Von so genannter Bildung und kultureller Verarmung

Francesco Petrarca sorgt sich um das richtige Leben im Falschen

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah den modernen Menschen durch sein "unglückliches Bewusstsein" geprägt. Er meinte damit, dass dem reflektierenden Menschen der Moderne die Fähigkeit abhanden gekommen sei, das Dasein als ungeschiedene Einheit zu erleben und zu genießen. Zwischen Ideal und Wirklichkeit klaffen Welten. Die durch Herrschaftsverhältnisse geprägte Realität produziere ein "entzweites" Bewusstsein, das die Sehnsucht nach einer heilen Welt zwar kenne, aber diese im Widerspruch zur eigenen Existenz nur als "Jenseits seiner selbst" vorzustellen vermag. Immerhin bringt dieses "unglückliche Bewusstsein" das "Begehren" hervor, an der Verbesserung der Welt zu "arbeiten" - oder wenigstens an sich selbst zu arbeiten, um die Folgen der unglücklichen Entzweiung des Bewusstseins, die Hegels gelehrigster Schüler Karl Marx "Entfremdung" nannte, möglichst zu minimieren.

An dieser "Entfremdung" litt auch schon Francesco Petrarca, geboren am Morgen des 20. Juli 1304 in Arezzo, gestorben in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 1374 in Arquà bei Padova. Nicht zu Unrecht gilt Petrarca daher als erster moderner Schriftsteller, denn er hat sein "unglückliches Bewusstsein" in Europa erstmals literarisch verhandelt. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen machte Petrarca subjektive Erlebnisse zum Ausgangspunkt seiner Texte und produzierte damit Literatur, die weit über ihre Entstehungszeit interessant blieb. Allerdings schrieb Petrarca in der Regel lateinisch, was zwar seinem Ruhm unter den Gelehrten (für die bis um 1800 Latein eine lingua communis war) zugute kam, aber eine breitere Rezeption verhinderte. Lediglich seine italienisch geschriebenen Lieder und Sonette "an und für Laura" (wie eine 1797 erschienene deutsche Übersetzung titelte) waren allgemein bekannt und wurden vielfach nachgeahmt.

Zwei seiner lateinischen Schriften, nämlich die ab 1346 geschriebene Abhandlung "De vita solitaria" und der ab 1342 entstandene Dialog "Secretum meum" (bzw. "De secreto conflictu curarum mearum" oder "De contemptu mundi") liegen neuerdings in einer schönen Übersetzung von Friederike Hausmann unter dem Titel "Das einsame Leben" im Stuttgarter Klett-Cotta Verlag vor. "Über das Leben in Abgeschiedenheit" ist überhaupt das erste Mal in deutscher Sprache erschienen, "Mein Geheimnis" erstmals in vollständiger Übersetzung (1910 erschien eine Teilübersetzung). Ergänzt werden die Übersetzungen durch ein Vorwort des Herausgebers Franz Josef Wetz, dessen "doch als einfach gestrickt zu bezeichnende Art" (so hieß es am 25. November 2000 in der "Neuen Zürcher Zeitung" über ein anderes Buch von Wetz) allerdings mitunter nervt.

Beide hier vorgelegten Schriften sind Früchte des zurückgezogenen Lebens, das Petrarca zwischen 1337 und 1343, 1346 und 1347 sowie 1351 und 1353 in Fontaine de Vaucluse führte, 15 Kilometer von Avignon entfernt, dort, wo die Sorgue entspringt, die "Königin aller Bäche", wie sie Petrarca nannte. Er hatte 1337 auf den Gütern seiner Gönner, der "erlauchten Familie der Colonna", ein "herrliches Refugium" erhalten, wo er fernab von dem Lärm und Getriebe einer Stadt die Ruhe und Muße des wissenschaftlichen Studiums genießen konnte. Schon als etwa zehnjähriger Knabe sei er "von der ungewöhnlichen Schönheit dieser Stätte lebhaft berührt" worden, erinnerte er sich später. Durch das Geschenk seiner Gönner sah er sich knapp 25 Jahre später in der Lage, sich "mit seinen Büchern" - und Petrarca war ein bedeutender Büchersammler - auf das Landgut zurückzuziehen. "Meine Geschichte würde lange werden", so Petrarca später, wollte er "erzählen, was ich dort so viele, viele Jahre hindurch getrieben. Die Summe davon ist, dass alle Werke, die ich verfasst habe, hier entweder entworfen oder vollendet wurden, alle die vielen Werke, die mich noch jetzt in diesem meinem Alter beschäftigen".

"De vita solitaria" oder "Über das Leben in Abgeschiedenheit" singt das Loblied auf das mäßige und der Muße gewidmete Leben in der Natur, das angefüllt durch das Studium der Bücher und durch das anregende Gespräch mit Freunden in jedem Fall dem hektischen Getriebe der Stadt vorzuziehen sei. Insbesondere Avignon, damals bekanntlich Papstresidenz, wo Petrarca ab 1326 für ein Jahrzehnt sehr gesellig, ausgelassen und das Leben in jeder Hinsicht genießend wohnte, wird ihm später zum Sinnbild des Sündenbabels seiner Zeit. "Wer vermöchte den Überdruss und die Qualen ausreichend zu beschreiben, die ich in der trostlosesten und lärmendsten Stadt auf Erden tagtäglich erlebe, diesem engsten und letzten Auffangbecken für allen Schmutz der Welt? Wer könnte die passenden Worte finden für all das, was mir auf Schritt und Tritt Ekel verursacht: übelriechende Gassen, schmutzstarrende Schweine zwischen tollwütigen Hunden, der Lärm gegen die Mauern krachender Wagenräder oder das Rattern von Kutschen in engen Gässchen; Menschen jeden Standes und jeder Herkunft, überall das abstoßende Schauspiel der Bettler, der Aberwitz der Reichen: jene versinken in ihrem Elend, diese lassen sich hemmungslos von ihren Lustbarkeiten treiben; überall schließlich unvereinbare Meinungen und unterschiedliche Bestrebungen, überall das Gewirr von Stimmen und Menschen, die sich gegenseitig stoßen? All dies zermürbt die Sinne, die an Besseres gewöhnt sind, raubt edlen Geistern die Ruhe und verhindert die Beschäftigung mit geistigen Dingen."

Dies aber war Petrarcas Lebensziel, und er schrieb auch nur für "Menschen, die sich mit geistigen Dingen beschäftigen und sich um ein tugendhaftes Leben bemühen. Für die andern weiß ich keinen vernünftigen Rat, außer dass sie ihr Leben ändern müssen". Petrarca war ziemlich elitär gesinnt, und er machte daraus keinen Hehl. Er verachtete das gemeine Volk wegen seiner Unwissenheit und niedrigen Gesinnung; noch mehr verachtete er aber die Reichen, deren Gier nach immer mehr Geld Petrarca zu den hassenswertesten Lastern zählte, die er sich vorstellen konnte. Aus Habgier würden die Leute sich in eine Geschäftigkeit stürzen, die sie daran hindere, an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten, am dauerhaften Frieden ihres Geistes und an ihrer inneren Ausgeglichenheit. Vermutlich seien die meisten Menschen nur deshalb so umtriebig, weil sie mit sich selbst nichts anzufangen wissen. Im Grunde wollten sie von ihrer inneren Leere ablenken. Sich selbst überlassen, verfielen sie dem "Selbstüberdruss". "Auf den städtischen Plätzen begegnen dir häufig Dummköpfe in ganzen Scharen, die kein Wort öfter im Mund führen als die drei unpersönlichen Verben des Lateinischen: piget, taedet und poenitet: Es langweilt mich, es verdrießt und es ärgert mich, dazu noch den Satz von Terenz: 'Ich weiß nicht, was ich tun soll'."

Das klingt ziemlich aktuell und ist es auch, ebenso wie eine Diagnose, die Petrarca für das Entstehen des geschäftigen Überdrusses hatte: Es sei die Verachtung für die Bildung als Mittel der Selbstsorge. Für viel zu viele Menschen bedeute "Bildung nicht geistige Erleuchtung und Freude des Lebens", "sondern Werkzeug zum Erwerb von Reichtum". Diese Kritik am rein instrumentellen Charakter von so genannter Bildung traf damals und trifft heute noch, denn tatsächlich ist die gegenwärtige Politik auch nur noch von der Frage beseelt, ob sich Bildung denn rechne. Lässt sie sich wirtschaftlich ausbeuten, ermöglicht sie soziale Aufstiegschancen, lohnt der materielle Ertrag denn den ganzen Aufwand? Petrarca empfand dies bereits vor gut 650 Jahren als eine kulturelle Verarmung sondergleichen. Wissen denn die Leute nicht, dass die Beschäftigung mit Literatur und Philosophie den Geist und die Seele frei und gesund machen kann?

Ob "wir Gott dienen wollen, was unsere einzige Freiheit und unser einziges Glück ist; ob wir uns geistiger Tätigkeit widmen wollen, was die nächsthöhere Aufgabe ist; ob wir denkend und schreibend der Nachwelt etwas überliefern und so die flüchtige Zeit aufhalten und die kurze uns bemessene Frist verlängern wollen: Lasst uns, bitte, die Stadt [und ihre angebliche Zivilisation] endlich fliehen, das bisschen uns verbleibende Zeit in die Abgeschiedenheit verbringen und alles daran setzen, um nicht, während wir andere zu erretten meinen, von den Fluten des menschlichen Daseins überwältigt zu werden". Diese Aufforderung ist an seine Freunde gerichtet, und zuallererst an Philippe de Cabassole, dem das Buch gewidmet ist. Petrarca nennt die oberste Aufgabe des Menschen, Gott zu dienen - darin ist sein Werk natürlich noch der Denkweise des christlichen Mittelalters verpflichtet. "Ich glaube, dass ein wahrhaft geistiger Mensch nirgends Ruhe findet außer in Gott, der unser letztes Ziel ist, in sich selbst und den eigenen tiefen Gedanken, oder bei einem anderen ihm geistig verwandten Menschen", lautet der erste Satz des Traktats "über das Leben in Abgeschiedenheit". Tatsächlich fand Petrarca aber keine Ruhe, und schon mal gar nicht in Gott. Eher noch bei seinen eigenen tiefen Gedanken oder im "ernsten Gespräch" mit Freunden.

Doch auch dies war für ihn schwierig genug. Zwar behauptete Petrarca, mit dem Leben in Abgeschiedenheit ein Rezept für das Glücklichsein gefunden zu haben: "Ich kann nicht nur in Abgeschiedenheit leben, sondern ich tue es schon und werde leicht dabei bleiben ..." - , aber warum tat er es dann nicht, sondern stürzte sich wieder in die Welt? Es gibt einen verräterischen Satz in dem Traktat, was das ganze Programm in Frage stellt: "Mein Leben hier (warum nämlich sollte ich vorgeben, was mir nicht eigen ist?) ist nur Alleinsein, nicht ein Leben in Abgeschiedenheit, wie ich es eigentlich ersehne, zwar äußerlich sehr ähnlich, gleichermaßen der Menschenmenge fern, aber nicht gleichermaßen von Gemütsbewegungen frei". Ihm mangelte es trotz allem an der ersehnten inneren Ausgeglichenheit. Warum das so ist, erörtert Petrarca in dem zweiten Text des vorliegenden Buchs: "Mein Geheimnis".

So heißt die Schrift, weil Petrarca sie zeitlebens niemandem zeigte. Sie ist eine ernsthafte Selbstbefragung, durchgeführt als Gespräch zwischen ihm selbst und dem ihm visionär erschienenen Kirchenvater Augustinus. Vor allem ist dieses Gespräch ein Dokument des Scheiterns. In der Schrift über die Abgeschiedenheit deutete sich nur an, was sich in dem zweiten Text nicht mehr verhehlen ließ. Petrarca wurde seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht und litt darunter.

In der Maske von Augustinus konfrontierte sich Petrarca mit den schwersten Vorwürfen: Unglücklich sei er, weil er in Wahrheit seine Weltverfallenheit gar nicht überwinden wolle. "Was behauptest du da?" begehrt sein anderes Ich auf; es seien die äußeren Umstände, die ihn daran hinderten, die eigene "erbärmliche Existenz" zu transzendieren. Zum Beispiel "Armut, Schmerzen, Schande, Krankheiten, Tod und Ähnliches" seien Dinge, die Menschen willentlich nie auf sich nähmen und die einen niederdrücken könnten. Sein Alter Ego 'Augustinus' lässt dergleichen Ausflucht nicht gelten: Ein innerlich freier Mensch könne sich darüber erheben, wenn er nur genug Sehnsucht nach Gott verspüre. Das sieht das Ich theoretisch auch ein, aber es gebe "viele Menschen", "darunter auch mich selbst, die unter nichts mehr gelitten haben als darunter, das Joch der eigenen Fehler nicht abwerfen zu können, obwohl sie sich ihr ganzes Leben mit all ihren Kräften darum bemühten". Und woher komme das? Jeder einzelne Fehler sei doch bewältigbar? Das gibt das Ich auch zu: "Wenn ich mich nur einem einzelnen dieser Übel gegenüber sähe, würde ich mit jedem fertig; doch ich werde von einem ganzen Heer überwältigt." Aber dir geht es doch gar nicht schlecht, beharrt Augustinus. Doch: "sehr schlecht". Warum? "Nicht aus einem, sondern aus unzähligen Gründen." Nenne mir doch den wichtigsten Grund, warum du unzufrieden bist, was ist dir am meisten verhasst? "Ich weiß nicht."

Bei dieser Art von Verstocktheit kann man schon verstehen, warum Augustinus ungeduldig mit seinem 'unwürdigen' Schüler wird. Immerhin sollte man aber nicht vergessen, dass dieser Augustinus eine Rolle Petrarcas in seinem intimen Selbstgespräch ist, gewissermaßen ein Über-Ich, welches das Ich mit seinen eigenen Ansprüchen konfrontiert. Die große Leistung Petrarcas ist es, das Gespräch offen gehalten zu haben, obwohl oder gerade weil 'Augustinus' ihm vorwirft, nicht offen genug zu sein, nämlich für das Wort Gottes. "Bedenke, wie weit du dich [...] von der Liebe zu Gott entfernt hast, in welch tiefes Elend du geraten bist" - und zwar vor allem durch die Liebe zum Ruhm. Er strebe nach Ruhm unter den Menschen und nach der Unsterblichkeit seines Namens. "Das gebe ich freimütig zu und kann dieses Verlangen auf keine Weise zügeln". Aber dies sei Sünde. Das wisse er wohl, antwortet Petrarca und verspricht 'Augustinus', seinen Ratschlägen zu folgen. Nur müsse er vorher noch allen möglichen irdischen Aufgaben nachkommen, bevor er sich dem "Größten und Wichtigsten" zuwende. Da sei man ja wieder beim Ausgangspunkt des Disputs angekommen, bemerkt Augustinus resigniert. Ja ja, "aber ich kann mein Verlangen nicht zügeln".

Was Petrarcas Text heute noch so lesenswert macht, ist dieser beständige Konflikt der Normen und Bedürfnisse, den auszuhalten Menschen vielleicht nicht glücklicher macht, der aber mitunter große Literatur hervorbringt. Francesco Petrarca mochte sich nicht zur völligen Weltverachtung entschließen; anders als sein Bruder Gherardo entsagte er nicht dem weltlichen Leben, sondern bekannte sich zu seinem "unglücklichen Bewusstsein" und bewältigte es literarisch. Therapeutisch sind Petrarcas Texte gleichwohl nicht zu gebrauchen. Nicht buchstäblich zu befolgende Antworten auf heutige Fragen sind hier zu finden - man findet auch viel heute Unzeitgemäßes in seinen Texten und auch in diesem Buch: etwa über die Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts oder eine Apologie des Imperialismus -, sondern der Gestus des Denkens ist anregend: Widersprüche des eigenen Daseins nicht nur auszuhalten, sondern genau zu formulieren, die Wahrheit nicht kennen zu glauben, sondern zum Selbstdenken anzuregen. Petrarca legte seine "Ansichten" nach eigener Aussage so dar, dass sein "Leser, wenn denn einer genügend Muße erübrigen kann, sich die Frucht meiner Muße vorzunehmen, das Gefühl haben kann, ich zwinge ihm keine Meinung auf; er möge also selbst in jedem einzelnen Fall die Richtigkeit meiner Aussagen prüfen, wobei er nicht so sehr mir und anderen [Autoritäten] als vielmehr der eigenen Erfahrung trauen soll."

Übrigens ist Petrarca nicht ohne Anstrengung zu haben. Wie andere Schriften und Dichtungen Petrarcas sind auch seine Meditationen über das "einsame" oder "richtige" Leben nicht nur mal nebenbei konsumierbar. Der Autor verlangt von seinen Lesern Arbeit, auch in dieser Hinsicht ist Petrarca modern: "Ich will, dass mein Leser, wer es auch sei, nur an eines denkt: An mich, nicht an die Verheiratung seiner Tochter, nicht an die Nacht bei der Freundin, nicht an die Intrigen seiner Feinde, nicht an Bürgschaften, nicht an sein Haus oder Feld oder an seine Geldkasse, und dass er, zumindest solange er mich liest, bei mir ist. Wenn er mit Geschäften überbürdet ist, soll er das Lesen aufschieben, sobald er sich aber anschickt zu lesen - da soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine Privatangelegenheiten von sich werfen [...]. Wenn ihm diese Bedingung nicht passt, soll er von diesen [...] Schriften fern bleiben. Ich will nicht, dass er sich zugleich mit Geschäften befasst und sich mit mir abgibt, ich will nicht, dass er völlig ohne Mühe in sich aufnimmt, was ich nicht ohne Mühe geschrieben habe" (an Francesco Nelli, 9. August 1352).

Titelbild

Francesco Petrarca: Das einsame Leben.
Übersetzt aus dem Lateinischen von Friederike Hausmann.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004.
391 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3608933484

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