäischen Tradition".

An die Stelle von Bildung ist das "Bildungssurrogat der Kompetenzen" getreten, während die frühere Hierarchie der Haupt- und Nebenfächer aufgegeben wurde; Sport und Sozialkunde können mittlerweile ebenso als Leistungskurse belegt werden wie Deutsch und Geschichte. Die Lernziele werden abstrakt eingefasst und entbehren jeglichen Sinnes: "Der Schüler soll methodisch gesicherte Erkenntnisse und Einsichten gewinnen in die individuellen und gesellschaftlichen, zeitlichen und räumlichen Bedingungen und Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Denkens und Handelns." Wer hätte vermutet, dass hier Lernziele für das Unterrichtsfach Deutsch formuliert werden sollten?

Um der europäischen Bildungsnot entgegenzutreten, formuliert Manfred Fuhrmann, Jahrgang 1925, einen "Minimalkanon" mit dem "unabdingbar Nötigen": Bildung, so seine klare Haltung, müsse "einem jeden auferlegt sein", müsse "enzyklopädisch" sein und dem "Ideal enzyklopädischer Volksbildung" entsprechen. Sie sei zu würdigen "als Voraussetzung für das Fortkommen des Einzelnen, für dessen Ausbildung und beruflichen Erfolg, sowie als Voraussetzung für den Fortbestand des Gemeinwesens, des Staates, als Bindemittel, das für den inneren Zusammenhalt aller Mitglieder des Gemeinwesens sorgt". Bildung sei zuvörderst ein "Selbstzweck", etwas "dem Menschen Eigentümliches", und daher sei es Aufgabe allgemeinbildender Schulen, die Heranwachsenden auch mit solchen Lehrinhalten zu beschäftigen, die zunächst einmal nichts mit seinen künftigen Berufszielen zu tun hätten. Der Lehrplan des Gymnasiums müsse, "ohne selbst schon berufsbezogen zu sein", die Basiskompetenzen für eine spätere berufliche Bildung vermitteln. Dazu gehöre die Beherrschung des Deutschen, auch bei nicht-deutschen Schülern, denn das Gemeinwesen gäbe sich selbst auf, wenn es zuließe, daß es "mehr und mehr von Menschen bevölkert wird, die andere Sprachen sprechen und ihr Leben nach anderen politischen, sozialen und familiären Grundsätzen einrichten".

E. T. A. Hoffmanns kulturkritisch-satirische Darstellung des gelehrigen Affen Milo übrigens hat eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet, deren bisheriger Höhepunkt - Franz Kafkas Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie" (1917) - den emphatischen Bildungsbegriff vermeidet: Nur die "Durchschnittsbildung" eines Europäers habe er angestrebt, berichtet Kafkas Affe, um einen "Menschenausweg" aus seiner Käfigexistenz zu finden:

"Es war kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste festgemacht; die Kiste also bildete die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden Knien, und zwar, da ich zunächst wahrscheinlich niemanden sehen und immer nur im Dunkel sein wollte, zur Kiste gewendet, während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten."

Nicht um die "Menschenfreiheit" - die "selbstherrliche Bewegung" - sei es ihm gegangen, sondern nur um einen Ausweg: "Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehn, angedrückt an eine Kistenwand." Wer nicht Gefangenen bloß seiner Herkunft bleiben möchte, wer sich Bewegungsmöglichkeiten im Leben erschließen will, Freiräume und Chancen, der muss sich Wissen erschließen. "Die alten Griechen", so Fuhrmann abschließend, würden unser "ängstliches Fixiertsein auf das Materielle Dasein als banausisch" bezeichnen: "Im gegenwärtigen Zeitalter ungewöhnlichen Wohlstands ist sie ein Rätsel, ein Paradox; man sollte annehmen, daß sich die zweckfreie Bildung gerade dann, wenn die Existenz gesichert ist, großen Ansehens erfreut."

Titelbild

Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon. Erweiterte Ausgabe.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
265 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3458172041

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